von CHRISTIAN ERNST
Der Hamburger Senat hat einen vermeintlich eleganten Weg gefunden, Obdachlose vom Platz vor dem Hauptbahnhof zu vertreiben, ohne dabei selbst tätig werden zu müssen. Bereits im Oktober schlossen der Senat und die Deutsche Bahn Station & Service AG einen öffentlich-rechtlichen Vertrag über einen Teil des Bahnhofsvorplatzes (Anlage zur Drs. 20/5706). Der soll auch künftig Eigentum der Stadt bleiben, so wie jeder andere Platz oder jede andere Straße. Allerdings geht er als „Bahnhofszugangsanlage“ in den Besitz der DB über. Die soll im Gegenzug die Unterhaltsarbeiten bestreiten.
Dieses Vorgehen hat jedoch vielfältige Kritik hervorgerufen. Besonders laut sind die Einwände gegen die Vertragsbestimmung, nach der die DB-Hausordnung nun auch für den Bahnhofsvorplatz gilt. Diese verbietet nicht nur das Versperren von Rettungswegen oder das Besprühen und Bemalen von Wänden, sondern auch das Sitzen auf dem Boden, Betteln oder übermäßigen Alkoholgenuss. Die Lokalpresse berichtet mittlerweile, dass Obdachlose und Bettler schroff vertrieben würden.
Die Notwendigkeit, im Bereich des Bahnhofsvorplatzes aktiv zu werden, hatte sich in den vergangenen Jahren immer deutlicher abgezeichnet: Viele Bürger, insbesondere Ältere, fühlten sich durch Obdachlose, Betrunkene oder Drogenabhängige belästigt und empfanden ihren Weg zum Zug als Zumutung. Grundsätzlich wird dadurch zwar niemand objektiv gefährdet. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass auch eine Verletzung des bloßen Sicherheitsgefühls ein Anlass für ordnungsrechtliches Einschreiten sein kann. Im demokratischen Rechtsstaat darf der Bürger keine Angst haben, in der Öffentlichkeit seine Freiheiten in Anspruch zu nehmen. Dies wirft aber die Frage auf, wann das Sicherheitsgefühl so schwerwiegend beeinträchtigt ist, dass ein Eingreifen geboten ist. Zumal auch Trinken, Betteln oder einfach nur Sitzen grundrechtlich geschützt sind.
Grundrechtsbindung öffentlicher Unternehmen – Rechtsgrundlage für Eingriffe im privatrechtlichen Besitz?
Gleichwohl erklärte die zuständige Bezirksverwaltung, es sei nicht ihre Aufgabe „allgemeine rechtliche Betrachtungen über die Reichweite der Grundrechtsbindung der DB anzustellen.“ Hätte sie das getan, wäre ihr aufgefallen, dass allerspätestens seit der Fraport-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. dort Rz. 50) die Grundrechtsbindung öffentlicher Unternehmen in Privatrechtsform, die wie die DB oder die DB Station & Service AG vollständig im Eigentum der öffentlichen Hand stehen, allgemein anerkannt ist. In dieser Entscheidung erklärte das Gericht, dass auch die Fraport-AG als gemischtwirtschaftliches Unternehmen an das Grundrecht der Versammlungsfreiheit gebunden ist.
Dies hätte für die Beteiligten des Vertrages dann Veranlassung sein können, die Frage nach der Rechtsgrundlage zu stellen. Worauf kann sich das DB-Sicherheitspersonal bei Maßnahmen auf dem Bahnhofsvorplatz stützen, etwa bei Hausverboten wegen Sitzens auf dem Boden? In der Fraport-Entscheidung zog das Bundesverfassungsgericht als Rechtsgrundlage für Eingriffe das zivilrechtliche Hausrecht heran. Das Eigentum am Hamburger Bahnhofsvorplatz liegt aber nach wie vor bei der Stadt. Senat und DB würden auf diesen Einwand sicherlich entgegnen, dass die Übertragung allein des Besitzes ebenfalls das Hausrecht begründet. Nur: Konnte der Senat durch den abgeschlossenen Vertrag den Besitz überhaupt übertragen?
Lehre vom öffentlichen Eigentum – eine echte „Hamburgensie“
Nach § 4 HWG sind öffentliche Wege in Hamburg, anders als in allen anderen Bundesländern, nicht modifiziertes Privateigentum, sondern echtes öffentliches Eigentum. Und § 4 Abs. 1 HWG bestimmt ausdrücklich, dass dafür die zivilrechtlichen Vorschriften über Besitz und Eigentum keine Anwendung finden; stattdessen besteht eine „hoheitliche Sachherrschaft“. Gleichzeitig hat der Senat klargestellt, dass die Stadt weiterhin Eigentümerin der Flächen und auch deren Widmung erhalten bleibt. Der Vertrag sieht aber vor, dass die Flächen in den Besitz der DB übergeht und deren privatrechtliche Hausordnung gilt.
