Ein Tweet des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung vom 09.12.2020 erregt aktuell die Gemüter. Hierin bewirbt das Ministerium das angeblich erfolgreiche Wissenschaftszeitvertragsgesetz mit folgenden Worten: „The German Academic Fixed-Term Contract Act (WissZeitVG) gives higher education & #research institutions a certain degree of flexibility with regard to fixed-term contracts.“ Diese Behauptung stellt eine maßlose Untertreibung einer untragbaren Situation im deutschen Wissenschaftssystem dar: Tatsächlich sind die Beschäftigungsbedingungen des der akademischen Mittelbaus in Deutschland flexibilisiert wie kein anderer Beschäftigungsbereich.
#95vsWissZeitVG
Die 280 Zeichen bei Twitter erlauben bekanntermaßen keine sachliche Auseinandersetzung mit komplexen Themen. Doch die vorliegend zitierte Nachricht suggeriert, Befristungen seien nach dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz nur „bis zu einem gewissen Grad“ möglich. Dies entspricht weder der rechtlichen noch der Arbeitsmarktrealität.
In rechtlicher Hinsicht muss man sich vor Augen halten, dass das unbefristete Arbeitsverhältnis als Normalarbeitsverhältnis zu betrachten ist. „Unbefristete Arbeitsverträge sind die übliche Form des Beschäftigungsverhältnisses. Sie tragen zur Lebensqualität der betreffenden Arbeitnehmer und zur Verbesserung ihrer Leistungsfähigkeit bei. Die aus objektiven Gründen erfolgende Inanspruchnahme befristeter Arbeitsverträge hilft Missbrauch zu vermeiden“ (Erwägungsgründe 6 und 7 der EGB-UNICE-CEEP Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge EWG RL 1999/70/EG). Im allgemeinen Arbeitsrecht gibt deshalb § 14 Abs. 1, 2 TzBfG beschränkte Möglichkeiten vor, um zunächst höchstens zwei Jahre (bei höchstens dreimaliger Verlängerung) ohne Sachgrund und danach nur noch mit Sachgrund (unter Beachtung der Rechtsprechung zur Kettenbefristung vgl. aktuell EuGH, Urteil vom 25.10.2018 – C-331/17 = NJW 2019, 748) befristet zu beschäftigen. Von diesen Grundsätzen weicht das Wissenschaftszeitvertragsgesetz ab. Hiernach kann das wissenschaftliche und künstlerische Personal der Hochschulen sachgrundlos zweimal sechs Jahre lang befristet beschäftigt werden (zu den Befristungsmöglichkeiten in Übersicht Pschorr, Corona und Höchstbefristungszeiten im Wissenschaftszeitvertragsrecht, COVuR 2020, 573, 574).
Diese Ausweitung der Befristungsmöglichkeiten in der Wissenschaft hat unbefristete Arbeitsverhältnisse im akademischen Mittelbau faktisch vollständig verdrängt. 93 % des hauptamtlichen wissenschaftlichen und künstlerischen Personals unter 45 Jahren ist befristet beschäftigt (BuWin 2017, S. 126). Diese Befristungsquote liegt weit über der auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (Leischner/Krüger/Moes/Schütz, Beschäftigungsbedingungen und Personalpolitik an Hochschulen in Deutschland, 2016, S. 6). Auch die Teilzeitbeschäftigungsquote ist mit dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht vergleichbar: Nur 42 % arbeiten in Vollzeit (Pressestelle ver-di. Bundesverband, Zusammenfassung der Studie zum wissenschaftlichen Mittelbau an deutschen Hochschulen, S. 2). Dies liegt aber nicht etwa an der geringen Arbeitsbelastung: Eine Vielzahl wissenschaftlicher Mitarbeiter*innen arbeitet real deutlich mehr als arbeitsvertraglich geschuldet ist (vgl. Geis/Pschorr § 53 Rn. 13 f., 25). Mehr als zwei Drittel der Beschäftigen im wissenschaftlichen Mittelbau berichten, tatsächlich in Vollzeit zu arbeiten (BuWin 2017, S. 141; vgl. auch Grün/Hecht/Rubelt/Schmidt, Der wissenschaftliche „Mittelbau“ an deutschen Hochschulen, S. 27, exemplarisch für die Psychologie eine aktuelle Stellungnahme der DGP), wobei Drittmittelbefristete hiervon besonders stark betroffen sind (BuWin 2017, S. 141).
