von RAHEL SCHWARZ
Am 31. Januar 2025 wurden im Deutschen Bundestag zwei Anträge der AfD-Fraktion beraten. Ersterer wendet sich gegen die Tätigkeit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zur Sexualaufklärung, zweiterer gegen geschlechtsangleichende medizinische Eingriffe bei Kindern und Jugendlichen. Die Anträge sind Teil der etablierten rechtspopulistischen Strategie des reproductive backsliding, weil sie auf die Einschränkung der Rechte auf sexuelle Selbstbestimmung und Aufklärung von Kindern und Jugendlichen abzielen. Dass Forderungen aus dem ersten Antrag gegen diese verfassungsrechtlich verbürgten Rechte verstoßen, thematisiert dieser Beitrag.
Der Auftrag der BZgA zur Sexualaufklärung
Die BZgA, jüngst in Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit umbenannt, ist eine obere Bundesbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Gemäß ihrem Leitbild entwickelt sie als Fachbehörde für Prävention und Gesundheitsförderung dazu Strategien, die sie in „Kampagnen, Programmen und Projekten“ realisiert. Einer ihrer Schwerpunkte ist die Sexualaufklärung.
Nach § 1 I des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (SchKG) ist der BZgA der Auftrag erteilt, „Konzepte zur Sexualaufklärung, jeweils abgestimmt auf die verschiedenen Alters- und Personengruppen“ zu erstellen. Dies geschieht unter Beteiligung der Länder und in Zusammenarbeit mit Vertreter:innen der Familienberatungseinrichtungen aller Träger. Dieser Auftrag wird in einem Rahmenkonzept zur Sexualaufklärung konkretisiert. Dieses beruht auf einem „umfassenden“ Sexualitäts-Begriff, der zusätzlich zu biologischen auch psychosoziale und emotionale Facetten der Sexualität einschließt. Folglich wird Sexualaufklärung darin ganzheitlich, also nicht nur als Wissensvermittlung zur Biologie und Verhütung, verstanden.
Die BzgA verbreitet zudem gem. § 1 II SchKG zwecks gesundheitlicher Vorsorge und der Vermeidung und Lösung von Schwangerschaftskonflikten bundeseinheitliche Aufklärungsmaterialien, die Verhütungsmethoden und Verhütungsmittel umfassend darstellen. Nach § 1 III SchKG werden diese z.B. an schulische und berufsbildende Einrichtungen sowie Institutionen der Jugend-und Bildungsarbeit als „Lehr-und Informationsmaterial“ abgegeben.
Um ihrem Auftrag nachzukommen, betreibt die BZgA u.a. (partizipative) Forschung und Qualitätssicherung, erstellt Medienpakete zu verschiedenen Themen, ruft bundesweite Schulprojekte ins Leben und ist auch international tätig. Ein bedeutendes Beispiel für die internationale Tätigkeit sind die Standards für Sexualaufklärung in Europa, die durch das WHO-Regionalbüro für Europa, die BZgA und neunzehn Expert:innen aus verschiedenen Ländern entwickelt wurden.
Der Kampf der AfD gegen die Sexualaufklärung
In ihrem Antrag fordert die AfD-Fraktion dazu auf, „die BZgA/WHO-Standards für die Sexualaufklärung aufgrund ihres Ansatzes, nämlich, dass Kinder sexuelle Wesen von Geburt an seien, zurückzuweisen und ihre Verbreitung über die BZgA einzustellen“. Eingestellt werden soll auch die Verbreitung „aller auf dieser Grundlage erstellten Informationsbroschüren“.