Damit wird die Geschichte nebulös. Zwar war Otto Mayer als Verfechter des öffentlichen Eigentums davon ausgegangen, dass die Einräumung privatrechtlichen Besitzes prinzipiell möglich sei („verliehenes Gebrauchsrecht“). Wie dies aber mit den heutigen Aussagen des § 4 HWG und der unveränderten Weitergeltung der Widmung vereinbar sein soll – unklar. Wie das Verhältnis von Sondernutzung und privatrechtlichem Besitz sein soll – unklar. Welche Art der Sondernutzung der DB AG eigentlich gestattet wird – unklar.
Klarer scheint hingegen das Ziel der Regelung: Der DB-Hausordnung mit ihren strengen Regeln soll unbeschränkte Geltung zukommen, damit öffentlich-rechtliche Bindungen unterlaufen werden können. Tatsächlich kommt es aber zu einem Nebeneinander von einerseits privatrechtlichem Besitz und andererseits öffentlichem Weg mit Widmung zum Gemeingebrauch. In diesem Konkurrenzverhältnis genießt das öffentlich-rechtliche Handlungsregime Vorrang. Der Staat kann privaten Stellen, deren alleiniger Träger er ist, nicht die Gewalt über einen öffentlichen Weg zuweisen, der dem Gemeingebrauch gewidmet ist, damit fortan privatautonome Bestimmungen regeln, was verboten und erlaubt ist.
Flucht ins Privatrecht und aus der Verantwortung
Mit einer öffentlich-rechtlichen Betrachtung, die allein maßgeblich sein muss, lässt sich das Vertreiben von Obdachlosen, Bettlern oder Trinkern aus dem öffentlichen Raum wegen Verstoßes gegen eine privatrechtliche Hausordnung angesichts der betroffenen Rechtsgüter nicht halten. Zwar versucht sich der Senat noch aus der Affäre zu ziehen, indem er in einer Kleinen Anfrage meint: „Die vertraglichen Regelungen verändern keine Aufenthaltsrechte. Die Hausordnung der Deutschen Bahn AG (DB AG) betrifft Verhaltensanforderungen.“ Diese vermeintliche Spitzfindigkeit bricht allerdings dann auseinander, sobald einem auffällt, dass die Hausordnung der DB AG Hausverbot und Hausverweis ausdrücklich als Folge von Verstößen anordnet.
Schließlich kann auch die Frage nicht ausgeblendet werden, wann das Sicherheitsgefühl einen tauglichen Eingriffszweck darstellt. In den Entscheidungen Fraport und Schockwerbung I hat das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, dass der Staat die Grundrechte zumindest nicht mit dem Ziel einschränken darf, dem Bürger „ein vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt“ oder eine „Wohlfühlatmosphäre“ frei von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu verschaffen. Dass der Senat soziale Brennpunkte privatisiert, ist keine Lösung, sondern die Flucht aus der Verantwortung.
9 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Gratulation zu einem gelungenen Artikel. Nachfrage aus Schweizer Perspektive: Unterscheidet das BVerfG bei der Grundrechtsbindung öffentlicher Unternehmen gar nicht nach der Funktion der einzelnen Tätigkeit? Ob also im konkreten Fall eine öffentliche Aufgabe wahrgenommen wird oder nicht. Das Schweizer Bundesgericht verfolgt (noch) einen solchen funktionellen Ansatz, während die Lehre überwiegend zu einem personellen Ansatz wechseln will (nach dem Motto „einmal Staat immer Staat“).
Und im Sinne einer Vorbereitung auf hiesige Verhältnisse, hier ein Entscheid zur Wegweisung von Obdachlosen beim Berner Bahnhof: BGE 132 I 49 (sollte über google auffindbar sein).
Wie wird denn BGE 132 I 49 im Allgemeinen beurteilt?
Ich stelle es mir schwierig vor, wie (hypothetisch) alkoholisierte HSV-Fans nach Bremen kommen sollen und umgekehrt (teilweise fünf Spiele pro Saison), wenn sie wie die „Randständigen“ in dem BGE-Urteil ein dreimonatiges Aufenthaltsverbot in ihren Hauptbahnhöfen bekämen, weil andere Bürger an ihrem Verhalten „Anstoß“ genommen haben…
Der ‚Berner Wegweisungsentscheid‘ hat einige Kritik erfahren. Im Ergebnis wird er meist gestützt. Bemängelt wird, dass das Bundesgericht die Praxis der Polizei stützt, aufgrund der Zugehörigkeit zu einer „Gruppe von Randständigen“ schnell eine Störung der öffentliche Ordnung anzunehmen. Den einzelnen Obdachlosen und Alkoholikern wurde kein störendes Verhalten nachgewiesen. Sie werden weggewiesen, weil sie dieser unerwünschten, sozial geächteten Gruppe angehören.
Aus grundrechtsdogmatischer Sicht wird kritisiert, dass das Alkoholkonsum in der Gruppe als Teil der Persönlichkeitsentfaltung unter die persönliche Freiheit subsumiert wird. Dies sei eine unnötige Ausweitung des Schutzbereichs.
