von KERSTIN GEPPERT
Vor knapp einem Monat verabschiedete der Thüringer Landtag Deutschlands zweites Paritätsgesetz. Ein Aufschrei in Presse und Rechtswissenschaft wie nach der Einführung eines Paritätsgesetzes in Brandenburg im vergangenen Februar (wie hier, hier, hier, hier, hier oder hier) blieb allerdings aus. Die Neuregelung in Thüringen gibt dennoch Anlass, Unterschiede zum Paritätsgesetz in Brandenburg und zum ursprünglich eingebrachten Gesetzentwurf aufzuzeigen.
Die Ausgangslage
Langsamkeit kann man dem thüringischen Gesetzgeber nicht vorwerfen: Der ursprüngliche Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen (Linke, SPD und Grüne) war erst im März 2019 in den Landtag eingebracht und nach heftigen Diskussionen an den federführenden Innen- und Kommunalausschuss überwiesen worden. Dieser führte im Juni eine Sachverständigenanhörung durch. Nur einen Monat später wurde das Gesetz dann mit den Stimmen der Linke, SPD und Grüne, gegen die Stimmen der CDU und AfD, verabschiedet. Mit Klagen dagegen wird gerechnet, eingereicht wurden jedoch noch keine.
Im Zentrum des Gesetzes steht die Einführung eines neuen § 29 Abs. 5 Thüringer Landeswahlgesetz (ThürLWG). Dieser sieht eine paritätische Besetzung der Landeslisten vor. Während der ursprüngliche Gesetzentwurf noch unterschiedliche Ausnahmen vorsah für reine „Männer-“ oder „Frauenparteien“ und Situationen, in den zu wenige Kandidat*innen eines Geschlechts zur Verfügung stehen, wurden diese Passagen auf Empfehlung des Innen- und Kommunalausschusses gestrichen. Damit ist die nun verabschiedete Neuregelung überschaubar:
Die Landesliste ist abwechselnd mit Frauen und Männern zu besetzen, wobei der erste Platz mit einer Frau oder einem Mann besetzt werden kann. Personen, die im Personenstandsregister als ›divers‹ registriert sind, können unabhängig von der Reihenfolge der Listenplätze kandidieren. Nach der diversen Person soll eine Frau kandidieren, wenn auf dem Listenplatz vor der diversen Person ein Mann steht; es soll ein Mann kandidieren, wenn auf dem Listenplatz vor der diversen Person eine Frau steht.
Entsprechen die Landeslisten diesen Vorgaben nicht, sind sie gemäß des neuen Satz 4 des § 30 Abs. 1 ThürLWG zurückzuweisen. Dabei ist auch eine Teilzurückweisung möglich.
Thüringer Innovation: Berücksichtigung von Inter*Personen
Nachdem das brandenburgische Paritätsgesetz kritisiert wurde, weil sich Inter*Personen für die Kandidatur auf einer Frauen- oder Männerliste entscheiden müssen, wurde in Thüringen ein anderer Ansatz gewählt. Möglich macht das der Verzicht auf solche separate Frauen- und Männerlisten, die im Anschluss zu einer einheitlichen Liste zusammengeführt werden. Stattdessen können Inter*Personen in Thüringen unabhängig von der Reihenfolge der Listenplätze kandidieren. Laut Gesetzesbegründung wollte der Gesetzgeber mit dieser Regelung vermeiden, dass Inter*Personen indirekt einem bestimmten Geschlecht zugeordnet werden. Dies sei nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2017 (1 BvR 2019/16) ausdrücklich zu unterbinden. Die Möglichkeit, auf jedem Platz kandidieren zu können, sich also nicht in das binäre Geschlechterverständnis einordnen zu müssen, achtet das Selbstbestimmungsrecht von Inter*Personen und überzeugt. Problematisch ist allerdings, dass der Gesetzeswortlaut nur von Personen spricht, die im Personenstandsregister als ‚divers‘ eingetragen sind. Seit der Änderung des Personenstandsgesetzes besteht nämlich gem. § 22 Abs. 3 auch die Möglichkeit, keinen Geschlechtseintrag vornehmen zu lassen. Diesen Personen wäre die Wahlmöglichkeit nach dem Wortlaut des § 29 Abs. 5 ThürLWG n.F. folglich verwehrt. Bei genauer Betrachtung wäre ihre Kandidatur überhaupt nicht mehr möglich, da sie zudem weder Frauen noch Männer sind. Obwohl diese Problematik in der Sachverständigenanhörung angesprochen wurde, wurde der Gesetzentwurf dahingehend nicht geändert.
