Seit über einem Jahr ist Stephan Harbarth Richter am BVerfG, nachdem er zuvor eine wichtige Figur der CDU/CSU-Fraktion und erfolgreicher Rechtsanwalt war. Um seine Berufung gab es einen Streit über die Wahl von Politikern*innen ans BVerfG. In einem aktuellen Verfahren werden nun die Auswirkungen dieses Seitenwechsels offensichtlich.
Der Erste Senat hat aufgrund einer Vorlage des BGH derzeit zu entscheiden, ob die in Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB angeordnete Nichtigkeit von ausländischen Kinder-Ehen mit der Verfassung vereinbar ist, da sie keine Einzelfallprüfung vorsieht. Harbarth selbst hat nun die Frage angestoßen, ob er aufgrund seiner früheren politischen Tätigkeit nach § 19 BVerfGG befangen sein könnte. Er war maßgeblich im Gesetzgebungsprozess für die CDU/CSU beteiligt und positionierte sich öffentlich.
Kein Ausschluss …
Der Senat stellt fest, dass Harbarth nicht kraft Gesetzes (§ 18 BVerfGG) vom Verfahren ausgeschlossen ist (Rn. 6 ff.): Eine ausschließende Tätigkeit „in derselben Sache“ (§ 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG) liege nicht vor, da § 18 Abs. 3 Nr. 1 BVerfGG explizit die „Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren“ ausklammere. Das BVerfG zählt dazu die „Beteiligung an Beratungen und Abstimmungen im Plenum, ebenso wie für die Arbeit in den Ausschüssen“ und auch das „Werben für eine gesetzliche“ Regelung (Rn. 12). Diese Auslegung entspricht der ständigen Rechtsprechung des BVerfG und ist auch überzeugend.
… aber Befangenheit?
Die deutlich kompliziertere Rechtsfrage ist, ob Harbarth im konkreten Verfahren wegen der Besorgnis der Befangenheit von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen ist (§ 19 BVerfGG). Dies setzt nach ständiger Rechtsprechung „einen Grund voraus, der geeignet ist, Zweifel an seiner Unparteilichkeit zu rechtfertigen“ (Rn. 15). Entscheidend sei dabei nicht, ob der Richter sich selbst für befangen hält, sondern „allein, ob bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass besteht, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln“. Es soll bereits ein „böser Schein“ verhindert werden (Rn. 15). Bei einem Zusammenhang mit der Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahrens entstehe ein böser Schein erst, „wenn das konkrete Verhalten des betroffenen Richters (…) bei vernünftiger Würdigung auf eine verfassungsrechtliche Vorfestlegung schließen lässt.“ (Rn. 25). Harbarth habe hier seine Unterstützung für das verabschiedete Modell „allein mit rechtspolitischen Argumenten“ begründet; seine Beiträge „stützten sich nicht auf verfassungsrechtliche Erwägungen, die im anhängigen Verfahren (…) bedeutsam sein könnten“ (Rn. 26).
Kontext: Der BGH hat ein Verfahren ausgesetzt und ist der Ansicht, dass die Neuregelung verfassungswidrig ist (insbesondere wegen Art. 6 Abs. 1 GG), da keine Einzelfallprüfung vorgesehen sei. Im Gesetzgebungsverfahren, an dem Harbarth beteiligt war, wurden andere als das nun geltende Modell diskutiert: Harbarth sprach sich für das „Aufhebungsmodell“ aus (siehe BT-Plenarprotokoll 18/232, S. 23468 sowie ein von ihm verfasstes Papier der CDU/CSU), plädierte also gegen die automatische Nichtigkeit der Kinder-Ehen. Letztlich wurde sich in der Koalition auf einen „Kompromiss“ geeinigt – eben jene strengere Regelung. Harbarth führte dazu im Plenum des Bundestags aus: „Ich persönlich halte das Aufhebungsmodell für das rechtspolitisch beste Modell. Weil aber beide Modelle besser sind als die gegenwärtige Rechtslage, haben wir uns in der Koalition, in den beiden Koalitionsfraktionen einvernehmlich auf diesen Kompromiss verständigt.“ Harbarth trug den Kompromiss also ausdrücklich mit.
Der Senat ist nun mehrheitlich der Ansicht, dass Harbarth zwar „in seinen früheren Äußerungen auf Verfassungsrecht Bezug nahm“, er aber lediglich ausgedrückt habe, dass es allgemein einer „Neuregelung“ bedürfe: „Eine verfassungsrechtliche Bewertung der verschiedenen Regelungsmodelle ist hingegen nicht erkennbar“ (Rn. 26). Diese Argumentation kann nicht überzeugen. Harbarth präferierte zwar ein Regulierungsmodell, letztlich hielt er aber beide Optionen für verfassungsrechtlich zulässig, ansonsten hätte er als exzellenter Jurist dem (strengeren) Kompromiss nicht zugestimmt. Daher kann es nicht darauf ankommen, welchen Regulierungsvorschlag Harbarth bevorzugte.