BVerfG, http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20110222_1bvr069906.html (Fraport), Rn. 48: „Art. 1 Abs. 3 GG liegt dabei eine elementare Unterscheidung zugrunde: Während der Bürger prinzipiell frei ist, ist der Staat prinzipiell gebunden. Der Bürger findet durch die Grundrechte Anerkennung als freie Person, die in der Entfaltung ihrer Individualität selbstverantwortlich ist. … Demgegenüber handelt der Staat in treuhänderischer Aufgabenwahrnehmung für die Bürger und ist ihnen rechenschaftspflichtig. Seine Aktivitäten verstehen sich nicht als Ausdruck freier subjektiver Überzeugungen in Verwirklichung persönlicher Individualität, sondern bleiben in distanziertem Respekt vor den verschiedenen Überzeugungen der Staatsbürger und werden dementsprechend von der Verfassung umfassend an die Grundrechte gebunden. Diese Bindung steht nicht unter einem Nützlichkeits- oder Funktionsvorbehalt. Sobald der Staat eine Aufgabe an sich zieht, ist er bei deren Wahrnehmung auch an die Grundrechte gebunden, unabhängig davon, in welcher Rechtsform er handelt. Dies gilt auch, wenn er für seine Aufgabenwahrnehmung auf das Zivilrecht zurückgreift. Eine Flucht aus der Grundrechtsbindung in das Privatrecht mit der Folge, dass der Staat unter Freistellung von Art. 1 Abs. 3 GG als Privatrechtssubjekt zu begreifen wäre, ist ihm verstellt.“
Sehe ich das richtig, dass es also auf die Handlungsform (öffentliches oder Privatrecht) nicht ankommt. Aber sehr wohl auf die Wahrnehmung einer staatlichen Aufgabe („… handelt der Staat in trehänderischer Aufgabenwahrnehmung“ und „Sobald der Staat eine Aufgabe an sich zieht …“)?
In einem sehr umstrittenen Entscheid hat das schweizerische Bundesgericht eine Differenzierung vorgenommen betreffend ehemalige Staatsbetreibe, die Teilprivatisiert worden sind. „Da die Post im hier relevanten Bereich der Wettbewerbsdienste keine ’staatlichen Aufgaben‘ wahrnimmt, sondern vielmehr Dienstleistungen erbringt, die von jedem anderen Privaten auch erbracht werden könnten, fällt eine Grundrechtsbindung der Post gestützt auf Art. 35 Abs. 2 Bundesverfassung ausser Betracht.“ (BGE 129 III 35 E. 5.2 S. 40).
Gibt es diese Unterscheidung in Deutschland auch? Also öffentliche Unternehmen die teils Dienstleistungen im Monopolbereich und teils im freien Wettbewerb erbringen?
Selbst bei fiskalischem Handeln nimmt die Rechtsprechung (BVerwG, BGH) noch zumindest ein Willkürverbot bei privatisierten, ehemaligen Staatsunternehmen an – die Fraport-Entscheidung des BVerfG kann man in diese Tendenz eingruppieren, würde ich sagen. Andererseit stützen sich Stimmen aus der Literatur auf z.B. Art. 87f Abs. 2: „Dienstleistungen im Sinne des Absatzes 1 [Postwesen/Telekomunikation] werden als privatwirtschaftliche Tätigkeiten durch die aus dem Sondervermögen Deutsche Bundespost hervorgegangenen Unternehmen und durch andere private Anbieter erbracht.“ Wiederum in diese Kerbe schlägt das BVerfG, wenn es der Telekom AG Grundrechtsfähigkeit attestiert.
Ich möchte der umfangreichen Diskussion zur Grundrechtsbindung und den Möglichkeiten privatrechtlichen Handelns staatlicher Stellen noch eine (weitere) Randnotiz aus der Hamburgischen Verwaltungspraxis hinzufügen:
Eine „Flucht ins Privatrecht“ probte die Bezirksverwaltung, in deren Bezirk auch der Hauptbahnhof liegt, übrigens vor anderthalb Jahren in einer vergleichbaren Situation schon einmal (letztendlich aber aus politischen Gründen erfolglos). Das Vertreiben von Obdachlosen, die im öffentlichen Raum unter einer Brücke nahe der Reeperbahn übernachteten, versuchte man letztlich damit zu begründen, dass das Einrichten eines Schlafplatzes unter der Brücke verbotene Eigenmacht nach § 858 BGB darstelle und damit widerrechtlich sei…
[…] Artikel ist zuvor auf dem JuWissBlog […]
[…] Die Bedeutung von passivem Betteln erschließt sich bereits aus dem Wortsinn. Hier wird regelmäßig darauf verwiesen, dies sei von der allgemeinen Handlungsfähigkeit erfasst und zu dulden (vgl. hier). Auch ein Krefelder Kommunalpolitiker äußerte sich dahingehend (hier). Dessen ungeachtet finden sich allgemeine Bettelverbote für die Münchner Fußgängerzone (hier § 6), den Englischen Garten (hier Nr. 10), aber auch die Bahnhofsgebäude der DB (hier, kritisch hier). […]