Politik, Wissenschaft, Richteramt – Spannungsfelder in Karlsruhe

von MATTHIAS K. KLATT

Richter werden vor allem aus den Hochschulen, Gerichten und der Politik an das BVerfG berufen. Berufe, in denen pointierte Stellungnahmen zu verfassungsrechtlich determinierten Bereichen dazugehören, können mit der auf Sachlichkeit und Objektivität ausgerichteten Rolle des Bundesverfassungsrichters kollidieren. Dabei sind vor allem zwei Richtertypen besonders „gefährdet“: Hochschullehrer und ehemalige Politiker. Das Gesetz behandelt diese Gruppen nicht gleich, während sich das BVerfG um einheitliche Anforderungen bemüht.

Ablehnung und Ausschluss

In einer aktuellen Entscheidung hat das BVerfG seinen Richter und ehemaligen Ministerpräsidenten des Saarlandes, Peter Müller, vom Verfahren über die Vereinbarkeit des § 217 StGB wegen der Besorgnis der Befangenheit ausgeschlossen. In einer Kanzelrede hatte sich Müller gegen aktive Sterbehilfe ausgesprochen und für die „Nichtverfügbarkeit des Lebens“ ausgesprochen. Später legte Müller einen Gesetzesentwurf vor, auf den beim aktuellen Gesetzgebungsprozess laut BVerfG immer wieder Bezug genommen worden war.

Grundsätzlich müssen hier zwei Institute getrennt werden: Nach § 18 BVerfGG sind Richter kraft Gesetz ausgeschlossen, wenn sie in derselben Sache von Amts oder Berufs wegen tätig gewesen sind oder an der Sache selbst im Sinne des Gesetzes beteiligt waren. Nach § 19 BVerfGG können Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden; hier ist der Gesetzeswortlaut deutlich weniger eindeutig und muss daher durch das BVerfG selbst konkretisiert werden. Voraussetzungen für die Anwendung von § 19 BVerfGG sind nach BVerfG ein Grund, der geeignet ist, Zweifel an der Unparteilichkeit zu rechtfertigen (Rn. 17). Explizit wird auf einen objektiven Maßstab abgestellt: Entscheidend sei nicht, ob der Richter tatsächlich parteilich oder befangen ist oder ob er sich selbst für befangen hält. Es genügt, dass bei „vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass besteht, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln“.

Wissenschaft und Politik als gefährdete Gruppen

Vor diesem Hintergrund erscheinen zwei Gruppen innerhalb des Gerichtes besonders „gefährdet“ für eine solche Befangenheitssituation: Hochschullehrer, die vor und während ihrer Tätigkeit über verfassungsrechtliche Fragen geschrieben und doziert haben. Und Politiker, die zwar aus Sicht des BVerfG im Gericht ausdrücklich „erwünscht“ seien (Rn. 18), sich in ihrer Laufbahn aber zu diversen Themen mit verfassungsrechtlichen Implikationen publikumswirksam geäußert haben.

Was Hochschullehrer angeht, gibt es eine ganz eigene Geschichte: In mehreren Entscheidungen bezüglich staatlicher Parteienfinanzierung hatte das BVerfG im Jahr 1966 den Richter Leibholz wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und damit vom Verfahren abgeschlossen (BVerfGE 20, 1 ff., 9 ff.). Dieser war selbst Professor und hatte auf einer Tagung der Staatsrechtslehrer zu einer in den Verfahren streitigen Frage sich in einer gewissen Weise positioniert. Zwar sei ein Nebeneinander der Ämter als Hochschullehrer und Bundesverfassungsrichter ausdrücklich möglich, doch gehe das Richteramt vor (BVerfGE 20, 1, 6). Zu der Geschichte gehört auch, dass Leibholz seine Äußerungen tätigte, als die mündliche Verhandlung bereits vor dem Senat stattgefunden hatte. Es handelte sich also um keine Meinung des Hochschullehrers im Vorfeld des Verfahrens (zur Gegenargumentation von Leibholz vgl. BVerfGE 20, 9, 12 f.). Angesichts der Tatsache, dass es damals keinen Ersatz für befangene Richter gab (BVerfGE 20, 1, 8 f.; heute vgl. § 19 Abs. 4 S. 1 BVerfGG), appelliert der Senat an die Richter „besonders sorgfältig darauf zu achten, keinen Grund für eine Ablehnung zu geben“ (BVerfGE 20, 1, 6). Eine vertrackte Situation, wenn man Hochschullehrer in großer Zahl an das BVerfG beruft, ihnen die Ausübung der Professur weiterhin gestattet, die Äußerungsfreiheit aber mit starken Konsequenzen verbunden sein kann. In der Folge führte der Gesetzgeber § 18 Abs. 3 Nr. 2 BVerfGG ein, nachdem eine „Äußerung einer wissenschaftlichen Meinung zu einer Rechtsfrage, die für das Verfahren bedeutsam sein kann“ nicht zu einem Ausschluss des Richters führt. Falscher Standort, ging es doch auch bei Leibholz eigentlich um eine Ablehnung wegen Befangenheit nach § 19 BVerfGG. Eine Ablehnung nach § 19 BVerfGG ist damit nach dem Gesetzeswortlaut für den Hochschullehrer ausdrücklich möglich, erscheint angesichts des deutlichen Wortlauts des § 18 BVerfGG und der korrespondierenden Stellung beider Normen kaum vertretbar. Diesen Zusammenhang stellt das BVerfG in der aktuellen Entscheidung selbst her (Rn. 20). Damit sind erstens Ausschluss und Ablehnung des Richters korrespondierende Institute und zweitens Wissenschaftler innerhalb des BVerfG besonders gut vor Ausschluss/Ablehnung geschützt.

