von TJORBEN STUDT
Das LG Berlin I hat jüngst einen Arzt, der einer an Depression erkrankten Studentin Suizidassistenz geleistet hatte, wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft verurteilt. Diese Entscheidung verdeutlicht einmal mehr die Konsequenzen der Untätigkeit des Gesetzgebers zur Regelung der Suizidassistenz. Die Nichtregelung lässt Suizidwillige und suizidassistenzleistende Personen alleine und kann zu einer strafrechtlichen Verurteilung letzterer führen. Die Problematik und Verfassungswidrigkeit einer derartigen Entscheidungspraxis sollen im Folgenden allgemein umrissen werden.
Der Fall des LG Berlin I
Dem Urteil des LG Berlin I lag laut der ausführlichen Berichterstattung zusammengefasst folgender Sachverhalt zu Grunde:
Eine seit 16 Jahren an Depression erkrankte Studentin trat an den angeklagten Arzt heran und offenbarte ihm, dass sie sich bereits mehrfach erfolglos versucht habe umzubringen und weitere Behandlungsoptionen ablehne und sterben wolle.
Nach einem eineinhalbstündigen Gespräch des Angeklagten mit der Studentin stellte er ihr tödlich wirkende Tabletten zur Verfügung. Der daraufhin erfolgte Selbsttötungsversuch blieb jedoch wegen Erbrechens der Tabletten erfolglos. Daraufhin wurde sie gegen ihren Willen in ein psychiatrisches Krankenhaus gebracht und kontaktierte noch dort den Angeklagten erneut mit der Bitte, sich durch seine Hilfe töten zu können. Nach etwa 2 Wochen wurde sie gegen den ärztlichen Rat vorzeitig entlassen und begab sich unmittelbar in ein zuvor von ihr reserviertes Hotelzimmer. Dort startete sie selbst eine zuvor vom Angeklagten auf ihre Bitte hin gelegte Infusion mit einem tödlichen wirkenden Medikament und verstarb daraufhin.
Die Entscheidung des Gerichts
Das LG Berlin I verurteilte den Angeklagten wegen Totschlages in mittelbarer Täterschaft für den zweiten – letztendlich erfolgreichen – Suizid. Bezüglich des ersten Suizidversuchs sprach das Gericht den Angeklagten frei.
Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass es an der erforderlichen Freiverantwortlichkeit mangels Festigkeit des Selbsttötungsentschlusses gefehlt habe. Dafür stützte es sich im Wesentlichen auf im Prozess verlesen Nachrichten, welche der Angeklagten mit der Studentin gewechselt hatte. Diese waren zwar überwiegend von der Entscheidung zum Suizid geprägt. Es fanden sich aber auch Nachrichten, die das Gericht als Zeichen einer ambivalenten Einstellung zum Sterben wertete.
Die Beurteilung der Freiverantwortlichkeit
Diese Argumentation ist höchst problematisch. Im Zweifel setzt sie sich über den tatsächlichen Willen des/der Suizidwilligen hinweg und überdehnt die Kriterien für die Freiverantwortlichkeit.
Der Bundesgerichtshof hat insoweit ausgeführt, dass eine notwendige Bedingung der Strafbarkeit in mittelbarer Täterschaft bei Selbsttötungen ein unfreies Handeln sei. Ein Selbsttötungsentschluss sei nicht freiverantwortlich, wenn dieser lediglich einer depressiven Augenblicksstimmung entspringe und somit keine bilanzierte Lebensentscheidung darstelle, die von innerer Festigkeit und Dauerhaftigkeit getragen sei. Die Notwendigkeit dieser Kriterien begründete das Bundesverfassungsgericht damit, dass evidenzbasiert davon ausgegangen werden kann, dass bei den meisten fehlgeschlagenen Suiziden eine Revidierung des Selbsttötungsentschlusses erfolgt. Das LG Berlin I scheint davon ausgehend eine depressive Augenblicksstimmung anzunehmen. Dies mag zwar im Hinblick auf die vom Gericht abgeleiteten lebensbejahenden Anhaltspunkten aus einigen wenigen Nachrichten der Studentin vertretbar – wenn auch nicht zwingend richtig (dazu sogleich) – erscheinen.
Insofern das Gericht jedoch das gerichtliche Sachverständigengutachten, welches die Freiverantwortlichkeit zwar als eingeschränkt, aber gegeben ansah, außer Acht lässt, wirft dies die Frage auf, ob damit mehr den vermeintlichen Moralvorstellungen des Gerichts Rechnung getragen wird als der höchstpersönlichen Lebensentscheidung der Suizidentin.
Dieser Eindruck drängt sich ebenso auf, wenn die Leidensgeschichte der Studentin in den Blick genommen wird – entspricht sie doch gerade der vom BVerfG für die Notwendigkeit des Ausschlusses einer ambivalenten Entscheidung zugrunde gelegten Revidierungsevidenz nicht im Sinne des LG Berlin I. Denn trotz des in Anwesenheit des Angeklagten fehlgeschlagenen Selbsttötungsversuchs und der vorangegangen selbstständigen Versuche sowie der langandauernden Erkrankung, verfolgte sie den Selbsttötungsentschluss letztlich weiter.
