Mehr Abschiebungen, mehr irreguläre Migration? Was ist dran an den Aussagen der Kanzler(-kandidaten) Scholz und Merz?

von HANNAH FRANZ

Dieser Beitrag unterzieht die migrationsbezogenen Aussagen von Scholz und Merz im Kanzlerduell am 09.02.2025 einer Sachprüfung und setzt sie in Kontext.

Olaf Scholz bezeichnete seine Migrationspolitik als „hart [und] restriktiv“. Noch nie habe es schärfere Gesetze gegeben. Er habe Abschiebungen um 70 % gesteigert. In 2024 seien 20 000 Personen abgeschoben worden. Nach Maßnahmen zur Durchführung von Abschiebungen gefragt, äußert er, er habe dafür gesorgt, dass mehr Menschen in Abschiebungsgewahrsam und Abschiebungshaft genommen werden können. Insgesamt mögen diese Maßnahmen überraschen, hätte man dem Wahlprogramm der SPD aus dem Jahre 2021 noch eine andere Richtung zu Migrationsthemen entnehmen können. Dort hieß es:  „[Migration] macht uns als Gesellschaft reicher und bringt und voran. […] Für uns gilt weiterhin: Fluchtursachen bekämpfen, nicht Geflüchtete.

Jedenfalls Friedrich Merz erachtet die Maßnahmen der Ampel-Koalition als nicht ausreichend. Noch immer habe Deutschland in vier Tagen so viele Zuwanderer, wie in einem Monat abgeschoben würden. Auch liege die Zahl der irregulären Migranten in den drei Jahren von Scholz Amtszeit bei weit über 2 Millionen. In Bezug auf Abschiebungshaft äußert Merz, der im Februar 2024 einführte Pflichtanwalt (§ 62d AufenthG) ermögliche es den Betroffenen „alle Tricks auszuprobieren, um sich doch einer Abschiebung zu entziehen“.

Faktencheck: Abschiebungen

Aus Deutschland wurden im Jahr 2024 20 084 Personen abgeschoben. Inbegriffen sind Dublinüberstellungen. Setzt man die Zahlen aus 2024 mit dem Jahr vor Scholz Amtsübernahme (2020: 10 800 Abschiebungen) ins Verhältnis, beträgt die Erhöhung knapp 86 %. Aber ist eine Gegenüberstellung des Jahres 2024 mit dem Coronajahr 2020 überhaupt aussagekräftig? Pandemiebedingt (z.B. Arbeitsüberlastung der Behörden, eingestellte Flugverbindungen) wurden in diesen Jahren verhältnismäßig wenig Personen abgeschoben. Vergleicht man stattdessen mit dem Vor-Coronajahr 2019 (22 097 Abschiebungen) ist die Zahl der Abschiebungen um 9 % zurückgegangen.

Faktencheck: Irreguläre Einreisen

Immer wieder fällt das Schlagwort „irreguläre Einreise“. „Regulär“ reist ein, wer der EU-Freizügigkeit unterliegt, ein gültiges Visum hat oder wem eine visafreie Einreise erlaubt ist. „Irregulär“ eingereist sind somit Personen, die keinen gültigen Aufenthaltstitel besitzen. Stellt eine Person einen Asylantrag, erhält sie eine Aufenthaltsgestattung. Ihr Aufenthalt ist ab diesem Moment nicht mehr „irregulär“, die ursprüngliche Einreise bleibt „irregulär“. Damit sind vor allem Personen „irregulär“ eingereist, die einen Asylantrag gestellt haben; im Jahr 2024 229 751 Personen, im Jahr 2023 329 120 und im Jahr 2022 217 774. Insgesamt haben in den drei Jahren von Scholz‘ Amtszeit 776 645 Personen einen Asylantrag gestellt.  Auf die von Merz behaupteten 2 Millionen „irreguläre“ Einreisen käme man allenfalls, wenn man die rund 1,2 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine hinzuzählt. Ihre Einreise erfolgt allerdings über die Massenzustrom-Richtlinie, umgesetzt in § 24 AufenthG. Ukrainische Geflüchtete müssen keinen Asylantrag stellen. Sie erhalten automatisch einen Aufenthaltsstatus. Sie reisen folglich nicht „irregulär“ nach Deutschland ein.

