von KERSTIN GEPPERT
„Schon wieder ein Verfassungsgericht, das Parität die rote Karte zeigt. Wann begreifen diese Frauen endlich, dass Parität verfassungswidrig ist?!“ – könnte man denken, wenn man die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 02. Februar 2021 überfliegt. Doch wer sich den Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2020 genauer ansieht, wird schon aufgrund der – für eine Verwerfung wegen Unzulässigkeit – ungewöhnlich langen Entscheidung vermuten, dass die Sache so einfach nicht ist.
Doch zunächst zu den Hintergründen…
Im Jahr 2013 verzeichnete der Deutsche Bundestag mit 36,3 % weiblichen Abgeordneten den höchsten Frauenanteil nach einer Wahl in seiner knapp 65-jährigen Geschichte. Die Bundestagswahl im Herbst 2017 warf diesen Fortschritt um Jahre zurück: nur 218 der insgesamt 709 gewählten Parlamentarier*innen waren weiblich. Mit 30,7 % war der Frauenanteil so niedrig wie letztmals im Jahr 1998. Eine Gruppe von Frauen legte deshalb Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl ein. Ihre Argumentation: die nichtparitätische Nominierung von Kandidierenden durch die politischen Parteien begründe einen erheblichen, auf die Mandatsverteilung und die Gültigkeit der Wahl durchschlagenden Wahlfehler. Eine solche Nominierung verstoße gegen das Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG sowie das Grundrecht auf passive Wahlgleichheit aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG. Darüber hinaus führe die Unterrepräsentanz zu einem Mangel an demokratischer Legitimation und laufe dem Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG zuwider. Daraus folge die Verpflichtung des Gesetzgebers, das gesetzliche Wahlvorschlagsrecht der Parteien paritätisch auszugestalten. Der Gesetzgeber sei dieser Pflicht nicht nachgekommen. In diesem gesetzgeberischen Unterlassen liege der für die Beschwerde relevante Wahlfehler. Im Mai 2019 wurde dieser Wahleinspruch vom Deutschen Bundestag zurückgewiesen. Hiergegen erhoben die Frauen im Juli 2019 nach Art. 41 Abs. 2 GG Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht.
Begründungsanforderungen an eine Wahlprüfbeschwerde
Eine solche Wahlprüfbeschwerde ist nach § 48 Abs. 1 Halbsatz 2, § 23 Abs. 1 S. 2 BVerfGG substantiiert zu begründen. Wird in einer Wahlprüfbeschwerde ein gesetzgeberisches Unterlassen gerügt, unterliegt sie erhöhten Begründungsanforderungen. Grund hierfür ist, dass ein verfassungswidriges Unterlassen eine Gesetzgebungspflicht des Gesetzgebers voraussetzt. Diesen hohen Begründungsanforderungen genügt die vorliegende Wahlprüfbeschwerde nicht. Es konnte nicht substantiiert dargelegt werden, dass den Gesetzgeber eine verfassungsrechtliche Pflicht zur paritätischen Ausgestaltung des Wahl(vorschlags)recht der Parteien trifft. Das Bundesverfassungsgericht hätte es bei dieser Feststellung belassen können. Wie bereits in anderen Beschwerdeverfahren nutzte es jedoch die Gelegenheit, sich zur materiell-rechtlichen Fragestellung – hier also zu Parität – zu äußern.
Keine Pflicht zur Parität – aber auch kein Verbot
Dabei stellt der Zweite Senat gerade nicht fest, dass Parität verfassungswidrig ist. Seine Aussage lautet vielmehr, dass jedenfalls die vorgetragene Argumentation nicht genüge, um eine Pflicht auf Parität zu begründen. Zwischen den Zeilen ist außerdem die Einschätzung zu lesen: vermutlich wird es aktuell nicht gelingen, dem Grundgesetz die Pflicht eines Paritätsgesetz zu entnehmen. Gleichzeitig gilt es, daran zu erinnern: Das Verneinen einer gesetzgeberischen Pflicht bedeutet noch lange kein Verbot. Während der Zweite Senat vordergründig erläutert, weshalb die Beschwerde eine verfassungsrechtliche Pflicht für ein Paritätsgesetzt nicht ausreichend substantiiert darlegt, zeigt er zwischen den Zeilen auf, welche Fragen sich der Gesetzgeber zu stellen hätte und welche Verfassungsgüter zu bedenken wären, wollte er Regelungen für eine gleichberechtigte politische Teilhabe erlassen.