Ausnahmen gestrichen – Gesetzgeberische Verschlimmbesserung?
Der ursprüngliche Gesetzentwurf sah für den Fall, dass bei der Aufstellung einer Liste nicht genügend Kandidat*innen eines Geschlechts zur Verfügung stehen, die Möglichkeit vor, diese Plätze mit Kandidat*innen des anderen Geschlechts zu besetzen. Dabei hätte jedoch das in der Partei unterrepräsentierte Geschlecht mindestens entsprechend seines zahlenmäßigen Verhältnisses berücksichtigt werden müssen. Diese Ausnahme sollte auf die teilweise geäußerte Kritik, Frauen seien in Parlamentsfraktionen sogar überrepräsentiert (vgl. Morlok/Hobusch DÖV 2019, 14), eingehen und die Parteienfreiheit gem. Art. 21 Abs. 1 GG möglichst wenig beeinträchtigen. Zwar birgt eine solche Ausnahmeregelung stets die Gefahr, missbräuchlich verwendet zu werden. Die am Anteil des unterrepräsentierten Geschlechts orientierte „Untergrenze“ hätte dies jedoch in gewissem Umfang eingehegt. Verhindert worden wäre damit auch, dass Frauen auf die hinteren und damit aussichtslosen Listenplätze verwiesen worden wären. Die Mehrheit der Sachverständigen kritisierte diese Regelung in der Anhörung allerdings. So fehlten beispielsweise Kriterien, wann die Ausnahmeregelung greife, wann also nicht genug Kandidat*innen eines Geschlechts zur Verfügung stünden. Hauptkritikpunkt war jedoch, dass eine solche, am Geschlechteranteil orientierte Untergrenze die falsche Bezugsgröße für den Geschlechteranteil im Parlament in den Blick nehme. Korrekte Bezugsgröße sei gerade nicht der Geschlechteranteil in den Parteien, sondern der im Volk, da Abgeordnete das ganze Volk vertreten würden und nicht nur ihre Parteimitglieder. In der Folge wurde diese Ausnahmeregelung gestrichen.
Eine weitere Öffnungsklausel war für Parteien vorgesehen, deren Programmatik sich überwiegend oder ausschließlich an ein Geschlecht richtet. Sie hätten ihre Listen nicht paritätisch besetzen müssen. Auch diese Regelung wurde in der Anhörung des Ausschusses heftig kritisiert und später gestrichen. Neben der Frage, ob eine solche Ausnahmeregelung inhaltlich geboten ist, war jedenfalls der konkrete Wortlaut missverständlich: Der Gesetzentwurf sprach von Parteien, die „ausschließlich einem Geschlecht zuzuordnen“ sind. Zwar ließ der Blick in die ursprüngliche Gesetzesbegründung darauf schließen, dass hier die programmatische Ausrichtung einer Partei ausschlaggebend sein sollte. Im Sinne der Normenklarheit ist jedoch zu begrüßen, dass der zunächst vorgeschlagene Wortlaut nicht Gesetz wurde.
Erforderlichkeit von Ausnahmebestimmungen wegen der Parteienfreiheit?
Wie sieht es aber mit der inhaltlichen Notwendigkeit einer solchen Regelung aus? Laut Gesetzesbegründung sollte die Öffnungsklausel verhindern, dass sog. „Frauen-“ oder „Männerparteien“ de facto von Wahlen ausgeschlossen werden und somit die Parteienfreiheit wahren. Auch Paritätsregelungen grundsätzlich wohl gesonnene Rechtswissenschaftler*innen sehen bei der Parité-Debatte hauptsächlich aufgrund der möglicherweise beeinträchtigten Parteienfreiheit Probleme. Folglich scheint geboten, hier bei der Ausgestaltung einer Quote größtmögliche (Parteien-)Freiheit einzuräumen. So überlässt das thüringische Gesetz den Parteien auch die Möglichkeit, selbst über die Besetzung des ersten Listenplatzes zu entscheiden. Solange Listen im Ausnahmefall auch entsprechend des Geschlechteranteils aufgestellt werden könnten, hätte es der zweiten Öffnungsklausel allerdings nicht bedurft. Über diese Ausnahme hätten auch überwiegende „Frauen-“ oder „Männerparteien“ an der Wahl teilnehmen können. Allerdings wurde auch diese Ausnahme zur abwechselnden Besetzung gestrichen. Wäre es parteienfreiheitsschonend gewesen, wenigstens diese Ausnahme beizubehalten?