Die damit in Bezug genommenen Standards für Sexualaufklärung für Europa treten, basierend auf einem umfassenden Verständnis von Sexualität, für eine ganzheitliche Sexualaufklärung ein. Dabei wird allerdings kindliche und erwachsene Sexualität keineswegs gleichgesetzt. Im Fokus steht die entwicklungsgerechte Vermittlung von „unvoreingenommene[n] und wissenschaftlich korrekte[n] Informationen zu sämtlichen Aspekten der Sexualität“. Gleichzeitig soll die Kompetenz zur entsprechenden Nutzung dieser Informationen vermittelt werden. Dadurch soll Kindern nach den Grundsätzen und Zielen der Standards zu einer sie vor Risiken und Missbrauch schützenden, selbstbestimmten Sexualität und selbstbestimmten Beziehungen verholfen werden. Tatsächlich wird dabei „bewusst“ davon ausgegangen, dass „[a]lle Menschen als sexuelle Wesen geboren“ werden, die „ihr sexuelles Potenzial in der ein oder anderen Art und Weise entwickeln“.
Die AfD-Fraktion vertritt in ihrem Antrag hingegen, dass die „Sexualität des Menschen erst mit der Geschlechtsreife beginnt“. Vor deren Erlangen sei selbstbestimmtes Handeln hinsichtlich der Sexualität unmöglich. Sie fordert, „die Förderung der derzeitigen frühkindlichen Aufklärung von 0 bis 13 Jahren bundesweit an Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen unter dem Deckmantel der Vielfalt im Rahmen einer Bund-Länder-Vereinbarung nach Artikel 91b GG einzustellen […]“. Aus der Antragsbegründung ergibt sich, dass sich diese Forderung auf „jegliche Durchführung, Finanzierung und Verbreitung frühkindlicher Sexualaufklärung (bis zum 13 Lebensjahr)“ bezieht.
Narrativ der „Frühsexualisierung“
Der Antrag reiht sich in frühere und aktuelle Forderungen der AfD ein, die sich gegen eine vermeintliche „Frühsexualisierung“, auch durch die BZgA, richten. In ihrem Grundsatzprogramm fordert die AfD ein „Nein zu ‚Gender-Mainstreaming‘ und Frühsexualisierung“ und auch das aktuelle Wahlprogramm erklärt den „Trans-Gender-Hype“ und die „Frühsexualisierung“ zu einer Gefahr für Familien. Darin steht außerdem, dass es „keine Indoktrination von Kindern und Jugendlichen durch Trans-Kult, Frühsexualisierung und Genderideologie geben“ dürfe und dass „[j]ede staatliche Förderung dafür“ eingestellt werden müsse.
Die Fraktion verfolgt das Ziel, die Sexualaufklärung grundlegend nach ihren ideologischen Vorstellungen zur sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität, Geschlechterrollen und zur heteronormativen, traditionellen Familie zu verändern. Diese politische Agenda negiert wissenschaftliche Erkenntnisse über die Bedeutung ganzheitlicher Sexualaufklärung, auch hinsichtlich der Reduzierung sexuellen Missbrauchs. Zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen stellt sie Sexualaufklärung als „Frühsexualisierung“ und damit als „Bedrohung von außen“ sowie sich selbst als Beschützer der Kinder dar.
Kinder-und Jugendschutz? Nein, Verfassungsverstoß!
Diese Forderungen stehen im Widerspruch zu verfassungsrechtlich verbürgten Rechten. Das betrifft das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und das davon umfasste Recht auf sexuelle Bildung. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ist nach dem Bundesverfassungsgericht eine Ausprägung des Rechts auf freie Persönlichkeitsentfaltung gem. Art. 2 I GG. Träger:innen dieses Rechts sind auch Kinder und Jugendliche. Laut Valentiner schließt dieses ein, dass sich Menschen zu sexuell selbstbestimmt handelnden Personen entwickeln können (S. 393).
An eben dieser Stelle setzt das Recht auf sexuelle Bildung an (dazu grundlegend ebd., S.393 ff.), welche grundlegende Voraussetzung für diese Entwicklung und schließlich ein sexuell selbstbestimmtes Leben ist. Dahingehend sei nach verfassungsrechtlichen Maßstäben eine Wissensvermittlung geboten, die „selbstbestimmtes Entscheiden und Handeln ermöglicht, sowie empowernde Begleitung der Ausbildung und Förderung von Selbstkompetenzen“ (Ebd., S. 417). Sie muss zur Ermöglichung des von Art. 2 I GG garantierten Entwicklungsprozesses entgegen der Forderung der AfD auch zwischen 0 und 13 Jahren stattfinden. Andernfalls würde nämlich Heranwachsenden verwehrt, im Laufe ihres Aufwachsens entwicklungsgerecht an (ihre) Sexualität herangeführt zu werden. Stattdessen würden sie, ausgehend davon, dass Sexualität mit der Geschlechtsreife beginnt, in Abhängigkeit von biologischen Prozessen mit ihr konfrontiert.
