von MATTHIAS FRIEHE
Am Tag nach der Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten ist die Lage unübersichtlich: In einem Pressestatement spricht Kemmerich von Rücktritt und davon, eine Auflösung des Landtags anzustreben, nötigenfalls mit der Vertrauensfrage. Online-Medien sprechen bereits von einem Ministerpräsidenten für einen Tag, der abgewählte Ministerpräsident Bodo Ramelow (LINKE) macht sich Hoffnung auf einen umgehenden Wiedereinzug in die Staatskanzlei. Ein Blick in die Thüringer Verfassung schafft Klarheit, welche Optionen bestehen.
Ausgangspunkt: Kemmerich gewählter Ministerpräsident
Der Ausgangspunkt ist verfassungsrechtlich klar: Kemmerich hat sich im dritten Wahlgang mit 45 Stimmen zu 44 Stimmen gegen Ramelow durchgesetzt und ist damit Thüringens Ministerpräsident. Die Thüringer Verfassung hat wie das Grundgesetz und alle anderen Landesverfassungen eine parlamentarische Demokratie verfasst. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass der Regierungschef vom Vertrauen des Parlaments getragen wird. Grundsätzlich erfordert die Wahl zum Regierungschef dabei eine Mehrheit der Mitglieder des Parlaments. Bei der derzeitigen Zusammensetzung des Thüringer Landtags sind das 46 von 90 Landtagsabgeordneten. Ein solches Mehrheitserfordernis gilt nach der Thüringer Verfassung für die Wahl zum Ministerpräsidenten in den ersten beiden Wahlgängen (Art. 70 III 1, 2 ThürVerf). Ramelow hat diese Mehrheit in den ersten beiden Wahlgängen verfehlt und Kemmerich hat sie im dritten Wahlgang ebenfalls nicht erreicht.
Zu den typischen Regelungen einer parlamentarischen Demokratie zählt aber auch die Möglichkeit, unter Umständen eine Minderheitsregierung zu wählen. Sie wird bei der Wahl getragen durch die größte Minderheit im Parlament: Damit es überhaupt eine Regierung gibt, wird derjenige Regierungschef, der am meisten Stimmen erhält. Minderheit bleiben diese meisten Stimmen, wenn sie keine Mehrheit der Abgeordneten abbilden. So gestaltet sich die Lage in Erfurt, da Kemmerich (45 Stimmen) zwar mehr Stimmen als Ramelow (44 Stimmen) erhalten hat, aber eben keine Mehrheit der Mitglieder (46 Stimmen) hinter sich vereinen konnte. Aus Art. 70 III 3 ThürVerf ergibt sich, dass er damit im dritten Wahlgang gleichwohl gewählt ist. Die Thüringer Verfassung bewegt sich wiederum auf der typischen Linie parlamentarischer Regierungssysteme, wenn sie den so gewählten Ministerpräsidenten grundsätzlich mit den gleichen Rechten und Pflichten ausstattet wie den „normalen“ Mehrheits-Regierungschef.
Szenario 1: Kemmerich strebt als geschäftsführender Ministerpräsident Neuwahlen an
Wie Art. 68 GG sieht auch die Thüringer Verfassung eine Vertrauensfrage des Ministerpräsidenten vor, mit der sich der Ministerpräsident über das (Fort-)Bestehen einer parlamentarischen Mehrheit Gewissheit verschaffen kann. Die Vertrauensfrage ist nur dann „gewonnen“, wenn die Mehrheit der Mitglieder des Landtags dem Ministerpräsidenten das Vertrauen ausspricht (Art. 74 ThürVerf) und damit eine parlamentarische Mehrheit dokumentiert.
Abweichend von der grundgesetzlichen Regelung endet gemäß Art. 75 II 1 ThürVerf das Amt des Ministerpräsidenten ohne weiteres mit der Ablehnung seines Vertrauensantrags. Er ist danach gemäß Art. 75 III ThürVerf nur noch geschäftsführend im Amt. Zugleich wird ein Prozess in Gang gesetzt, der gemäß Art. 50 II Nr. 2 ThürVerf binnen drei Wochen automatisch zur Auflösung des Landtags führt. Der Landtag kann die Neuwahlen nur stoppen, indem er innerhalb dieser Frist einen neuen Ministerpräsidenten wählt.
