von FELIX WÜRKERT
Im Juni diesen Jahres war die Stadt Krefeld vor dem VG Düsseldorf im einstweiligen Rechtsschutz unterlegen und hatte daraufhin die verfahrensgegenständliche Allgemeinverfügung mit Bettelverbot aufgehoben. Zugleich wollte sie jedoch einen neuen Vorstoß wagen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wieso man meint, Betteln überhaupt mit derartiger Leichtigkeit verbieten zu können.
Zwischen obrigkeitsstaatlicher Tradition und Rechtswidrigkeit
Man könnte den Fall für einen Indikator der heraufziehenden makrookönomischen und sozialstaatlichen Schwierigkeiten halten: Rezession, Debatten über fehlende Leistungsbereitschaft und die Wiederbelebung der „Kranker Mann Europas“-Metapher. Doch tatsächlich hat das Vorgehen gegen Betteln Tradition – ganz egal wie gut oder schlecht es gerade generell steht (hier, hier). Dabei ist Krefeld auch gegenwärtig kein Einzelfall, sondern reiht sich ein. Auch in der Hamburger Innenstadt wurde dieses Jahr – gegen Bettler*innen vorgegangen, wenn auch nicht über ein spezifisches Verbot, sondern über das Straßen- und Wegerecht. In München gelten schon lange einschlägige Verbote (hier § 6, hier). Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Es war auch schon einmal noch schlimmer: Bis 1974 stellte § 361 Nr. 4 StGB Betteln unter Strafe (von der Verfolgung sog. „Asozialer“ im Nationalsozialismus und der weit zurückeichenden Repressionskontinuitäten ganz zu schweigen [beispielhaft hier, hier]). Eine einschlägige Verfassungsbeschwerde hatte das Bundesverfassungsgericht mit dem Verweis auf den vorkonstitutionellen Charakter der Norm als unzulässig abgewiesen. Wer ansonsten in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts nach dem Thema „Betteln“ sucht, der wird zu der Frage, inwieweit dieses grundrechtlich geschützt ist, nichts finden. Gerade um diese Lücke soll es in diesem Text primär gehen. Die Frage, wie all das grundrechtlich einzuordnen ist, bleibt weitgehend unbeantwortet und drängt sich doch auf.
Anders verhält es sich indes in Bezug auf die verwaltungsgerichtliche Ebene. Hier existieren Entscheidungen, die alle gemeinsam haben, dass die jeweiligen Bettelverbote für rechtswidrig erklärt wurden (hier und hier). Die Frage grundrechtlichen Schutzes blieb dabei jedoch en gros abwesend. Auch das VG Düsseldorf ging nur mit einem Satz auf die Allgemeine Handlungsfreiheit ein.
Rechtsprechung, die entsprechende Bettelverbote aufrechterhält, existiert quasi nicht. Eine hin und wieder zitierte Entscheidung des VGH München aus dem Jahr 1982 (!) zur dortigen Satzung hält lediglich das Verbot des „Niederlassen[s] zum Alkoholkonsum“ aufrecht, ohne sich zum im gleichen Paragrafen enthaltenen, aber nicht verfahrensgegenständlichen Bettelverbot zu äußern. Hinzu tritt, dass die Entscheidung bis 2018 unveröffentlicht geblieben ist (nun hier).
Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages äußerte sich in einem Gutachten ebenfalls dahingehend, dass ein allgemeines Verbot des Bettelns rechtlich schwierig bis unmöglich sei. Allenfalls sog. aggressives Betteln (dazu sogleich) könne ggf. durch individuelle Platzverweise nach den jeweiligen Polizeigesetzen unterbunden werden. Selbst Autor*innen wie Daniel Enzensperger, die sich rechtspolitisch Bettelverbote jedenfalls für aktives und aggressives Bettelen wünschen, bestätigen diese Einschätzung, indem sie das Fehlen entsprechender gesetzlicher Grundlagen monieren (NJW 2018, 3550 ff.).