Faktencheck: Verhältnis von Abschiebungen zu vollziehbar ausreisepflichtigen Personen

Nun zum Verhältnis der Anzahl an Abschiebungen zur Anzahl an Zuwanderern: Wandern alle vier Tage so viele Personen nach Deutschland zu, wie im Monat abgeschoben werden?

Lassen wir einmal „regulär“ zugewanderte Personen außen vor, sind im Jahr 2024 ca. 230 000 Personen „irregulär“ zugewandert (Anzahl der Asylanträge). In vier Tagen ergibt dies eine durchschnittliche „irreguläre“ Zuwanderung von ca. 2 500 Personen. Pro Monat wurden in Deutschland durchschnittlich im Jahr 2024 ca. 1 500 Personen abgeschoben. Innerhalb von vier Tagen werden somit durchschnittlich so viele (bzw. mehr) Asylanträge gestellt, wie Personen abgeschoben. Dieser Vergleich lässt jedoch außen vor, dass aus einer „irregulären“ Einreise ein „regulärer“ Aufenthalt erwachsen kann (z.B. im Asylverfahren, positiver Asylbescheid, Chancen-Aufenthaltsrecht). Es kann folglich nicht darum gehen, die zwangsweise Abwanderung mit der Zuwanderung in relative Verhältnisse zu setzen. Es kann allenfalls verglichen werden, wie viele der „unmittelbar ausreisepflichtigen“ Personen jährlich abgeschoben werden. Hierzu wäre zu ermitteln, wie viele Personen jährlich „unmittelbar ausreisepflichtig“ sind. Im Jahr 2024 waren 220 808 Personen in Deutschland vollziehbar ausreisepflichtig, z.B. auf Grund eines ablehnenden Asylbescheids, eines abgelaufenen Visums oder weil eine Duldung erteilt wurde. Personen sind geduldet, wenn sie aufgefordert das Land zu verlassen, sie aber aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht abgeschoben werden können. Sie sind daher nicht unmittelbar ausreisepflichtig. Etwa 81 % aller ausreisepflichtigen Personen (ca. 178 500) haben eine Duldung. Folglich waren im Jahr 2024 42 300 Personen unmittelbar ausreisepflichtig. Dieser Zahl stehen knapp halb so viele erfolgte Abschiebungen gegenüber.

Faktencheck: Ausreisegewahrsam und Abschiebungshaft

Abschließend sollen noch die Aussagen in Zusammenhang mit dem Ausreisegewahrsam und Abschiebungshaft einem Faktencheck unterzogen werden. Im Jahr 2019 waren ca. 5 261 Personen und im Jahr 2020 ca. 3 021 Personen in „Abschiebungshaft“ (gemeint ist Abschiebungshaft nach § 62 AufenthG, Dublinhaft nach Art. 28 Dublin-III-Verordnung i.V.m. § 2 Abs. 14 AufenthG und Ausreisegewahrsam (aka „Abschiebungsgewahrsam“) gem. § 62b AufenthG. Im ersten Kanzlerjahr von Scholz (2022) waren ca. 5 000 Personen in „Abschiebungshaft“. Aktuellere Zahlen liegen nicht vor.  Im Vergleich zum Coronajahr 2020 hat Scholz die Zahlen der Abschiebungshaft um gute 60 % erhöht. Auch hier ging die vergleichsweise geringe Anzahl an Inhaftierungen im Jahr 2020 auf die Pandemie zurück. Im Vergleich zum Vor-Coronajahr 2019 wurden im Jahr 2022 nicht mehr Menschen in Abschiebungshaft genommen.

