Eine Erwiderung auf Matthias Friehe
Von ANNA-LENA HOLLO
Frauenärzte, die schlicht über gewisse tatsächliche Umstände eines Schwangerschaftsabbruchs in ihren Praxen informieren, werden zu Geldstrafen verurteilt. Denn § 219a StGB stellt alles unter Strafe, was über den bloßen Hinweis hinausgeht, dass der hinweisende Arzt „Schwangerschaftsabbrüche unter den Voraussetzungen des § 218a Absatz 1 bis 3“ vornimmt. Nun wehren sich strafrechtlich entsprechend verurteilte Ärztinnen vor dem BVerfG – zu Recht.
Seit Mitte der 1990er-Jahre eröffnet die Beratungslösung Schwangeren eine straffreie Möglichkeit, ihre Schwangerschaft in den ersten zwölf Wochen abzubrechen. Jede (ungewollt) Schwangere hat damit (nur) ganz zu Beginn der Schwangerschaft (zwar ohne unmittelbaren staatlichen Zwang, aber garantiert nicht ohne äußere Beeinflussung) die Möglichkeit, über einen entscheidenden Wendepunkt zu bestimmen. Obwohl die §§ 218 ff. StGB die Entscheidungsbefugnisse über den eigenen Körper und das eigene Leben hinsichtlich der Schwangerschaft bereits bis an die äußersten Grenzen des Untermaßverbots beschränken, werden diejenigen Frauen, die von der eingeschränkten Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs in den ersten zwölf Wochen Gebrauch machen, von einigen – nicht zuletzt von Männern – als herzlose Geschöpfe dargestellt, die dem werdenden Leben keinerlei Wert zumessen. Doch haben die betroffenen Frauen nicht einen Anspruch auf umfassende Information – noch bevor sie sich zu einer Beratung entschließen?
219a StGB enthält implizit bereits eine Wertung gegen Schwangerschaftsabbrüche. Keiner der sogenannten „Abtreibungsgegner“ würde eine strafrechtliche Verurteilung fordern, wenn eine Frauenärztin/ein Frauenarzt auf der Homepage auf die Gesundheitsgefahren und auf weitere Nachteile eines Schwangerschaftsabbruchs hinwiese – obgleich auch dies zweifelsohne mehr wäre als der bloße Hinweis, den § 219a StGB erlaubt.
§ 219a StGB und die konkreten Verurteilungen verstoßen gegen die Meinungsfreiheit
§ 219a StGB und damit auch die darauf beruhenden Verurteilungen verstoßen gegen die Meinungsfreiheit der Ärztinnen und Ärzte aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. GG, so dass die Frage nach der Berufsfreiheit dahinstehen kann. Eine „Meinung“ zeichnet sich durch ein „Element der Stellungnahme, des Dafürhaltens, des Meinens im Rahmen der geistigen Auseinandersetzung“ aus (BVerfGE 65, 1 [41]). Die Mitteilung einer Tatsache ist eigentlich keine Meinungsäußerung, weil ihr jenes Element fehlt. Nichtsdestotrotz sind Tatsachenmitteilungen durch die Meinungsäußerungsfreiheit geschützt, „soweit sie Voraussetzung der Bildung von Meinungen“ sind, weil Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG Meinungen in ihrer Gesamtheit schützt (BVerfGE 65, 1 [41]).
Der § 219a StGB sanktioniert sowohl Meinungsäußerungen als auch Tatsachenbehauptungen, die über den bloßen Hinweis des § 219a Abs. 4 Nr. 1 StGB hinausgehen. In den Fällen der strafrechtlich verfolgten Ärztinnen geht es um die Angaben, dass der Schwangerschaftsabbruch „in geschützter Atmosphäre“ durchgeführt werde, „nur wenige Minuten“ dauere und die Schwangere sich „später nicht mehr an den Eingriff erinnern“ könne. Keine dieser Angaben enthält ein Element der Stellungnahme oder des Dafürhaltens. Es handelt sich lediglich um Sachinformationen über den Vorgang des Schwangerschaftsabbruchs. Dies zeigt sich daran, dass die Angaben dem Beweis zugänglich sind. Zwar handelt es sich um beruhigende – man könnte sagen: um „positive“ – Informationen, doch dies macht aus ihnen noch lange keine Meinungsäußerungen.
Nichtsdestotrotz können sich die betroffenen Ärztinnen auf ihre Meinungsfreiheit berufen – ohne dabei, wie Matthias Friehe unterstellt, „einzuräumen“, eine Meinung geäußert zu haben. Denn die Informationen sind aufgrund ihrer beruhigenden Wirkung geeignet, Teil der Grundlage einer Meinungsbildung über Schwangerschaftsabbrüche zu sein. Deshalb sind sie von Art. 5 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. GG geschützt. Indem § 219a StGB solche Informationen ausdrücklich verbietet, greift die Vorschrift unmittelbar in die Meinungsfreiheit ein.
§ 219a StGB ist kein allgemeines Gesetz i.S.v. Art. 5 Abs. 2 GG
Eingriffe in die Meinungsfreiheit können durch „allgemeine Gesetze“ gerechtfertigt werden. „Allgemein“ sind Gesetze, „wenn sie sich weder gegen die Meinungsfreiheit an sich noch gegen bestimmte Meinungen richten, sondern dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen“ (BVerfGE 97, 125 [146]). § 219a StGB muss also zwei Voraussetzungen erfüllen, um ein „allgemeines Gesetz“ und damit eine verfassungskonforme Schranke der Meinungsfreiheit darstellen zu können: Erstens muss § 219a StGB ein Rechtsgut unabhängig davon schützen, ob es durch Meinungsäußerungen oder auf andere Weise verletzt wird. Zweitens muss § 219a StGB so ausgestaltet sein, dass es sich tatsächlich gegenüber verschiedenen Meinungen neutral verhält und nicht im Hinblick auf den angestrebten Rechtsgüterschutz eine bestimmte Meinung diskriminiert (BVerfGE 124, 300 [322]).