Bitte nicht stören: Demutsbetteln, aggressives Betteln und aktives Betteln
Das Thema Bettelverbote wirft eine Vielzahl von Fragen auf, die hier leider nicht beantwortet werden können. Um eine grundrechtliche Einschätzung vornehmen zu können, ist es jedoch wichtig, zumindest kurz drei Begriffe einzuführen: „stilles“, passives oder „Demuts-“ Betteln einerseits, aggressives Betteln andererseits und zusätzlich aktives Betteln.
Die Bedeutung von passivem Betteln erschließt sich bereits aus dem Wortsinn. Hier wird regelmäßig darauf verwiesen, dies sei von der allgemeinen Handlungsfähigkeit erfasst und zu dulden (vgl. hier). Auch ein Krefelder Kommunalpolitiker äußerte sich dahingehend (hier). Dessen ungeachtet finden sich allgemeine Bettelverbote für die Münchner Fußgängerzone (hier § 6), den Englischen Garten (hier Nr. 10), aber auch die Bahnhofsgebäude der DB (hier, kritisch hier).
Aggressives Betteln soll hingegen grob jedes Betteln erfassen, bei dem die bettelnden Personen sich in den Weg stellen, ihr Gegenüber berühren, nebenherlaufen oder wiederholt ansprechen (vgl. hier). Es wäre nicht nachvollziehbar, dieses Verhalten im Hinblick auf einen grundrechtlichen Schutzbereich anders zu behandeln als das sog. passive Betteln. Gleichwohl wird diese Form des Bettelns regelmäßig nicht mit irgendeiner Form grundrechtlichen Schutzes in Verbindung gebracht, während die jeweiligen Verbote immer mindestens diese Form adressieren.
Das Bettelverbot in Krefeld war primär deshalb gescheitert, weil es verursacht hatte, neben dem bereits zuvor verbotenen aggressiven Betteln auch aktives Betteln zu verbieten. Diesen Begriff hielt das VG jedoch für zu unbestimmt (Rn. 72 ff.) Andere verstehen darunter das bloße Ansprechen ( NJW 2018, 3551 ). Bei all dem sei der Hinweis erlaubt, dass all diese Kategorien und die damit zumindest instinktiven grundrechtlichen Differenzierungen allein der Feder der jeweils zuständigen Verwaltungen entstammen und entsprechend durch wissenschaftliche Texte aufgegriffen werden. Im Sinne der Wesentlichkeitstheorie lässt sich durchaus fragen, ob diese Kategorien nicht jedenfalls dann eines Parlamentsgesetzes entstammen müssten, wenn an sie pauschal derart weitgehende grundrechtliche Konsequenzen geknüpft werden.
Zwischen Meinungsfreiheit und Menschenwürde
Macht man sich nun auf die Suche nach einer etwas fundierteren grundrechtlichen Einordnung des Ganzen, so stößt man regelmäßig auf die explizite oder implizite Bekräftigung, dass Betteln unter die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 I GG falle (hier und hier, Rn. 8). Hat man sich so des eigenen Liberalismus versichert, ist man dann doch sehr schnell beim eigentlichen Charme des Art. 2 I GG: dem einfachen Gesetzesvorbehalt. Die allgemeine Handlungsfreiheit fungiert im Kontext des Bettelns primär als ein kleingeschriebenes „ja“, mit einem durchgehend großgeschriebenen „ABER“. Wie bereits erwähnt, scheint sie etwa dem grundsätzlichen Bettelverbot in der Münchner Fußgängerzone nichts anhaben zu können.