In einem zweiten Schritt stellt der Senat fest, dass Harbarth seine Ablehnung der Kinder-Ehen mit „rechtspolitischen Argumenten“ begründet habe (Rn. 26). Diese Auslegung ist nicht haltbar: Bereits in einem FAZ-Artikel vor der Verabschiedung des Gesetzes schrieb Harbarth als Mit-Autor:
„Kinderehen sind dabei besonders problematisch. Neben den Fundamentalwerten des Kindeswohls und der Geschlechtergleichbehandlung verletzen sie auch das sittliche Anstandsgefühl: Eine Gesellschaft gibt sich Regeln, die auf einer gemeinsamen Wertüberzeugung beruhen.“
In der schon angesprochenen Bundestagsdebatte sagte er:
„Damit in einem vergleichsweise kleinen Land wie Deutschland 80 Millionen Menschen (…) weitgehend friedlich und konfliktfrei miteinander leben, müssen für alle die gleichen Regeln gelten. Das kann nur die Rechts- und Werteordnung der Bundesrepublik Deutschland sein.“
Und im von ihm maßgeblich verfassten CDU-Papier heißt es:
„Jeder hat ein Recht auf ein individuelles, selbstbestimmtes Leben. Dies ist elementarer Bestandteil unserer Rechts- und Werteordnung. Deshalb müssen wir auch den Menschen, die nach Deutschland kommen, deutlich machen: Bei uns gelten die Maßstäbe des Grundgesetzes und unsere Werte, nicht die der Scharia.“
Diese grundsätzliche Argumentation lässt sich erstens als Rechtfertigung für beide Regulierungsoptionen heranziehen. Zudem sind die – natürlich auch politischen – Themen wie Kindeswohl und Geschlechtergleichbehandlung unbestreitbar verfassungsrechtliche Güter (Art. 6, Art. 3 Abs. 3 und 2) und werden auch als verfassungsrechtliche Argumente gelesen. Wer als Jurist über die „Maßstäbe des Grundgesetzes“ spricht, argumentiert nicht (auch) verfassungsrechtlich? Verfassungsrecht und Rechtspolitik lassen sich nicht derart klar trennen und das weiß niemand besser als die Richtermannschaft aus Karlsruhe.
Entscheidung mit Gegenstimmen
Besonders interessant an der Entscheidung ist, dass am Ende die Mitteilung gemacht wird, die Entscheidung sei „mit Gegenstimmen“ ergangen (Rn. 30). Von den sieben übrig gebliebenen Richtern*innen sind also mindestens zwei anderer Ansicht. Dies ist von besonderer Bedeutung, da das BVerfG zur Veröffentlichung von Abstimmungsergebnissen nicht verpflichtet ist (§ 30 Abs. 2 S. 2 BVerfGG). Mangels anderweitiger Regelungen entscheidet der Senat über diese Mitteilung nach dem Mehrheitsprinzip, § 15 Abs. 4 S. 2 BVerfGG, und damit immer mit einer bestimmten Motivation. Dass der Senat diese Option zog, lässt eine stärkere interne Diskussion vermuten, über die nicht totales Stillschweigen gelegt werden sollte. In diesem Fall stellt sich zudem die Frage, ob die Mitteilung des Abstimmungsergebnisses nicht inhaltliche Auswirkungen haben könnte:[1] Reicht es für einen „bösen Schein“, eine „Besorgnis“ nicht bereits aus, wenn mindestens zwei Richter*innen des Senats die Befangenheit angenommen haben? Die Schlusspointe dieser Episode ist, dass Harbarth sich vor kurzem positiv gegenüber der Strategie der einstimmigen Entscheidung geäußert hat …
Ex-Politiker*innen als Richter*innen
Die Entscheidung offenbart die Schwierigkeiten, die mit der Richter-Berufung von Politikern*innen einhergehen. Die Ablehnung seiner Befangenheit ist zukunftsweisend, da diese Frage noch in diversen zukünftigen Verfahren eine Rolle spielen könnte. Harbarth ist zudem Vizepräsident und bald sogar Präsident des BVerfG. Einen an mehreren Entscheidungen nicht beteiligten Präsidenten und Senatsvorsitzenden mag man sich – aller Beteuerungen des primus inter pares zum Trotz – in Karlsruhe sicher nicht wünschen. Die Vorkehrungen dafür wurden nun getroffen: Nach den entwickelten Maßstäben dürfte seine Befangenheit wegen seiner politischen Karriere nur schwer zu begründen sein. Gänzlich überzeugen kann das weder den kritischen Beobachter, noch alle Mitglieder*innen des Ersten Senats.
[1] Darauf wies Dr. Timo Schwander hin.
Zitiervorschlag: Matthias K. Klatt, Über die personelle und inhaltliche Verzahnung von Politik und Verfassungsrecht, JuWissBlog Nr. 3/2020 v. 21.1.2020, https://www.juwiss.de/3-2020/
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