Mit ihrem Beitrag „Verfassungswandel messbar machen – Eine interdisziplinäre Betrachtung gesellschaftlicher und rechtlicher Entwicklungen homosexueller Paarbeziehungen“ sorgten Franziska Spanner und Simon Pschorr aus Konstanz für eine Premiere auf der ATÖR: Zum ersten Mal wurde ein rechtswissenschaftliches Thema interdisziplinär angegangen und mit Franziska auch durch eine Soziologin vorgestellt. Im Interview mit JuWiss berichten sie von ihrer Methodik und Ergebnissen.
JuWiss: Inwiefern hängen nach Eurer Betrachtung der gesellschaftliche und der rechtliche Wandel hinsichtlich homosexueller Paarbeziehungen zusammen?
Pschorr/Spanner: Gesellschaftlicher und rechtlicher Wandel sind unmittelbar miteinander verknüpft. Unserer Ansicht nach ist gesellschaftliche Veränderung essentielle Voraussetzung rechtlicher Entwicklungen. Am Beispiel homosexueller Paarbeziehungen lässt sich das sehr gut veranschaulichen: Wir haben mit unserer Untersuchung gezeigt, dass das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung zeitlich korrelat zu einer Liberalisierung der gesellschaftlichen Anschauungen geändert hat. Das ist prima facie kein Wunder – RichterInnen sind auch nur Menschen und damit selbst Teil der Gesellschaft. Sie sind ähnlichen Einflüssen ausgesetzt wie die meisten BürgerInnen. Diese Einflüsse bilden sich, bisher allerdings nicht rationalisiert, in der Rechtsprechung ab. Uns war es deshalb ein besonderes Anliegen, diese Entwicklung messbar zu machen. Zugleich wollen wir der Rechtswissenschaft ein Angebot machen: Wenn diese Korrelation schon heute Realität ist, warum sollte dieser Befund nicht auch als Methode dienen?
JuWiss: Was können andere Disziplinen leisten, um Verfassungswandel zu erklären?
Pschorr/Spanner: Verfassungswandel ist aus unserer Sicht eine methodische Argumentationsfigur und muss deswegen nicht „erklärt“, sondern vielmehr begründet werden. Im herkömmlichen Begriffsverständnis bezeichnet Verfassungswandel dementgegen einen Zustand: Die Auslegung der Verfassung hat sich geändert. Warum diese Änderung eingetreten ist, das kann die Rechtswissenschaft regelmäßig nicht anhand des bisherigen Methodenkanons begründen – warum ändert sich die Auslegung, wo doch die Auslegungsmethoden bisher identisch waren? Entweder hat sich der Sachverhalt geändert – dann liegt das meistens an einer abweichenden technischen/naturwissenschaftlichen Beurteilung der Ausgangsmaterie. Auch das kann die Verfassung wandeln und vor neue Aufgaben stellen, wurde jedoch von uns nur peripher betrachtet. Unser Schwerpunkt lag auf der Untersuchung der zweiten Variante, die Verfassungswandel zugrunde liegen kann: Wenn sich der zu beurteilende Sachverhalt nicht ändert, aber sich die Auslegung wandelt, dann müssen andere Gründe ausschlaggebend gewesen sein. Dabei spielen die gesamtgesellschaftlichen Anschauungen eine zentrale Rolle. Juristen müssen dabei ihre eigenen Grenzen erkennen: Wir mögen ausgezeichnete Hermeneutiker sein, aber empirische Sozialforschung, das können wir nicht. Wir glauben, wir müssen deshalb viel mehr auf die Erkenntnisquellen anderer Wissenschaften zurückgreifen. Diese können uns die argumentatorische Grundlage liefern, unsere eigenen Auslegungsergebnisse an die gesellschaftliche wie wissenschaftliche Realität zurückzubinden.
JuWiss: Wo liegen etwaige Grenzen dieser Methodik?
Pschorr/Spanner: Es gibt empirische und juristische Risiken bei diesem Vorgehen: Soziologisch gesprochen kommen valide Daten nicht aus dem Nichts. Wissenschaftlich haltbare Erkenntnisse über zeitliche Verläufe können nur auf strukturierte, langfristig angelegte Untersuchungen aufbauen. Bisher fehlt es leider in weiten Bereichen an Untersuchungen, die gesellschaftlich relevante Felder – Verfassungswertungen – so weit vorausgreifend betrachten. Im Übrigen: Es ist nicht immer so leicht, sich vorzustellen, was in zwei Jahrzehnten eine relevante verfassungsrechtliche Fragestellung sein könnte. Da braucht es aber auch Organisationsstrukturen und Geld; eine Aufgabe für das Bundesverfassungsgericht und das statistische Bundesamt. Rechtswissenschaftlich stellt sich die Frage, ob die hier vorgestellte Auslegungsmethode in manchen Bereichen nicht womöglich den Zweck verschiedener Verfassungsnormen konterkarieren kann. Gemeint ist: Minderheitenschutz kann nicht von den Ansichten der Mehrheit abhängen! Aber das spricht nicht fundamental gegen die Methode: Wie jede andere Auslegungsmethode steht sie erst einmal gleichrangig neben allen anderen – und es ist Frage der Gesamtschau, welche Wertung sich durchsetzt, wenn das Auslegungsergebnis nicht auf allen Ebenen identisch ist. Bei denjenigen Grundrechten, bei denen der Minderheitenschutz die abwehrrechtliche Komponente prägt – beispielsweise Art. 3 Abs. 3 GG – wird das hier vorgestellte Gepräge von Verfassungswandel wohl zurückstecken müssen.
Interview von Matthias K. Klatt für die JuWiss-Redaktion.
Zitiervorschlag: Interview mit Simon Pschorr und Franziska Spanner (Konstanz) im Rahmen der 59. Assistententagung Öffentliches Recht, JuWissBlog Nr. 31/2019 v. 22.2.2019, https://www.juwiss.de/31-2019/
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