Interessant ist des Weiteren der Kontext, in dem Scholz sich zur Abschiebungshaft äußert. Gefragt wurde nach Maßnahmen zur Durchführung von Abschiebungen. Die Inhaftierungszahlen allein können noch keinen Aufschluss darüber geben, inwieweit die Haft Abschiebungen fördert. Es muss betrachtet werden, wie viele Personen aus der Haft heraus abgeschoben wurden. Dies wird in Deutschland nicht erhoben. Ein Vergleich der absoluten Abschiebungszahlen mit den absoluten Abschiebungshaftzahlen zeigt, dass sich diese nicht proportional zueinander verändern. Sank die Abschiebungsquote zwischen 2019 (22 097 Abschiebungen) und 2022 (16 430 Abschiebungen) um 25,65 %, blieben die Inhaftierungen nahezu identisch. Die Haftquoten wirken sich folglich nicht erkennbar auf die Anzahl der durchgeführten Abschiebungen aus.

Die Äußerungen von Merz, der Pflichtanwalt für die Abschiebungshaft ermögliche es Betroffenen, sich mit „Tricks“ der Abschiebung zu entziehen, zeigt sein fehlendes Verständnis der Norm und des Sachzusammenhangs. § 62d AufenthG bestimmt: „Zur richterlichen Entscheidung über die Anordnung von Abschiebungshaft […] bestellt das Gericht dem Betroffenen, der noch keinen anwaltlichen Vertreter hat, von Amts wegen für die Dauer des Verfahrens einen anwaltlichen Vertreter als Bevollmächtigten.“ Der Pflichtanwalt ist somit im „Verfahren der Anordnung von Abschiebungshaft“, nicht im Rahmen des Abschiebungsverfahrens tätig. Auch kann ein Anwalt nur das Recht durchsetzen, welches dem Betroffenen nach der Gesetzeslage zusteht. Mit „Tricksen“ hat das freilich nichts zu tun.

Fazit

Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Aussagen von Scholz und Merz teilweise irreführend sind und nicht vollständig mit den Fakten übereinstimmen. Insbesondere wird bisweilen der Kontext nicht richtig beachtet, was die öffentliche Wahrnehmung verzerren kann. Es entsteht ein Bild, welches Migration einseitig als ein „zu lösendes Problem“ darstellt und Ängste schürt, anstatt sachlich zu informieren. Diese Art von Rhetorik trägt dazu bei, dass rechte Parteien und populistische Bewegungen Auftrieb erhalten. Eine fundierte, faktenbasierte Informationsbasis ist unerlässlich, damit Bürger:innen eine informierte, eigenständige und auf demokratischen Werten fußende Wahlentscheidung treffen können.

Zitiervorschlag: Franz, Hannah, Mehr Abschiebungen, mehr irreguläre Migration? Was ist dran an den Aussagen der Kanzler(-kandidaten) Scholz und Merz, JuWissBlog Nr. 18/2025 v. 20.02.2025, https://www.juwiss.de/18-2025/

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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Hannah Franz
    20. Februar 2025 13:56

    Noch ein paar Ergänzungen:
    Die Zahl der „irregulären“ Einreisen wurde im Beitrag anhand der Asylantragszahlen geschätzt, weil keine konkreten Zahlen vorliegen. Etwa die Bundespolizei erfasst nicht jeden „irregulären“ Grenzübertritt. Selbstverständlich können auch Personen, die zunächst regulär nach Deutschland eingereist sind (z.B. über Visum, als Studierende, Familiennachzug, auch Ukrainer:innen stellen manchmal nach ihrer Einreise über die Massenzustromsrichtlinie noch einen Asylantrag), später einen Asylantrag stellen.

    Auch Personen mit Duldung können theoretisch jederzeit abgeschoben werden, z.B. wenn Abschiebungsflüge wieder verfügbar sind, die Krankheit ausreichend behandelt wurde, die Schwangerschaft vorbei ist etc. Andersherum ist es bisweilen nicht möglich, „unmittelbar ausreisepflichtige“ Personen abzuschieben, z.B. weil eine Person (von den Behörden unbemerkt) schon wieder ausgereist ist oder weil die Person derzeit nur deshalb keine Duldung hat, weil diese z.B. nicht verlängert wurde, weil die Person zum entsprechenden Termin bei der Behörde nicht erschienen ist (ergo würde der Person ggf. eine neue Duldung ausgestellt, wenn sie wieder bei der Behörde auftaucht).

    Und wichtig: Die Kategorie „unmittelbar ausreisepflichtig“ ist eine statistische, keine rechtliche!

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