Eine Entscheidungspraxis – wie die des LG Berlin I – würde die verfassungsrechtliche Verankerung und Bedeutung des Rechts auf ein selbstbestimmtes Sterben gemäß Art. 2 I, 1 I GG verkennen, wonach „die Entscheidung, das eigene Leben zu beenden, […] von existenzieller Bedeutung für die Persönlichkeit eines Menschen [ist]. […] Der Entschluss betrifft Grundfragen menschlichen Daseins und berührt wie keine andere Entscheidung Identität und Individualität des Menschen.“
Die Erklärung des Gerichts, dass eine freie Entscheidung aufgrund einer Depression unmöglich sei, negiert schon von vornherein diese grundlegende Eigenschaft menschlicher Existenz, auch in der letzten Entscheidung über das eigene Leben frei zu sein.
Es wäre ebenfalls äußerst bedenklich, wenn die bloße Äußerung von möglicherweise lebensbejahenden Anhaltspunkten bereits als Ambivalenz ausgelegt würde. Denn ungeachtet eines bilanzierten Selbsttötungsentschlusses ist nicht auszuschließen, dass bei der Abwägungsentscheidung in Kenntnis aller Umstände auch lebensbejahende Aspekte geäußert werden. Dies könnte insbesondere in Gesprächen zur Begutachtung der Freiverantwortlichkeit dazu führen, dass eine vollumfängliche Offenheit nicht mehr gewährleistet werden kann. Zudem könnte eine potenzielle Bedeutungsverschiebung der geäußerten Ansichten eine tatsächliche Beurteilung der Freiverantwortlichkeit erschweren.
Medizinische Freiverantwortlichkeit ≠ juristische Freiverantwortlichkeit?
Es wäre ebenfalls im negativen Sinne bemerkenswert, wenn Gerichte der Argumentation der Staatsanwaltschaft zukünftig dahingehend folgen sollten, dass die medizinische Begrifflichkeit der Freiverantwortlichkeit im Gegensatz zur juristischen Dogmatik nicht maßgeblich sei. Dabei ist bereits unklar, worin der Unterschied zwischen medizinischer und juristischer Freiverantwortlichkeit liegen soll. Denn die juristischen Kriterien der Dauerhaftigkeit und Festigkeit des Selbsttötungsentschlusses sind gerade Ausprägung der tatsächlichen Beurteilung der Möglichkeit, einen freien Willen bilden zu können, und eine Augenblicksentscheidung zu vermeiden. Bei der medizinischen Beurteilung der Freiverantwortlichkeit wird diesen Kriterien gerade Ausdruck verliehen, wenn dort sachkundig ermittelt wird, ob der Selbsttötungsentschluss unter medizinischen Gesichtspunkten frei und damit unbeeinflusst von kurzfristigen Stimmungen gebildet werden konnte. Eine Person, die nach dieser Einschätzung als freiverantwortlich handelnd angesehen werden kann, kann nicht rechtlich unfrei sein.
Vor diesem Hintergrund erscheint die zuständige Staatsanwältin künstlich eine Unterscheidung im Begriff der Freiverantwortlichkeit herbeiführen zu wollen. Das Gericht hat zwar eigenständig die Beweismittel – und so auch das gerichtliche Sachverständigengutachten – gem. § 261 StPO zu würdigen, die Herbeiführung überkomplexer nichtexistierender Unterscheidungsparadoxa ist damit jedoch nicht verbunden.
Diese Argumentation birgt ansonsten das reale Risiko – wie sich an der Entscheidung des LG Berlin I zeigt – , dass psychisch kranke Personen von vornherein entmündigt werden, was einen Verstoß gegen Art. 2 I, 1 I GG darstellt.
Überdies kann diese Entwicklung angesichts der mangelnden Rechtssicherheit noch gravierendere Folgen haben. Denn selbst bei Anwendung aller Sorgfalt zur Feststellung des Vorliegens der Freiverantwortlichkeit des/der Suizidwilligen, könnten sich die Suizidassistenzleistenden nicht mehr hinreichend sicher sein, dass dieser festgestellte Wille auch in einer späteren Gerichtsverhandlung hinreichend Beachtung finden würde. Die tatsächliche Freiwilligkeit würde rechtlich überformt und zum rechtlichen Dogma beschränkt.
Ausblick
Der Fall des Berliner LG I demonstriert in eklatanter Weise die strafrechtlichen Risiken, die der Gesetzgeber durch die Nichtregelung der Suizidassistenz für diejenigen Personen, die eine solche Assistenz leisten, geschaffen hat. Diese strafrechtlichen Risiken für Suizidassistenzleistende können sich mittelbar auch negativ auf die Situation von Suizidwilligen auswirken, wenn diese ohne professionelle Hilfe in die Isolation und Einsamkeit getrieben werden.
Die Untätigkeit des Gesetzgebers erscheint vor dem Hintergrund des vom BVerfG formulierten existenzielle Rechts auf selbstbestimmtes Sterben unerklärlich. Die auf diese Untätigkeit folgende Rechtsprechung des LG Berlin I sowie die Argumentation der Staatsanwaltschaft sind höchst problematisch, da sie zu einer Entmündigung und im Zweifel zu einer Übergehung des freien Willens der Suizidenten führt.
Hinweis:
Wenn es Ihnen nicht gut geht, Ihre Gedanken um Suizid kreisen oder Sie sich traurig oder depressiv fühlen, versuchen Sie mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Die Telefonseelsorge ist kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Sie können diese anonym im Internet oder über die kostenlosen Hotlines 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 oder 116 123 kontaktieren.
Zitiervorschlag: Studt, Tjorben, Wenn der Wille unbeachtlich wird, JuWissBlog Nr. 29/2024 v. 16.05.2024, https://www.juwiss.de/29-2024/.
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