Ideen zur Zukunft des Spitzenkandidaten-Verfahrens nach der Wahl Ursula von der Leyens zur Kommissionspräsidentin
Als Ursula von der Leyen vom Europäischen Rat als Kandidatin für das Amt des Kommissionspräsidenten nominiert wurde, war vielerorts die Verwunderung groß; hatte das Europäische Parlament in seiner Kampagne zur Europawahl 2019 doch mehrfach betont, am Spitzenkandidaten-Verfahren festzuhalten. Trotz anfänglicher Empörung unter den MdEPs wurde von der Leyen, die nie als Spitzenkandidatin einer europäischen Parteienfamilie im Wahlkampf aufgetreten war, letztlich mit knapper Mehrheit zur Kommissionspräsidentin gewählt.
Obwohl ihre Wahl das Spitzenkandidaten-Verfahren überging, kündigte von der Leyen an, unter Mitwirkung von Europäischem Rat und Europäischem Parlament ein besseres Verfahren zu entwickeln und für die kommenden Wahlen zu etablieren. Tatsächlich erscheint die Beibehaltung einiger Elemente des Verfahrens, allerdings in abgewandelter Form, aus rechtspolitischen Gründen wünschenswert.
Politik: Was ist das Spitzenkandidaten-Verfahren und welche Vorteile bringt es?
Das im Vorfeld der Europawahl 2014 eingeführte Spitzenkandidaten-Verfahren beruht auf der Idee einer direkten Verknüpfung zwischen dem Ergebnis der Europawahlen und der Besetzung des Kommissionspräsidenten-Amtes. Die europäischen Parteienfamilien stellen dazu im Wahlkampf europaweite Spitzenkandidaten auf. Der Sieger, d.h. derjenige unter ihnen mit den besten Wahlaussichten – und kein anderer – soll dann vom Europäischen Rat vorgeschlagen und vom Europäischen Parlament zum Kommissionspräsidenten gewählt werden.
Hieran waren etliche Erwartungen geknüpft: Wählermobilisierung als Antwort auf stetig gesunkene Wahlbeteiligungen, Förderung eines europaweiten Diskurses, Stärkung der Legitimation von Europäischem Parlament und Kommission. Diese Ziele wurden bisher allerdings nur eingeschränkt erreicht. Dennoch hat das Spitzenkandidaten-Verfahren den großen Vorteil, dass so etwas mehr Transparenz in den viel kritisierten „Kuhhandel“ um europäische Spitzenposten gebracht werden kann. In einem „Europa der Bürger“, das sich immer wieder dem Vorwurf der Bürgerferne ausgesetzt sieht, ist eine derartig erhöhte Transparenz zweifellos zu begrüßen.
Recht: Was sagen die Verträge?
Dreh- und Angelpunkt der Einsetzung des Kommissionspräsidenten ist Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 EUV. Dort ist geregelt, dass der Europäische Rat nach Konsultationen mit dem Europäischen Parlament und unter Berücksichtigung des Europawahlergebnisses einen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten vorschlägt. Dieser Kandidat muss sich dann der Wahl durch das Europäische Parlament stellen.
Die Regelung stellt einen Kompromiss zwischen Befürwortern und Gegnern einer weitergehenden Parlamentarisierung der Union dar und wurde als solcher bewusst interpretationsoffen formuliert. Besonders das Gebot, bei der Kandidatenkür das Wahlergebnis zu berücksichtigen, sorgte für Diskussionen. Eine Mehrheit im Europäischen Parlament leitet hieraus das Spitzenkandidaten-Verfahren mit einem dahingehenden Automatismus ab, dass der Europäische Rat den siegreichen Spitzenkandidaten vorschlagen muss. Dies entfachte auch unter Juristen eine heftige Debatte und wurde teils als vertragskonform erachtet und begrüßt, teils aber auch als rechtswidrig abgelehnt.
Wenn auch mit dem Wortlaut vereinbar, steht diese Interpretation – m.E. recht eindeutig – nicht mit unionsrechtlichen Grundsätzen in Einklang. Schließlich weist der EUV das Vorschlagsrecht allein dem Europäischen Rat zu. Auch wenn dieser durch Berücksichtigungs- und Konsultationsgebote nicht völlig frei in seiner Entscheidung ist, verbleibt ihm demnach eine eigenständige politische Rolle bei der Auswahl eines geeigneten Kandidaten. Das zeigt sich nicht zuletzt durch die Betonung in Erklärung Nr. 11 zu Art. 17 Abs. 6 und 7 EUV, dass die Konsultationen zwischen Europäischem Rat und Europäischem Parlament lediglich „das Profil der Kandidaten“ betreffen sollen; die Auswahl der konkreten Person obliegt alleine dem Europäischen Rat.
Wenn sich das Europäische Parlament nun aber mehrheitlich hinter einen Spitzenkandidaten stellt und dessen Vorschlag fordert, wird eine Vorauswahl getroffen und damit die in den Verträgen vorgesehene Kompetenzverteilung zulasten des Europäischen Rats auf das Europäische Parlament verschoben. Europäischer Rat und Europäisches Parlament wären nicht mehr gleichrangige Akteure bei der Einsetzung des Kommissionspräsidenten. Dies führt zu einer, in diesem Ausmaß von den Verträgen nicht vorgesehenen, Parlamentarisierung und einen Eingriff in das institutionelle Gleichgewicht der Union.
