von CLARISSA BARTH und CHRISTINA JACOBS
Der 2023 als Forum für Nachwuchswissenschaftler:innen initiierte Arbeitskreis Unionsrecht hat sich am 9. und 10. Februar 2024 das erste Mal in Präsenz getroffen und sich zwei Tage lang mit dem Thema “Verfassung der Europäischen Union: Aktuelle Herausforderungen und Potenziale” befasst. Nach dem heutigen Einstieg in das übergreifende Thema mit einer kurzen Vorschau auf die darauffolgenden Beiträge sowie weiterführenden Informationen zum Arbeitskreis Unionsrecht werden in den kommenden Tagen die Beiträge des Treffens im Rahmen dieser Schwerpunktwoche auf dem JuWiss-Blog erscheinen.
Verfassung der Europäischen Union: Aktuelle Herausforderungen und Potenziale
Auf die Verfassung der Europäischen Union wird unterschiedlich geblickt. Diese Unterschiedlichkeit vervielfältigt sich dadurch, dass dem Begriff der “Verfassung” sowohl eine eher umgangssprachliche als auch eine rechtliche Bedeutung zugeschrieben werden kann. Mit Blick auf erstere, eher umgangssprachliche Bedeutung – der Verfassung als aktuellem Zustand der Europäischen Union – würden manche das Bild einer von Krisen gebeutelten, zu langsam agierenden, ineffizienten, intransparenten, überkomplexen und inkonsistenten Europäischen Union zeichnen, welche ihren eigenen Ansprüchen sowohl nach innen als auch nach außen nicht gerecht wird und sich aus dieser Lage auch nicht selbst hinausmanövrieren kann. Andere würden entgegenhalten, dass die Europäische Union auf Krisen und Probleme reagiert, sich als handlungsfähig bewiesen und dafür neue Formen und Wege gefunden hat; dass sie durch manche(s) sogar noch enger zusammengewachsen ist und die Lage in Europa ohne sie jedenfalls schlechter wäre. Die Beurteilung wird oft damit zusammenhängen, von wo aus auf die Europäische Union geblickt wird: aus Brüssel, Berlin, Paris, Rom, Budapest, Warschau, Kiew, Washington oder Addis Abeba; aus den Regierungshäusern, Verwaltungen, Parlamenten, Gerichten, Universitäten, Unternehmensbüros oder aus den Privathäusern.
Die zweite, rechtliche Bedeutung löst schon bei der Verwendung des Begriffs “Verfassung” immer noch Debatten aus: Hat die Europäische Union überhaupt eine Verfassung? Was bedeutet es, von einer Verfassung der Europäischen Union zu sprechen, (wieso) sollten wir das tun? Die Diskussion zeigt sich zum Teil erstaunlich unbeeindruckt davon, dass Art. 2 EUV mit der Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte grundlegende Prinzipien normiert, die die Verfasstheit der unionalen Hoheitsgewalt und ihr Verhältnis zu Individuen regeln, für die gesamte Rechtsordnung Relevanz entfalten und damit Verfassungsprinzipien genannt werden können. Vielmehr als eine verfassungsrechtliche Dimension der Europäischen Union pauschal zu negieren, sollte es Rechtswissenschaftler:innen darum gehen, diese weiter auszuloten und auszudifferenzieren sowie ggf. an spezifischen Stellen begründet zurückzuweisen.
Dabei stellen sich mit Blick auf beide angerissenen Wortbedeutungen der Verfassung der Europäischen Union aktuelle Herausforderungen und zeigen sich gleichzeitig Potenziale, die weiter ausgeleuchtet und diskutiert werden sollten.
Präsenztreffen des Arbeitskreises Unionsrecht und Vorschau auf die Beiträge in dieser Schwerpunktwoche
Vor diesem Hintergrund hat sich am 9. und 10. Februar 2024 der Arbeitskreis Unionsrecht nach seiner Initiierung letzten Herbst das erste Mal in Präsenz zum Thema “Verfassung der Europäischen Union: Aktuelle Herausforderungen und Potenziale” in Hamburg getroffen. Die Beiträge des Treffens werden im Rahmen dieser Schwerpunktwoche auf dem JuWiss-Blog veröffentlicht und sollen Einblicke in besonders drängende aktuelle Herausforderungen und vielversprechende Potenziale der Europäischen Union bieten und auch über den Arbeitskreis hinaus zu weiteren Diskussionen anregen.