Ein erheblicher Teil dieser berichteten tatsächlichen Arbeitsbelastung entfällt auf die Erstellung von Qualifikationsschriften. Promovierende wenden durchschnittlich 3,5 Std. pro Tag auf die Erstellung der Doktorarbeit (Jaksztat/Preßler/Briedis, HIS: Promotionen im Fokus, S. 60) auf. Gem. § 53 Abs. 2 HRG ist die Erstellung von Qualifikationsschriften bei zur Qualifikation Beschäftigten Teil der Arbeitspflicht und hierfür – als Teil selbstständiger Forschung – während der Arbeitszeit in angemessenem Umfang Gelegenheit zu bieten (ausführlich Geis/Pschorr § 53 Rn. 18 ff.; Pschorr, DoktorArbeit, WissR 2017, 348, 349 ff.). Es besteht demnach ein Freistellungsanspruch (Pschorr, DoktorArbeit, WissR 2017, 347, 351) zur Fertigung der Qualifikationsschrift während der Arbeitszeit in Höhe von 3,5 Std. pro Tag (Geis/Pschorr § 53 Rn. 24). Im universitären Alltag wird die Qualifikationsschriftabfassung jedoch auch für diese Beschäftigten allzu häufig als „Privatvergnügen“ angesehen. So werden im Arbeitsalltag aus Qualifikationsbeschäftigungen Anstellungen zur Finanzierung der Qualifikation nach Dienstschluss. Dazu trägt auch bei, dass nur an wenigen Universitäten die Arbeitszeit von wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen erfasst wird. Die Deutsche Forschungsgesellschaft (DFG) – ein bundeseigenes Förderinstitut – ist sich dieser Situation bewusst und gibt trotzdem ein Merkblatt „Hinweise für die Bezahlung von Promovierenden“ heraus, das unterschiedliche Teilzeitbeschäftigungsquoten für den wissenschaftlichen Mittelbau in DFG-geförderten Projekten empfiehlt.
Frist ist Frust
Das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung hat auf die massive Kritik auf den zitierten Tweet aus dem wissenschaftlichen Mittelbau auf Twitter nachgelegt. Es sei Aufgabe der Hochschulen (und damit der Länder als Arbeitgeber), mit den Befristungsmöglichkeiten verantwortungsvoll umzugehen. Dass dies nicht der Fall ist, ist seit Jahren bekannt (auf die hohe Quote der Kurzzeitbefristungen bereits 2011 hinweisend Jongmanns, Evaluation des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, S. 73 f.). Deswegen steuerte der Bundesgesetzgeber bereits 2016 nach und fügte § 2 Abs. 1 S. 3 WissZeitVG ein, um die grassierende Praxis von Befristungen kürzester Laufzeit zu beenden (BT-Drs. 18/6489, S. 7). Hiernach soll die Befristungsdauer so bemessen werden, dass sie der angestrebten Qualifizierung angemessen ist. Die Justiziabilität dieser Vorschrift ist jedoch noch immer höchst fraglich (hierzu ausführlich Maschmann/Konertz, Das Hochschulbefristungsrecht in der Reform: Die Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, NZA 2016, 257, 263; Boecken/Joussen/Joussen § 2 WissZeitVG Rn. 6a). Eine gerichtsfeste Bemessung der Dauer unterschiedlicher Qualifizierungsziele, an die das Angemessenheitskriterium anknüpft, ist schon im seltesten Fall möglich – zu sehr variiert die tatsächlich erforderliche Forschungsdauer von Fachbereich zu Fachbereich und von Teildisziplin zu Teildisziplin (Boecken/Joussen/Joussen § 2 WissZeitVG Rn. 6a; zu Promotionsdurchschnittslängen Pschorr, DoktorArbeit, WissR 2017, 346, 356 mwN). Noch schwieriger wird es allerdings, wenn nicht die Anfertigung einer spezifischen Qualifikationsschrift, sondern ein weniger konkretes Qualifizierungsziel Grundlage der Befristung ist (Boecken/Joussen/Joussen § 2 WissZeitVG Rn. 6a).