Seiner Verantwortung auf Gewährleistung des Rechts auf sexuelle Bildung komme der Staat, so Valentiner, durch schulische Sexualaufklärung, aber auch durch für die Allgemeinheit und diskriminierungsfrei zugängliche Angebote zur Bildung, Information und Beratung nach (Ebd., S. 398) Davon umfasst ist auch der dargestellte Auftrag der BZgA. Die Erfüllung dieses Auftrags habe „unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Grundsätze konsensualer Sexualitäten, der sexuellen Selbstbestimmung, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Nichtdiskriminierung“ zu erfolgen (Ebd., S. 399). Beschrieben ist damit auch hier eine sexuelle Bildung, die als ganzheitlich bezeichnet werden kann. Das spricht für die durch die BZgA vertretene Sexualaufklärung.
Hinzukommt, dass der Staat die sexuelle Selbstbestimmung gem. Art. 2 II 1, 2 i.V.m. Art. 1 I 2 GG zu schützen hat – vor allem auch vor sexualisierter Gewalt. Die Sexualaufklärung der BZgA kann dazu einen Beitrag leisten. Um ein effektives präventives Instrument zu sein, muss sie aber frühzeitig beginnen. Nach den Standards für Sexualaufklärung für Europa beginnt sie mit der Geburt, und zwar entwicklungsgerecht im Rahmen der bzw. als allgemeine(n) Sozialerziehung. Grund dafür ist, dass Kinder dann von Anfang an eine „positive Einstellungen zu [ihren] Körper[n] entwickeln und entsprechende Kommunikationsfähigkeiten erlernen […]. Gleichzeitig wird dem [jeweiligen] Kind vermittelt, dass es individuelle Grenzen und soziale Regeln gibt, die einzuhalten sind […]. Noch wichtiger allerdings ist, dass das Kind lernt, seine eigenen Grenzen zu erkennen und zu benennen“. Fordert die AfD eine Zurückweisung dieser Sexualaufklärung und deren Einstellung, nimmt sie in Kauf, dass das nicht mehr (rechtzeitig) erlernt wird.
Die AfD will amerikanische Verhältnisse
Beide Anträge wurden in den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesen. Geht es nach der AfD, dann herrschen in Deutschland bald amerikanische Verhältnisse. Beatrix von Storch bezog sich nämlich in der zu beiden Anträgen geführten Plenardebatte auf die Executive Order „Protecting Children From Chemical and Surgical Mutilation“ von Präsident Trump vom 28.01.2025. Laut Plenarprotokoll forderte sie auch die kommende Bundesregierung auf, es dem Präsidenten gleich zu tun, der nun „Gott sei Dank“ wieder im Amt sei. Mit ihm, aber auch mit der AfD ginge „[d]er woke Wahnsinn […] jetzt langsam zu Ende“. Doch auch zu der Executive Order ist das letzte Wort noch nicht gesprochen: Gegen diese wird bereits durch Betroffene sowie Generalstaatsanwält:innen geklagt und eine einstweilige Verfügung wurde erlassen. In jedem Fall muss uns der Blick in die USA eine Mahnung sein. Gleichzeitig ist es überfällig zu erkennen, dass hier bestimmte Kräfte bereits denselben Weg beschreiten.
Ich danke Prof. Dr. Mehrdad Payandeh, Katia Hamann, Jakob Härterich und Parissa Rahimian für wertvolle Anmerkungen.
Zitiervorschlag: Schwarz, Rahel, Umfassende Sexualaufklärung, wie von der Verfassung geboten? Nicht mit der AfD!, JuWissBlog Nr. 19/2025 v. 25.02.2025, https://www.juwiss.de/18-2025/
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