von AMÉLIE HELDT
Angesichts der anhaltenden Proteste in Hongkong gegen den zunehmenden Einfluss der Zentralregierung in Peking stellt sich die Frage, ob und wie die Demonstranten (noch) von der Meinungs- und Versammlungsfreiheit geschützt sind. Grundsätzlich genießen Hongkongs Anwohner Sonderrechte, doch bereits heutzutage sind die Gerichte verpflichtet, sich an eine von Peking aus gesteuerte „einheitliche“ Auslegung zu halten. Am Beispiel der Demonstrationen im Flughafenterminal zeigt dieser Beitrag die Grenzen des durch das Hong Kong Basic Law garantierten Grundrechtsschutzes auf.
Hongkong: Schauplatz des Protests gegen öffentliche Gewalt
Von Tag zu Tag klingen die Berichte über Demonstrationen in Hongkong dramatischer: ursprünglich richteten sich die Massendemonstrationen gegen das geplante Auslieferungsgesetz, heute kämpfen die Demonstranten für den Erhalt ihrer Grundfreiheiten und gegen die Einflussnahme der Zentralregierung in Peking. Die Polizei scheut nicht davor zurück, Versammlungen durch Zwang aufzulösen. Noch gilt der Grundsatz „ein Land zwei Systeme“, was für Hongkong den Schutz von Grundfreiheiten wie u.a. die Meinungs- und Versammlungsfreiheit bedeutet. Seit der Übergabe durch die britische Krone 1997 genießen die Anwohner Hongkongs besondere Rechte im Vergleich zu den Staatsbürgern der Volksrepublik China (VR), doch dieser Grundsatz gerät ins Wanken. Die Zentralregierung sitzt am längeren Hebel und hat sich bisher möglicherweise nur verhältnismäßig zurückgehalten, weil die Weltgemeinschaft die Geschehnisse in Hongkong beobachtet. Vertraglich wurde eine Übergangszeit von 50 Jahren vereinbart, d.h. bis zur endgültigen Vereinigung mit der VR 2047 ist Hongkong eine Sonderverwaltungszone mit eigenem Rechtssystem; doch die aktuelle Lage zeigt, dass diese Vereinbarung der Realität nicht (mehr) entspricht. Das lässt sich beispielhaft an den friedlichen Protesten im Flughafen Hongkong prüfen, deren Ziel es war, Besucher bei ihrer Ankunft auf den Ausnahmezustand in der Stadt aufmerksam zu machen. 12. August 2019 wurde der Flughafenbetrieb eingestellt.
Der Flughafen als geschützter Versammlungsort?
Damit reiht sich der Flughafen Hongkong in die Reihe solcher ein, die als Versammlungsort dienen und von denen die Versammlungsteilnehmer sich mehr Sichtbarkeit erhoffen. Faktisch ist der Flughafen ein wichtiges Infrastrukturelement für eine kosmopolitische Metropole wie Hongkong und als Ankunftsort für Besucher aus aller Welt hat er auch symbolische Wirkkraft. Wird er als Versammlungsort genutzt, stellt sich die Frage, welchen Grundrechtsschutz die Demonstranten genießen. Die folgenden Überlegungen haben sich daraus ergeben, dass sowohl in Deutschland als auch in den USA wichtige Rechtsprechung zur Versammlungsfreiheit in Flughafenterminals ergangen ist und diese somit Projektionsfläche für das Thema der Öffentlichkeit in der heutigen Gesellschaft geworden sind. Es zeigt, dass Rechtsprechung auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren und für den Schutz von Grundrechten, die in der Verfassung verankert sind, sorgen können muss. In einer Demokratie muss die Auseinandersetzung mit Themen des öffentlichen Lebens gewährleistet sein – genau darum geht es derzeit in Hongkong.
In Deutschland entschied das Bundesverfassungsgericht in seinem Fraport-Urteil, dass die Wahl des Flughafenterminals als Versammlungsort sowohl unmittelbar als auch mittelbar von der Versammlungsfreiheit geschützt sei. Im Zuge dessen beschrieb das BVerfG zeitgenössische Flughafenterminals wie folgt: „Werden Räume in dieser Weise für ein Nebeneinander verschiedener, auch kommunikativer Nutzungen geöffnet und zum öffentlichen Forum, kann aus ihnen gemäß Art. 8 Abs. 1 GG auch die politische Auseinandersetzung in Form von kollektiven Meinungskundgaben durch Versammlungen nicht herausgehalten werden.“ (BVerfGE 128, 226, 253) Dabei bezog sich das BVerfG auf ein Urteil des U.S. Supreme Courts, wo es um eine friedliche Versammlung in einem New Yorker Flughafen ging und in dem der Supreme Court die gegensätzliche Position eingenommen hatte: ist das Flughafengebäude in privatrechtlichem Eigentum, so muss die Eigentümergesellschaft keinerlei Versammlungen dulden, solange sie keine Ausnahmen i.S.d. State Action Doctrine erfülle (ISKON v. Lee, 505 U.S. 672, 680-681 (1992)). D.h. auch innerhalb der „Wertegemeinschaft“ westlicher Demokratien werden unterschiedliche Konzepte der Öffentlichkeit vertreten.