Dabei spricht im Sinne offener Staatlichkeit viel dafür, dass Bettelverbote an einem deutlich strengeren Maßstab zu messen sind, dem sie in aller Regel nicht genügen dürften. Ein Indikator ist der überzeugende Gedanke, dass Betteln tatsächlich der Meinungsfreiheit unterfällt. Diese in den USA zum Teil durch Gerichte vertretene Auffassung, hat der österreichische Verfassungsgerichtshof seiner Auslegung von Art. 10 EMRK zugrunde gelegt (hier). Jedenfalls das grundsätzliche Verbot auch sog. stillen Bettelns in Salzburg wurde als verfassungswidrig aufgehoben (andere Verbote wurden aufrechterhalten). Auch in der deutschen Grundrechtsdogmatik hat eine solche Auslegung von Art. 5 I GG Platz. Wieso sollte die Aussage „Ich bin bedürftig. Gib mir etwas!“ nicht vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst sein? Bettelverbote knüpfen an diese spezifische Aussage an. Wenn – etwa am Berliner Hauptbahnhof – über Lautsprecher dazu aufgefordert wird, „nichts zu geben“, tritt ein grundrechtsgebundener Akteur der Meinungsäußerung bettelnder Menschen aktiv entgegen.
Der EGMR hat 2021 die Frage, ob Betteln der Meinungsfreiheit unterfällt, offengelassen (hier, Rn. 120), was die drei Sondervoten bedauern und jedenfalls Richterin Keller recht deutlich bejahte (Rn. 10). Leider sind diese Sondervoten in der inoffiziellen deutschen Übersetzung nicht enthalten. Ebenfalls offengelassen hat der EGMR, inwieweit es sich im konkreten Sachverhalt zumindest mittelbar um Antiziganismus gehandelt hatte (Sondervotum Ravarani, Rn. 17).
Der EGMR hatte in seiner Entscheidung gleichwohl der Beschwerdeführerin Recht gegeben. Ihre Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen das Bettelverbot in Genf habe gegen das weit verstandene Recht auf Privatleben aus Art. 8 EMRK verstoßen. Dieses ist in seinem weiten, nicht abschließend zu bestimmenden und auf die unbeeinträchtigte Entfaltung der Persönlichkeit ausgerichteten Schutzbereich Art. 2 I GG nicht unähnlich (vgl. hier, Rn. 85 ff.). Das Gericht betont jedoch, wie stark das Bettelverbot die Menschenwürde der Beschwerdeführerin beeinträchtigt und damit auch den Kernbereich von Art. 8 EMRK (hier, Rn. 115).
Perspektiven
Noch wichtiger als die Frage, wie Betteln nun in die deutsche Grundrechtsdogmatik einzuordnen ist, scheint es, die vom EGMR festgehaltene hohe Intensität des Eingriffs und den übergeordneten Menschwürdebezug zu erkennen und zu übertragen. Fast scheint es, als könnte der größte Erkenntnisgewinn bereits darin bestehen, dass überhaupt Grund- und Menschenrechte in erhöhtem Umfang betroffen sind. Eine Rechtsanwendung, welche die Grundrechte und die gebotene völkerrechtsfreundliche Auslegung ernst nimmt, sollte sich die sehr hohen Hürden bewusst machen, die Bettelverboten damit entgegenstehen. Diese bestehen dabei erst einmal unabhängig von der Unterscheidung zwischen aggressivem und passivem Betteln. Auch bei dem, was als aggressives Betteln verboten wird, ist zweifelhaft, ob Verbote in dieser Allgemeinheit gerechtfertigt werden können. Um das Bundesverfassungsgericht zu zitieren: „Ein vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt des Bürgers ist kein Belang, zu dessen Schutz der Staat Grundrechtspositionen einschränken darf (vgl. BVerfGE 102, 347 <364>). Unerheblich sind folglich Belästigungen Dritter, die darin liegen, dass diese mit ihnen unliebsamen Themen konfrontiert werden.“ Diesen Gedanken hätte man durchaus auch dem Krefelder Verbot von aktivem Betteln entgegenhalten können. Angesichts all dieser grund- und menschenrechtlichen Implikationen möchte man den Gemeinden, nicht zuletzt Krefeld, zum Thema Bettelverbot abschließend zurufen: Lasst ab!
Zitiervorschlag: Würkert, Felix, Grundrechtsarmut? Von rechtswidrigen Bettelverboten, JuWissBlog Nr. 72/2023 v. 19.12.2023, https://www.juwiss.de/72-2023/.
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