Was aus nationaler Perspektive wie ein demokratischer Fortschritt erscheint, missachtet dabei zudem vollkommen das duale Legitimationsmodell der Union, nach dem die demokratische Legitimation der Union ja gerade sowohl von den EU-Bürgern, vermittelt durch das Europäische Parlament, als auch über die ihrerseits national legitimierten Regierungen der Mitgliedstaaten, vermittelt durch den Europäischen Rat und den Rat, abgeleitet wird.
In seiner aktuellen, einen Automatismus propagierenden Form stellt das Spitzenkandidaten-Verfahren daher ein über die Verträge hinausgehendes und insofern mit ihnen unvereinbares Vorgehen dar, das nur durch eine formelle Vertragsänderung institutionalisiert werden könnte – was derzeit aber kaum Aussicht auf Realisierung hat.
Rechtspolitik: Wie könnte eine vertragskonforme Anpassung aussehen?
Da die Grundidee einer stärkeren Beteiligung des Europäischen Parlaments und (indirekt) der Unionsbürger bei der Besetzung dieses wichtigen Amtes in Anbetracht der politischen Vorteile wünschenswert erscheint, sollte über eine vertragskonforme Anpassung des Spitzenkandidatenverfahrens nachgedacht werden. Es ist denkbar, das Europäische Parlament in den Prozess der Kandidatenauswahl einzubinden, ohne das Vorschlagsrecht des Europäischen Rates leerlaufen zu lassen. Erklärung Nr. 11 lässt ausdrücklich die Möglichkeit einer einvernehmlichen Festlegung der „Einzelheiten der Konsultationen“ durch Europäisches Parlament und Europäischen Rat offen, wodurch sich das Konsultationsstadium für eine interinstitutionelle Abrede dieser beiden Organe mit folgender Ausgestaltung anbieten würde:
Unter Beibehaltung des Beratungscharakters der Konsultationen könnte zunächst bereits vor einer Spitzenkandidaten-Nominierung ein allgemeiner Austausch zwischen Europäischem Rat und Europäischem Parlament hinsichtlich der gewünschten Eigenschaften und Qualifikationen der Kandidaten – insbesondere unter Berücksichtigung der Interessen kleinerer Mitgliedstaaten, die nach dem jetzigen Verfahren benachteiligt werden – vorgesehen werden.
Inhaltlich könnte eine Anpassung so aussehen, dass die europäischen Parteienfamilien dann im Vorfeld der Europawahlen nicht nur einen Spitzenkandidaten, sondern jeweils ein mehrköpfiges, multinationales Team aufstellen. Dieses könnte dem Europäischen Rat im Rahmen der Konsultationen als Liste vorgeschlagen werden, aus der dieser eine Auswahl treffen und den Kandidaten mit qualifizierter Mehrheit vorschlagen könnte. Bei Ablehnung aller Kandidaten müsste dem Europäischen Rat aber weiterhin die Möglichkeit bleiben, nach Beratung mit dem Europäischen Parlament mit qualifizierter Mehrheit gegen die gesamte Liste zu stimmen und einen eigenen Kandidaten vorzuschlagen, über den das Europäische Parlament dann im Zuge der Wahl entscheiden könnte. So wäre auch die anschließende Wahl durch das Europäische Parlament keine bloße Formalie.
Mit diesem Vorgehen blieben die politischen Vorteile, insbesondere die erhöhte Transparenz, erhalten, ohne das institutionelle Gleichgewicht unverhältnismäßig zu tangieren. Zudem hätte die Benennung multinationaler Spitzenkandidaten-Teams den Vorteil, den transnationalen Wettkampf durch die mögliche Sprachenvielfalt und den unterschiedlichen Bekanntheitsgrad der Listenmitglieder ankurbeln zu können. Bei Festlegung der Größe der Spitzenkandidaten-Teams müsste berücksichtigt werden, dass dem Europäischen Rat eine Auswahlmöglichkeit bliebe ohne aber den mit dem Spitzenkandidaten-Verfahren verfolgten Personifizierungseffekt zu gefährden.
Ist das realistisch?
Ob diese Vorschläge jedoch Zuspruch sowohl beim Europäischem Rat als auch beim Europäischem Parlament finden können, die diese Abmachung einvernehmlich treffen müssten, ist fraglich. Schließlich würde sie mit einer leichten Schwächung der Position des Europäischen Rates einhergehen – die dieser angesichts seines Sieges beim Kräftemessen mit dem Europäischen Parlament nicht ohne weiteres in Kauf nehmen dürfte. Soll das Spitzenkandidaten-Verfahren in Zukunft fortwirken, dürfte die Rolle der neuen Kommissionspräsidentin als Vermittlerin daher essentiell sein.
Zitiervorschlag: Natalia Loyola Daiqui, Spitzenkandidaten ade?, JuWissBlog Nr. 80/2019 v. 6.8.2019, https://www.juwiss.de/80-2019/
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.