Welcher Schutz für Hongkong?
Art. 27des Hong Kong Basic Law (Basic Law) schützt die Meinungs- und Versammlungsfreiheit vor rechtswidrigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt. Die vertikale Abwehrfunktion des Basic Law gegenüber dem Staat ist verfassungsrechtlich in Art. 38 Basic Law verankert. Da der Flughafen Hongkong eine Körperschaft des öffentlichen Rechts und Eigentum der Regierung Hongkongs ist, hätte eine Klage aufgrund einer Verletzung von Art. 27 Basic Law Aussicht auf Erfolg, soweit die Demonstration im Terminal die Voraussetzungen einer friedlichen Versammlung erfüllen würde. Doch unabhängig von der Zulässigkeit und Begründetheit einer solchen Klage kommt eine weitere Verfahrensvoraussetzung hinzu: Art. 158 Basic Law, der die Auslegung des Basic Law im Sinne der Rechtseinheit unter den Regionen vorgibt. Liegt ein Fall vor, der die Zuständigkeit der Zentralregierung tangiert (bspw. wegen des Vorwurfs Terrorismus-ähnlicher Handlungen), muss sich das jeweilige Gericht an den Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses (NPCSC) wenden. Dieses Organ ist für die Auslegung der Verfassung und Gesetze zuständig, obwohl es formal Teil der Legislative ist. Zwar gilt gemäß Art. 158 Abs. 3 Basic Law ein Rückwirkungsverbot, aber die Stellungnahme des NPCSC ist für das Gericht und darauffolgende Verfahren bindend. An dieser Stelle wird klar, dass wirksamer Rechtsschutz und Rechtsstaatlichkeit nur insoweit gewährleistet sein kann, als dass das Prinzip der Gewaltentrennung eingehalten wird. So ist – obwohl Hongkong eigentlich einen Sonderstatus genießt – eine effektive Rechtsdurchsetzung gegen die öffentliche Gewalt zweifelhaft.
Würden die Proteste auf privaten Grundstücken stattfinden, könnte Art. 27 Basic Law möglicherweise eine Drittwirkung entfalten. Da noch keine höchstrichterliche Entscheidung hierzu vorliegt, muss im Wege der Auslegung ermittelt werden, ob und wie eine Ausstrahlungswirkung zu begründen wäre. Eine unmittelbare Drittwirkung zwischen Privatparteien muss ausgeschlossen werden, weil sie im Wortlaut des Basic Law nicht vorgesehen ist. Für eine Ausstrahlungswirkung via den Umweg der Rechtsanwendung würde sprechen, dass die Gerichte gemäß Art. 84 Basic Law wie die exekutive und legislative Gewalt an das Basic Law gebunden sind (anders als beispielsweise in Kanada, wo die Judikative explizit ausgeschlossen ist). Gemäß Art. 18 und 19 Basic Law sind die Gerichte außerdem verpflichtet, das Common Law in eine Richtung zu entwickeln, die den höchsten Schutz des Basic Law gewährleistet (vgl. Liu/Chan, 2016: ‘Horizontal effect’ of the Hong Kong Basic Law). Demzufolge könnten Gerichte zu dem Ergebnis kommen, dass die Meinungs- und Versammlungsfreiheit zwischen Privatparteien zu einem gewissen Maße wirkt – gerade wenn es sich um ein Forum handelt, wie es das BVerfG beschrieben hat. Gegen eine mittelbare Drittwirkung würden die bisherige (fehlende) Rechtsprechung und die Tatsache, dass für die Bejahung gemäß Art. 158 Basic Law auch eine Zustimmung des NPCSC erforderlich wäre (s.o.), sprechen.
Es wird sich in der kommenden Zeit herausstellen, ob die hier angestellten Überlegungen zum Grundrechtsschutz in Hongkong zukunftsfähig sind, denn umso mehr die Sonderverwaltungszone in das Rechtssystem der Volksrepublik inkorporiert wird, desto weniger Bedeutung wird das Basic Law haben. Die Gewaltenteilung und somit die Unabhängigkeit der Gerichte dürfte noch weniger als jetzt vorausgesetzt werden. Während die Lage immer weiter eskaliert, wird die Bedrohung für die Autonomie der Stadt einschließlich des Freiheitsschutzes immer greifbarer.
Zitiervorschlag: Heldt, Amélie, Der Flughafen als Ort des Protests: Schutz der Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Hongkong?, JuWissBlog Nr. 82/2019 v. 15.8.2019, https://www.juwiss.de/82-2019/
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.