Die Thüringer Verfassung sagt nicht ausdrücklich, mit welcher Mehrheit diese Wahl zu erfolgen hat. Deshalb könnte man zunächst auf die Idee kommen, die Wahl richte sich nunmehr erneut nach Art. 70 III ThürVerf. Dies hätte aber zur Folge, dass mit dem bloßen Antrag, (irgend)einen Ministerpräsidenten zu wählen, bereits die Neuwahl abgewendet wäre. Denn im Zuge des Verfahrens nach Art. 70 III ThürVerf wird spätestens im dritten Wahlgang (irgend)ein Minderheiten-Ministerpräsident gewählt. Dies widerspricht dem Sinn und Zweck von Art. 50 II Nr. 2 ThürVerf: Die Vorschrift zielt darauf ab, nach einem am Vertrauensantrag gescheiterten Minderheiten-Ministerpräsidenten wieder für stabile Verhältnisse zu sorgen und den Normalfall eines Mehrheits-Ministerpräsidenten herzustellen. Zeigt sich der gewählte Landtag dazu nicht in der Lage, soll es Neuwahlen geben, um auf diese Weise wieder stabile Mehrheitsverhältnisse im Parlament herzustellen.
Deshalb muss Art. 50 II Nr. 2 ThürVerf richtigerweise so verstanden werden, dass er auf das konstruktive Misstrauensvotum nach Art. 73 ThürVerf verweist: Damit muss der Landtag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählen, um seine Auflösung nach Fristablauf abzuwenden.
Damit hätte es Kemmerich weitgehend in der Hand, mittels eines Vertrauensantrags Neuwahlen herbeizuführen: Einen solchen wird er aller Voraussicht nach verlieren; die Wahl eines Mehrheits-Ministerpräsidenten binnen der folgenden drei Wochen erscheint unwahrscheinlich; damit käme es zu Neuwahlen. Kemmerich bliebe aber zunächst geschäftsführend im Amt.
Szenario 2: Kemmerich tritt zurück und macht den Weg für einen neuen Minderheiten-Ministerpräsidenten frei
Auf einen Minderheiten-Ministerpräsidenten kann aber auf anderem Wege ein neuer Minderheiten-Ministerpräsident folgen. Denn der Ministerpräsident kann gemäß Art. 75 ThürVerf jederzeit seinen Rücktritt erklären. Die Norm ist redaktionell widersprüchlich gestaltet. Einerseits spricht sie vom Rücktritt der Landesregierung (Art. 75 II ThürVerf), was einen Kabinettsbeschluss voraussetzt. Andererseits ermöglicht sie jedem einzelnen Mitglied, darunter dem Ministerpräsidenten, den Rücktritt (Art. 75 I ThürVerf) und ordnet an, dass mit dem Rücktritt des Ministerpräsidenten auch das Amt der übrigen Minister endet (Art. 75 II 2 ThürVerf). Im Ergebnis hat es der Ministerpräsident damit allein in der Hand, das Amt der Landesregierung zu beenden. Ohnehin hat Kemmerich bisher keine Minister ernannt.
Für den Fall des Rücktritts ordnet die Thüringer Verfassung kein Verfahren an, das in der Auflösung des Landtags mündet. Das ist konsequent. Denn die Möglichkeit zum Rücktritt ist nicht unbedingt für den Fall geschaffen, dass eine Regierungsmehrheit nicht (mehr) besteht. Typisch ist eher der Rücktritt im Wege einer geordneten Übergabe an einen Nachfolger aus Altersgründen oder als Konsequenz politischer Skandale. Der Rücktritt ist indes an keine Voraussetzungen geknüpft und kann ohne Begründung erfolgen.