Die Antwort auf diese Frage kann nur in einem ausgewogenen Verhältnis von Parteienfreiheit und Chancengleichheit der Geschlechter gefunden werden. Diese Chancengleichheit herzustellen gibt das Grundgesetz, genauer gesagt der Förderauftrag in Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG dem Gesetzgeber explizit auf. Dabei steht ihm ein weiter Gestaltungspielraum zu, den er bei der Umsetzung rechtlicher Maßnahmen nutzen kann und der in gewissem Umfang auch Beeinträchtigungen anderer Verfassungsgüter beispielsweise der Parteienfreiheit zulässt. An dieser Stelle soll jedoch noch einmal festgehalten werden: Es geht nicht darum, das Parlament zum exakten Spiegelbild der Bevölkerung zu machen. Es geht darum, allen deutschen Staatsbürger*innen einen diskriminierungsfreien und damit chancengleichen Zugang zu politischer Macht in Form eines Abgeordnetenmandats zu gewährleisten. In unserer, die Mitwirkung von Parteien voraussetzenden Demokratie, spielen ebendiese Parteien dabei eine große Rolle. Die thüringische Ausnahmeregel wäre eine Möglichkeit gewesen, immerhin die faktisch bestehenden Nachteile der in den Parteien schon vorhandenen weiblichen Mitglieder auf einen aussichtsreichen Listenplatz zu beseitigen und dabei die Parteienfreiheit nicht über Gebühr zu strapazieren. Da Bezugsgröße des Parlaments bei der Frage nach chancengleichem Zugang allerdings nur die Wahlbevölkerung sein kann, wäre eine solche Regelung nur zielführend, wenn der Frauenanteil in Parteien und folglich auch im Parlament im Laufe der Zeit anwachsen würde. Problematisch ist bei der ursprünglich anvisierten thüringischen Ausnahmeregelung, dass sie einen klaren Anreiz für Parteien vermissen lässt, sich mehr um weibliche Mitglieder zu bemühen. Dennoch hätte die Ausnahme einen geringeren Eingriff in die Parteienfreiheit und einen sanfteren Einstieg in ein Paritätsgesetz bedeutet. Die Auswirkungen des Gesetzes hätten nach einer gewissen Zeit evaluiert und bei Feststellen einer mangelnden Geeignetheit verschärft werden können.
Schlussbemerkung
In Anbetracht der aktuellen Zahlen, die auch nach 100 Jahren Frauenwahlrecht im Durchschnitt gerade einmal 30% weibliche Abgeordneten in deutschen Parlamenten verzeichnen – wobei sogar eine rückläufige Tendenz zu beobachten ist – ist es jedoch verständlich, dass dem Gesetzgeber in Thüringen der Geduldsfaden gerissen ist und er eine strenge Regelung verabschieden wollte.
Ob das verabschiedete Gesetz verfassungskonform ist, wird bis zur ersten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts umstritten bleiben – möglicherweise sogar darüber hinaus. Wie ein Blick auf die Entwicklung der Rechtsprechung zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zeigt, kann sich unser Grundgesetz bzw. die Auslegung desselben durch das Bundesverfassungsgericht auch wandeln.
Zitiervorschlag: Kerstin Geppert, Parité 2.0? – Thüringen gibt sich ein Paritätsgesetz, JuWissBlog Nr. 81/2019 v. 8.8.2019, https://www.juwiss.de/81-2019/
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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
[…] Beispiele sind hierbei die Paritätsgesetze von Brandenburg und Thüringen, die auch ausgiebig diskutiert wurden. Weniger soll hier die Debatte mit einer weiteren verfassungsrechtlichen Einschätzung […]
[…] Mehrwert einer gesetzlichen Frauenquote für Wahllisten, über „Parität“ (siehe auch hier, hier, hier und hier). Die Landesverfassungsgerichte Brandenburg und Thüringen haben entsprechende […]