Für Politiker gibt es im Gegensatz dazu keine derartige weite Spezialnorm, weder in § 18 noch in § 19 BVerfGG. Zwar ist ein Ausschluss nicht allein wegen der „Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren“ möglich, § 18 Abs. 3 Nr. 1 BVerfGG, womit beispielsweise ehemalige Abgeordnete oder Ministerialbeamte geschützt sind. Jedoch ist diese Ausnahme deutlich enger und gerade nicht auf die Äußerung einer politischen Meinung allgemein ausgerichtet. Ist eine „politische“ Meinung also noch „gefährdender“ als eine „wissenschaftliche“ Meinung? Verdient die politische Meinung nun also einen geringeren Schutz, wenn man ausdrücklich auch Politiker in das höchste Gericht heben möchte? Wohl auch vor diesem Hintergrund erhöht das Gericht die Anforderungen an die Besorgnis der Befangenheit von ehemaligen Politikern: Dass ein Richter zuvor „im Wettstreit unterschiedlicher politischer Auffassungen teilnahm“ genüge „für sich genommen nicht“ für eine Befangenheit (Rn. 18). Der Politiker müsse vielmehr eine „besonders enge Beziehung (…) zu dem zur verfassungsrechtlichen Prüfung anstehenden Gesetz geschaffen haben“ oder sich „in einer Weise inhaltlich klar positioniert“ haben, die das anhängige Verfahren „unmittelbar betrifft“ (Rn. 20). Im vorliegenden Fall sieht das Gericht diese strengen Voraussetzungen als gegeben an (Rn. 21-26): Grund dafür seien u.a. die weitgehend deckungsgleichen Gesetzesentwürfe. Während die Rechtsprechung des BVerfG also hohe Anforderungen ansetzt, offenbart die Gesetzeslage dagegen ein Verständnis von Verfassungsgerichtsbarkeit, dass auf reine/objektive/sachliche Wissenschaft in dem Irrglauben setzt, den politischen Diskurs dadurch fernzuhalten.

Der riskante Querverweis: Rottmann

Nicht unerwähnt bleiben dürfen Entscheidungen in der Sache Rottmann (1973), auf die sich das BVerfG auch heute noch bezieht (Rn. 18). Dort heißt es:

„Einem Gericht vom Rang des Bundesverfassungsgerichts und den Richtern gegenüber, die in einem besonderen Berufungsverfahren mit qualifizierter Mehrheit (…) von Bundestag und Bundesrat gewählt werden, besteht Anlaß, grundsätzlich davon auszugehen, daß sie jene innere Unabhängigkeit und Distanz zu den rechtssuchenden Parteien besitzen, die sie befähigen, in Unvoreingenommenheit und Objektivität auch in politisch heiß umstrittenen Verfahren zu entscheiden.“ (BVerfGE 35, 171, 173 f.; eigene Hervorhebungen)

Diese Aussagen blieben damals nicht unwidersprochen: Wand sprach sich in seinem Sondervotum strikt dagegen aus, im „Rang des Bundesverfassungsgerichts“ oder dem besonderen Verfahren der Richterwahl benutzbare Kriterien für die Befangenheit im Einzelfall zu entdecken. Er wendet sich insgesamt gegen „schärfere Anforderungen“ im Verfahren vor dem BVerfG im Gegensatz zur ordentlichen Gerichtsbarkeit (BVerfGE 35, 171, 175 fff.; zur Diskussion Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge-Klein, § 19 BVerfGG, Rn. 1 ff.). Die Kritik hat einiges für sich. Man könnte genauso gut argumentieren, dass ausgewiesene Verfassungsrechtler und ehemaliger Politiker, da sie an den freien Meinungskampf gewöhnt sind, gerade eher gefährdet sind, befangen zu erscheinen, als ein „normaler“ Berufsrichter, der sich nach dem 2. Staatsexamen für die Richterlaufbahn entscheidet. In jedem Fall sind diese Zeilen über eine gewisse Arroganz nicht völlig erhaben.

In der kürzlich veröffentlichten Entscheidung, die eine Ablehnung von Ferdinand Kirchhof vom Verfahren über den Rundfunkbeitrag zum Gegenstand hatte, finden sich viele der hier getroffenen Aussagen wieder. Dass Kirchhof nicht auszuschließen war, nur weil sein Bruder Paul damals ein bedeutendes Gutachten zum neuen Rundfunkbeitrag schrieb, ist eine Selbstverständlichkeit. Die Argumentation der Antragsteller, die Verfassungswidrigkeit des Rundfunkbeitrags hätte für Paul Kirchhof einen enormen Reputationsverlust zur Folge und könnte zu Schadensersatzansprüchen (!) der Rundfunkanstalten gegen ihn führen, weshalb er auch Beteiligter im Sinne von § 18 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG sei, könnte abwegiger nicht sein (Rn.6).

Zitiervorschlag: Klatt, Politik, Wissenschaft, Richteramt – Spannungsfelder in Karlsruhe, JuWissBlog Nr. 45/2018 v. 17.05.2018, https://www.juwiss.de/45-2018/

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