Die Vorschläge des Europäischen Parlaments zur Änderung der Verträge

von ROBERT BÖTTNER

Als Follow-up zu den Vorschlägen der Konferenz zur Zukunft Europas aus dem Mai 2022 hat nun im November 2023 das Europäische Parlament einen umfangreichen Katalog an Änderungsvorschlägen vorgelegt. Neben einer Reihe kleinerer Anpassungen enthalten die Vorschläge tiefgreifende institutionelle und kompetenzielle Reformen. Im Zentrum steht natürlich die Stärkung des Parlaments selbst. Die Vorschläge sind weitreichend, greifen für eine echte und notwendige Reform der Union aber nicht alle Punkte auf.

Spätestens seit 2015 wird in der EU im Nachhall der Finanz- und Wirtschaftskrise verstärkt über institutionelle Reformen diskutiert (z.B. der „Five Presidents Report“). Teilweise sind solche Reformen bereits völkerrechtlich (ESM) oder sekundärrechtlich (Bankenunion) umgesetzt worden. Seit einigen Jahren widmet sich auch das Europäische Parlament verstärkt den Fragen, welche primärrechtlichen Änderungen einerseits notwendig sind und welches Integrationspotenzial andererseits in den bestehenden Verträgen noch ausgeschöpft werden kann (etwa hier, hier und hier). Diese gehen dabei über den Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion klar hinaus. Mit der Konferenz zur Zukunft Europas (CoFE) wurden in einem bislang einmaligen Beteiligungsprozess Vorschläge gesammelt wie Europa und die Europäische Union (anders) gestaltet werden können. Der Abschlussbericht aus Mai 2022 enthält 49 größere Vorschläge mit allgemeinen Zielen und über 300 konkreten Aufträgen für die EU-Organe. Die meisten können unter den bestehenden Verträgen umgesetzt werden, worauf auch die Kommission in ihrer Bewertung hinweist. Das Europäische Parlament greift nun diejenigen Punkte auf, die eine Änderung des Primärrechts verlangen, und legte dazu im November 2023 einen Entwurf für Änderungen der Verträge i.S.v. Art. 48 Abs. 2 EUV vor, die explizit auch dazu dienen sollen, die Union für weitere Beitritte zu ertüchtigen.

Institutionelle Reformen

Einerseits schlägt das Parlament einen massiven institutionellen Umbau vor. Durch eine Stärkung des Parlaments selbst und die Abschaffung der vom Europäischen Rat festgelegten Ministerratsformationen soll ein echtes Zweikammersystem auf Unionsebene etabliert werden. Dazu gehört auch ein schon seit langem gefordertes (und kontrovers diskutiertes) legislatives Initiativrecht für das Parlament; dem Rat als zweiter Kammer bzw. den Mitgliedstaaten soll ein solches Recht nicht eingeräumt werden. Ein Initiativrecht für das Parlament wird oft als Argument für eine erhöhte demokratische Legitimation angebracht. Tatsächlich aber würde es das institutionelle Gleichgewicht und die Rolle der Kommission empfindlich beeinflussen.

Die Kommission (nunmehr „Exekutive“) und ihr Präsident (nunmehr „Präsident der Europäischen Union“) sollen eine prominentere Rolle einnehmen, indem diejenige des Präsidenten des Europäischen Rates beschnitten wird. Damit soll gleichzeitig die in der Vergangenheit zunehmende mittelbare Entscheidungsgewalt des Europäischen Rates auf die im Vertrag vorgesehene Rolle als Impulsgeber zurückgeschnitten werden. Gewählt werden soll der Kommissionspräsident fortan durch den Europäischen Rat, allerdings fordert das Parlament dafür ein Vorschlagsrecht, womit dem Ziel, den Ergebnissen der Europawahl politisch Rechnung zu tragen, besser entsprochen werden kann. Damit wird stärker als jetzt die Kommission an das Parlament rückgebunden. Hinzukommen soll die Möglichkeit eines (indirekten) individuellen Misstrauensvotums gegen einzelne Kommissare statt zwingend gegen die Kommission als Ganze.

Vom Verfassungsausschuss vorgeschlagen, aber in der Entschließung des Parlaments nicht mehr enthalten, ist eine vertraglich fixierte Verkleinerung der Kommission auf 15 Mitglieder. Eine solche Festlegung wäre zwar wünschenswert, ist insofern aber verzichtbar, als Artikel 17 Abs. 5 EUV bereits regelt, dass der Europäische Rat durch einstimmigen Beschluss die Kommission verkleinern kann. Als primärrechtlich zwingender Kommissar („Minister“) soll neben dem Hohen Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik ein „Minister für wirtschaftspolitische Steuerung“ einzusetzen sein. Dessen Rolle wird indes nicht weiter spezifiziert. Eine Umsetzung wäre aber möglich anhand des Vorschlags der Kommission zum EU-Wirtschafts- und Finanzminister, der in der vorgeschlagenen Ausgestaltung keiner Primärrechtsänderung bedarf.