Eine für das aktuelle Jahr beabsichtigte Evaluation des Gesetzes (vgl. § 8 WissZeitVG, hierzu kritisch das NGAWiss in einem offenen Brief aus dem Juni 2020) verzögert sich. Stattdessen mussten coronabedingt Anpassungen der Höchstbefristungszeiten vorgenommen werden. Bei der Umsetzung des § 7 Abs. 3 WissZeitVG traten die von der GEW im Vorfeld befürchteten Probleme flächendeckend auf – statt Sicherheit für den wissenschaftlichen Mittelbau hat die Vorschrift weitere Konfliktpotentiale mit der Hochschulverwaltung geschaffen (näheres zur Reform bei Pschorr, Corona und Höchstbefristungszeiten im Wissenschaftszeitvertragsrecht, COVuR 2020, 573, 575 ff.). Die Universitäten machen von der Verlängerung der Höchstbefristungszeiten weithin keinen Gebrauch oder verlangen von den Beschäftigten entgegen der gesetzlichen Konzeption (BT-Drs. 19/18699, S. 7) Einzelfallbegründungen, inwiefern die allgegenwärtigen Einschränkungen durch die COVID-19-Pandemie die individuelle Forschungsarbeit beeinträchtigen.
Dauerstellen für Daueraufgaben
Dabei bestehen weit bessere Alternativen zum status quo des Hochschularbeitsrechts – sowohl für den Wissenschaftsbetrieb als auch für die dort Beschäftigten. Es ist nicht einmal ein Blick in das europäische Ausland erforderlich – wenn auch lohnenswert. Das Netzwerk Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss) hat am 23.11.2020 ein Positionspapier zu progressiven Personalmodellen in der Wissenschaft veröffentlicht. Das Papier zeigt auf, dass stabile, sozial verträgliche und zukunftsorientierte Beschäftigung in der Wissenschaft auch ohne erheblichen finanziellen Mehraufwand möglich ist. Das Netzwerk schlägt vor, wissenschaftliche Mitarbeiter*innen bis zur Promotion befristet zu beschäftigen. Die Vertragslaufzeit dieses befristeten Beschäftigungsverhältnisses sei mit fünf Jahren zu bemessen, um Planungssicherheit und eine klare zeitliche Perspektive zu bieten. Nach der Promotion könnten mithilfe eines Lecturer-Systems zwischen 17 % und 39 % mehr Beschäftigte unbefristet beschäftigt werden. Damit könnten qualifizierten Lehrpersonen Zukunftsaussichten auch abseits einer Professur geboten werden Die Professur würde so zur Aufstiegsmöglichkeit und nicht zur einzigen Zukunftsperspektive. Trotzdem bliebe die Dynamik des Forschungsbetriebs erhalten: Pro Jahr würden pro Lehrinstitut 0,81 unbefristete Stellen frei, sodass neue Wissenschaftler*innen an die Hochschule berufen werden könnten. Dieses Beispiel zeigt: Der Wissenschaftsbetrieb lässt sich auch ohne exorbitante Befristungsquoten lebendig erhalten und bleibt auch ohne prekäre Arbeitsbedingungen finanzierbar. Es ist Aufgabe des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft und des Bundesgesetzgebers, die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine solche Hochschullandschaft zu schaffen. Statt „Zukunftsvertrag Studium“ und „Exzellenzinitiative“ wäre dazu zuvorderst eine stabile, nachhaltige und planungssichere Hochschulfinanzierung erforderlich Es wäre angebracht, wenn sich der Bund dafür mit den Ländern an einen Tisch setzte, statt die Verantwortung für den berechtigten Frust der Hochschulbelegschaft an die Länder abzuschieben. Denn: Die Sicherung stabiler Beschäftigungsverhältnisse des wissenschaftlichen Mittelbaus bedeutet einerseits die Sicherung eines international wettbewerbsfähigen deutschen Wissenschaftsbetriebs. Andererseits bedeutet es insbesondere die Sicherung bestmöglicher Ausbildung für die Wissenschaftler*innen, Ingenieur*innen und Spitzenkräften in Justiz und Verwaltung von morgen.
Zitiervorschlag: Simon Pschorr, A certain degree of flexibility, JuWissBlog Nr. 02/2021 v. 12.01.2021, https://www.juwiss.de/02-2021/.
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[…] befristet, nur 42 % sind Vollzeitstellen – das weicht massiv vom deutschen Durchschnitt ab. Hier wurden die Punkte gut zusammengefasst. Es ist klar, dass durch diese Situation die […]