Jedenfalls stellt der Rücktritt den Zustand vom Beginn der Wahlperiode wieder her: Die Wahl des Ministerpräsidenten regelt sich in diesem Fall also nach Art. 70 III ThürVerf, was auch die Möglichkeit eines Minderheiten-Ministerpräsidenten im dritten Wahlgang einschließt.
Das Szenario Rücktritt von Kemmerich würde damit die Wahl eines Minderheiten-Ministerpräsidenten Ramelow ermöglichen. Allerdings ist dieses Szenario nach derzeitigem Stand noch nicht in Gang gesetzt: Da aus Gründen staatlicher Stabilität kein Zweifel darüber bestehen darf, ob der Ministerpräsident zurückgetreten ist oder nicht, genügt eine bloße Rücktrittsankündigung im Fernsehen nicht; erforderlich ist vielmehr eine ausdrückliche Rücktrittserklärung gegenüber dem Landtag.
Szenario 3a und 3b: Selbstauflösung des Landtags unter Kemmerich oder Ramelow
Anders als das Grundgesetz, das ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages grundsätzlich nicht kennt, ermöglicht Art. 50 II Nr. 2 ThürVerf eine Selbstauflösung des Thüringer Landtags. Die Landesregierung ist nicht antragsberechtigt; vielmehr muss der Antrag aus der Mitte des Landtags kommen und bereits bei Antragstellung von einem Drittel der Abgeordneten getragen werden. Anschließend müssen dem Selbstauflösungsantrag zwei Drittel der Mitglieder zustimmen.
Die Selbstauflösung ist unabhängig von der Ministerpräsidentenwahl: Sie ist jetzt unter einem Ministerpräsidenten Kemmerich möglich, sie könnte aber auch erst im Anschluss an Szenario 2 unter einem Ministerpräsidenten Ramelow erfolgen.
Wählen, bis es passt?
Thüringens Verfassung eröffnet damit zwei Wege zur Neuwahl: im Wege der Selbstauflösung sowie als Folge eines gescheiterten Vertrauensantrags des Ministerpräsidenten. Nach derzeitigem Stand erscheint es überwiegend wahrscheinlich, dass in beiden Szenarien Kemmerich als geschäftsführender Ministerpräsident in die Neuwahlen geht. Nur im Falle seines Rücktritts wäre die Wahl Ramelows als Minderheiten-Ministerpräsident möglich. In diesem Fall erscheint aber wiederum eine kurzfristige Neuwahl des Landtags unwahrscheinlich, da Rot-Rot-Grün eigentlich eine Minderheits-Koalitionsregierung vereinbart hatte.
Die Möglichkeit von Neuwahlen sagt noch nichts darüber aus, ob dieser Weg politisch klug ist. Aus verfassungspolitischer Perspektive gilt: Die parlamentarische Demokratie ist darauf angelegt, dass sich die Regierung auf eine parlamentarische Mehrheit stützen kann. Insoweit erscheint es zunächst konsequent, wenn Kemmerich mangels einer solchen Mehrheit Neuwahlen anstrebt. Andererseits erweisen sich Neuwahlen dann als problematisch, wenn keine grundlegende Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse im Parlament zu erwarten ist. Kommt es auch im neugewählten Landtag zu keiner parlamentarischen Mehrheit, verschärft sich die Krise des parlamentarischen Regierungssystems in Thüringen.
Die empörten Reaktionen auf Kemmerichs Wahl unterstreichen dabei ein weiteres Dilemma: Erklären wir es zu einem „unverzeihlichen Vorgang“, dass demokratische Parteien wie die FDP auch nur zur Wahl antreten, wenn dabei in geheimer Wahl Stimmen von der falschen Seite – nämlich von den Neonazis der AfD – drohen, verliert die demokratische Mitte jede Deutungshoheit über den politischen Prozess und die politische Bühne wird den Extremisten rechts wie links überlassen.
Zitiervorschlag: Matthias Friehe, Thüringens Wege zu Neuwahlen – Wege zum politischen Frieden?, JuWissBlog Nr. 9/2020 v. 7.2.2020, https://www.juwiss.de/9-2020/
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