Beginnen wird Robert Böttner mit einem Beitrag zu den Reformvorschlägen des Europäischen Parlaments aus dem November 2023. Nachdem er sie in den Entstehungszusammenhang einordnet, erfolgt eine Systematisierung der vorgeschlagenen Vertragsanpassungen. Robert Böttner führt aus, welche Änderungen das Parlament im institutionellen Gefüge, in den (Innen-)Politiken und in der Außenpolitik vorgeschlagen hat und welche praktischen Auswirkungen diese Vorschläge jeweils hätten. Der Beitrag schließt mit einer Skizze der weiteren Verfahrensschritte und einer Prognose der Erfolgsaussichten des Vertragsänderungsverfahrens.
Anschließend befasst sich Jonas Reichert mit der fiskalischen Unabhängigkeit der Union von den Mitgliedstaaten nach “Next Generation EU”. Nach einem Einstieg über die anfänglich eher fiskalkonservativen Vorstellungen über die Wirtschafts- und Währungsunion ordnet er die Finanzordnung der Union nach dem Konjunkturpaket “Next Generation EU” als Schritt in die Fiskalunion ein. Darauf aufbauend geht er auf verschiedene Fragestellungen und sich ergebende Probleme, insbesondere hinsichtlich der Verpflichtungsermächtigung im Eigenmittelbeschluss ein. Zum Abschluss wirft Jonas Reichert die Frage auf, welche Auswirkungen die politischen Rahmenbedingungen auf juristische Argumentationen in diesem Zusammenhang haben.
Danach zeigt Alina Funk mit Blick auf Art. 3 Abs. 5 EUV eine postkoloniale Perspektive auf EU-Assoziierungsabkommen auf. Der Beitrag widmet sich heutigen Kontinuitäten eurozentrischer Hierarchien im EU-Außenhandel und geht insbesondere auf die Überseeischen Länder und Gebiete und das Euro-Mediterrane Assoziierungsabkommen der EU mit Marokko und dessen Bedeutung für die Westsahara ein. Unter Bezugnahme auf Art. 3 Abs. 5 EUV wird im Kern vorgeschlagen, eine Verpflichtung der EU zur Anerkennung des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts von Völkern in den Vordergrund zu rücken.
Abschließend befasst sich Janis Hesse mit der Vielsprachigkeit der EU und stellt die Frage nach den Vorteilen einer internen Lingua franca. Nach einem Überblick über die aktuellen unionalen Sprachregelungen widmet sich der Beitrag den negativen Effekten der vielfältigen Übersetzungserfordernisse, insbesondere überlangen Verfahrensdauern und hohen Kosten. Darauf aufbauend wirft Janis Hesse die Idee einer internen Lingua franca auf und bringt dafür das Englische ins Gespräch, was nach dem EU-Austritt des Vereinigten Königreichs mit weniger Vorbehalten seitens der Mitgliedstaaten verbunden sein dürfte.
Der Arbeitskreis Unionsrecht als offenes Forum für Nachwuchswissenschaftler:innen im Unionsrecht
Der Arbeitskreis Unionsrecht hat sich im Laufe des Jahres 2023 im Nachgang zur 63. Jungen Tagung Öffentliches Recht (JTÖR) zusammengefunden. Die Idee des Arbeitskreises ist es, Möglichkeiten des fachlichen und persönlichen Austausches unter Nachwuchswissenschaftler:innen im Unionsrecht zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Unsere regelmäßigen digitalen Treffen finden alle zwei Monate, aktuell an einem Freitagnachmittag, statt. Während dieser Treffen geben einige Mitglieder des Arbeitskreises inhaltliche Inputs, über die wir im Anschluss gemeinsam diskutieren. Die Ausgestaltung der Beiträge kann unterschiedlich sein, darunter fallen beispielsweise Vorträge, Besprechungen von Gerichtsentscheidungen, Diskussionsrunden oder auch das Aufwerfen von Fragestellungen. Weitere Präsenztreffen sind bereits in Planung. Der Arbeitskreis richtet sich an alle Nachwuchswissenschaftler:innen, die zu unionsrechtlichen oder damit verbundenen Fragestellungen und Themen forschen. Weitere Mitglieder sind jederzeit herzlich willkommen! Bei Interesse, Teil des Arbeitskreises zu werden, Fragen und Anregungen könnt ihr euch an Clarissa Barth und Christina Jacobs wenden.
Vielen Dank an Anna Weininger von der JuWiss-Redaktion für die Schaffung dieser Kooperationsmöglichkeit.
Zitiervorschlag: Barth, Clarissa/Jacobs, Christina, Schwerpunktwoche des Arbeitskreises Unionsrecht – “Verfassung der Europäischen Union: Aktuelle Herausforderungen und Potenziale”, JuWissBlog Nr. 10/2024 v. 26.02.2024, https://www.juwiss.de/10-2024/.
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.