Die erste Voraussetzung ist erfüllt. Denn das Rechtsgut „Leben“ wird von unserer Rechtsordnung unabhängig von einer Meinungsäußerung geschützt. Hinsichtlich der zweiten Voraussetzung sieht es dagegen anders aus. Dafür müsste sich § 219a StGB gegenüber positiven wie negativen Angaben hinsichtlich des Schwangerschaftsabbruchs neutral verhalten. Dem Wortlaut lässt sich zwar keine Einschränkung entnehmen; hingegen offenbaren die dahinterstehende gesetzgeberische Wertung und die Gesetzessystematik ein gänzlich anderes Bild – und auf eine solche Gesamtsicht kommt es bei der Beurteilung der zweiten Anforderung an (BVerfGE 124, 300 [324 f.]). Ein Indiz für ein nichtallgemeines Gesetz ist es, „wenn sich eine Norm als Antwort auf einen konkreten Konflikt des aktuellen öffentlichen Meinungskampfes versteht oder anknüpfend an inhaltliche Positionen einzelner vorfindlicher Gruppierungen so formuliert ist, dass sie im Wesentlichen nur gegenüber diesen zur Anwendung kommen kann“ (BVerfGE 124, 300 [324 f.]). Schon § 219 Abs. 1 StGB gibt eine entsprechende wertende Richtung des § 219a StGB vor. Dort heißt es, dass die Beratung „dem Schutz des ungeborenen Lebens“ dient und sich „von dem Bemühen leiten zu lassen [hat], die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen“. Der Frau müsse „bewußt sein, daß das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat und daß deshalb nach der Rechtsordnung ein Schwangerschaftsabbruch nur in Ausnahmesituationen in Betracht kommen kann […]“. Die Wertung des daran anknüpfenden § 219a StGB ist damit eindeutig. Dies bestätigt auch Matthias Friehe, indem nach ihm §§ 219, 219a StGB verhindern sollen, „dass der behandelnde Arzt die Schwangere zum Abbruch ermutigt, und sei es nur durch das Versprechen, die Schwangere werde sich ‚später nicht mehr an den Eingriff erinnern können‘ und der Abbruch dauere‚ nur wenige Minuten‘.“ Dadurch spricht er § 219a StGB die Eigenschaft als allgemeines Gesetz ab: § 219a StGB verhält sich gerade nicht neutral gegenüber unterschiedlichen Meinungen zum Schwangerschaftsabbruch, sondern enthält ein eindeutiges Unwerturteil gegenüber Schwangerschaftsabbrüchen. Von einem allgemeinen Gesetz i.S.v. Art. 5 Abs. 2 GG kann da keine Rede sein.
Fazit: § 219a StGB kein tauglicher Hebel zum Schutz des ungeborenen Lebens
Die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch setzt eine umfassende Beratung und gründliche Überlegung voraus. Dazu gehört aber nicht nur der Hinweis darauf, dass werdendes Leben vernichtet wird, sondern auch die Information über solche Umstände, die der Schwangeren womöglich die Angst vor der Maßnahme nehmen, und dies schon zu einem Zeitpunkt, zu dem überhaupt erst die Basis für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem Thema geschaffen wird – also bereits vor einer individuellen Beratung. Die Notwendigkeit einer niedrigschwelligen und schnellen Informationsmöglichkeit über die Umstände eines Schwangerschaftsabbruchs noch vor der Vereinbarung eines Beratungstermins besteht umso mehr angesichts der häufig verbleibenden kurzen Zeit zwischen der Kenntniserlangung von der Schwangerschaft und der zwölften Woche, bis zu der ein Abbruch überhaupt nur erlaubt ist (§ 218a Abs. 1 Nr. 3 StGB). Wenn diese Informationen sachlich verbreitet werden, wird lediglich eine fundierte, umfassende Entscheidungsgrundlage für die schwangeren Frauen geschaffen, die schon für die Entscheidung für eine individuelle Beratung wichtig ist.
Wenn sich doch der grundrechtliche Konflikt beim Schwangerschaftsabbruch zwischen Lebensrecht und Menschenwürde des ungeborenen Lebens einerseits und körperlicher Unversehrtheit und freier Persönlichkeitsentfaltung Schwangerer andererseits abspielt, ist kein Grund ersichtlich, reine öffentliche Sachinformationen durch Ärzte, auch wenn sie die Angst vor einem Schwangerschaftsabbruch mildern und die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch mitunter bestärken könnten, unter Strafe zu stellen. § 219a StGB ist jedenfalls kein tauglicher Hebel, um Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern. Denn er verstößt gegen die Meinungsfreiheit der Ärzte. Dies kann kein geeignetes Mittel sein, um die Entscheidung einer schwangeren Frau für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch zu beeinflussen und zu lenken.
Zitiervorschlag: Anna-Lena Hollo, § 219a StGB verstößt gegen die Meinungsfreiheit – Eine Erwiderung auf Matthias Friehe, JuWissBlog Nr. 10/2020 v. 10.2.2020, https://www.juwiss.de/10-2020/
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