Auch die Rolle des Europäischen Gerichtshofs soll angepasst werden. Zum einen soll er statt des Europäischen Rates im Rahmen des Artikel-7-Verfahrens das Bestehen einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung feststellen. Damit wird der Kritik begegnet, das Verfahren nach Artikel 7 EUV sei ein rein politisches. Außerdem soll eine präventive, abstrakte Normkontrolle auf EU-Ebene eingeführt werden, die in den konkreten Änderungsvorschlägen aber nicht weiter konkretisiert wird. Hier ist noch nicht ersichtlich, welchen Mehrwert dies hätte. Schließlich möchte das Europäische Parlament neben den Mitgliedstaaten und der Kommission eine Klagebefugnis im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens. Dies erscheint indes wenig sinnvoll, wenn das Parlament dann in Konkurrenz zur Kommission als Hüterin der Verträge tritt.

Kompetenzerweiterung der Union

Auf der anderen Seite soll die Union auch kompetenziell gestärkt werden. In zahlreichen Bereichen soll ein Übergang zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren bzw. zur qualifizierten Mehrheit im Rat stattfinden. Die Bereiche Gesundheit, Industrie, Bildung, Katastrophenschutz, auswärtige Angelegenheiten, äußere Sicherheit und Verteidigung sollen zu geteilten Kompetenzen und inhaltlich zum Teil erweitert werden.

Eine erhebliche Aufwertung soll die Umweltkompetenz (ergänzt um Biodiversität) erfahren. Zunächst vom Verfassungsausschuss geplant war eine Hochzonung zu einer ausschließlichen Unionskompetenz. In der finalen Entschließung ist die dahingehende Änderung des Artikel 3 AEUV zwar gestrichen worden, in den Erwägungsgründen ist das Vorhaben aber weiterhin genannt. Zudem soll „Umweltkriminalität“ in die Liste grenzüberschreitender schwerer Kriminalität (neben z.B. Terrorismus, Drogenhandel, Geldwäsche, organisierter Kriminalität) aufgenommen werden, für die die Union Mindeststrafen festlegen kann. Schließlich soll die Konkretisierung der Umweltkompetenz in Artikel 191 AEUV um den Auftrag ergänzt werden, in „Verantwortung gegenüber künftigen Generationen“ die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen. Dies erinnert stark an Artikel 20a GG. Ob daraus ähnlich weite Folgen gezogen werden wie durch den Klimabeschluss des BVerfG, ist angesichts der teils sehr integrationsfreundlichen Rechtsprechung des EuGH nicht ausgeschlossen.

Im Bereich der Außenkompetenzen ist der weitreichendste Vorschlag der Ausbau der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu einer echten Verteidigungsunion. Sie soll aus einem gesonderten Haushalt finanziert werden und über dauerhaft stationierte gemeinsame europäische Militäreinheiten und eine ständige Schnelleingreifkapazität unter der operativen Führung der EU verfügen. Die Beistandsklausel des Artikel 42 Abs. 7 EUV soll an die des Artikel V des NATO-Vertrags angepasst werden; NATO soll damit aber nicht verdrängt werden. Angesichts der verteidigungspolitischen Hinwendung Dänemarks, Schwedens und Finnlands zur EU und zur NATO im Angesicht des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ist eine auch primärrechtliche Weiterentwicklung der europäischen Verteidigungspolitik nicht ausgeschlossen.

Wie geht es nun weiter?

Auf den ersten Blick verwundert, dass in den zahlreichen Änderungsvorschlägen einige Punkte außen vor bleiben. So wird beispielsweise der massive Umbau der Wirtschafts- und Währungsunion der letzten Jahre und die Kritik an weiterhin bestehenden vertraglichen Defiziten primärrechtlich nicht nachvollzogen. Hauptgrund dürfte sein, dass die Vorschläge des Europäischen Parlaments insbesondere die Ergebnisse der Konferenz zur Zukunft Europas aufgreifen, wo dieses Thema keine Rolle spielte. Insofern sind die Vorschläge des Parlaments weitreichend, aber für eine umfassende Vertragsrevision nicht weit genug.

Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass in diesem Entwurf nicht vorkommende Themen doch zum Gegenstand von Vertragsänderungen werden. Letztlich obliegt es nämlich dem Europäischen Rat, ob und in welchem Umfang er – einschränkend oder erweiternd zum Vorschlag des Parlaments – einen Konvent oder eine Regierungskonferenz zu Beratungen über mögliche Vertragsanpassungen mandatiert. Den Beschluss hierzu fasst er mit einfacher Mehrheit. So gut wie sicher ist, dass jeder möglichen Vertragsänderung intensive und langwierige politische Debatten und Kompromisse vorangehen. Zum Vergleich: Der letzte Änderungsprozess – von den Anfängen und der Einberufung des Konvents bis zum Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags – dauerte knapp zehn Jahre. Ebenso wahrscheinlich ist, dass angesichts euroskeptischer Tendenzen nicht alle Vorschläge zur tieferen Integration konsensfähig sind -denn jede Vertragsänderung muss von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden.

Zitiervorschlag: Böttner, Robert, Die Vorschläge des Europäischen Parlaments zur Änderung der Verträge, JuWissBlog Nr. 11/2024 v. 27.02.2024, https://www.juwiss.de/11-2024/.

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Europäische Kommission, Europäischer Rat; Umweltpolitik, Europäisches Parlament, Robert Böttner, Vertragsänderung
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