Festhalten an formaler Wahlgleichheit
Zunächst wendet er sich der (passiven) Wahlgleichheit zu und bekräftigt die bisherigen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts. Die Wahlgleichheit garantiere allen wählbaren Bürger*innen ein Recht auf Chancengleichheit im Wahlkampf und Wahlverfahren, also auch die gleichen Chancen im Wettbewerb um Wähler*innenstimmen. Der Grundsatz der Wahlgleichheit sei dabei streng und formal zu verstehen. Deshalb bedürften Durchbrechungen eines besonderen, sachlich zwingenden Grundes. Dieser müsse durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sein, das der Wahlgleichheit die Waage halten könne (Rn. 56 f.). Die Argumentation, das passive Wahlrecht enthalte ein Grundrecht auf geschlechterbezogene Ergebnisgleichheit, die einen Wechsel vom formellen hin zu einem materiellen Verständnis der Wahlgleichheit zur Folge hätte, konnte das Gericht nicht überzeugen.
Keine verfassungsrechtliche Pflicht zur Spiegelbildlichkeit
Ähnlich wie der Bayerische Verfassungsgerichtshof verneint auch das Bundesverfassungsgericht eine verfassungsrechtliche Pflicht zur „Spiegelbildlichkeit“ des Parlaments. Abgeordnete würden das Volk in ihrer Gesamtheit repräsentieren, nicht als Einzelne. Sie seien nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG an Aufträge und Weisungen nicht gebunden. Daraus werde der Grundsatz der Gesamtrepräsentation abgeleitet, demzufolge das Parlament gerade nicht zwingend ein verkleinertes Abbild des Wahlvolkes darstellen müsse (Rn. 65 f.). Das Argument, die faktische Unterrepräsentanz von Frauen begründe einen Mangel an demokratischer Legitimation, habe nicht darlegen können, dass diese Gesamtrepräsentation durch eine geschlechterbezogene Repräsentation ersetzt werden müsse. Demokratische Legitimation entstehe durch die Gesamtheit der Bürger*innen und werde durch den Wahlakt vermittelt. Dabei sei ausschließlich die Ordnungsgemäßheit des Wahlaktes entscheidend. Die Geschlechtszugehörigkeit der Abgeordneten sei hingegen irrelevant (Rn. 72). Die Frage, ob das Demokratieprinzip grundsätzlich Raum für gruppen- oder geschlechtsbezogene Demokratiemodelle lässt, ließ das Gericht jedoch ausdrücklich offen (Rn. 83).
Schließlich wendet sich der Beschluss dem Gleichberechtigungsgebot aus Art. 3 Abs. 2 GG zu. Das Gericht betont erneut den weiten Gestaltungsspielraum, der dem Gesetzgeber mit Blick auf dessen Erfüllung zukomme (Rn. 98). Eine Verengung dieses weiten Gestaltungsspielraums zu einer Pflicht, ein Paritätsgesetz zu erlassen, sei nicht hinreichend dargelegt worden. Einer solchen Pflicht stehe insbesondere entgegen, dass die Wahlrechtsgrundsätze sowie die Parteienfreiheit im Prozess der Wahlvorbereitung, also auch beim Wahlvorschlagsrecht, zu berücksichtigen seien. Der Gesetzgeber müsse diesen Verfassungsgütern ebenfalls „angemessene Geltung“ verschaffen (Rn. 99).
Gleichrangigkeit von Gleichberechtigungsgebot und Wahlrechtsgrundsätzen sowie Parteienfreiheit
In diesem Zusammenhang betont das Bundesverfassungsgericht, das Gleichberechtigungsgebot sei Verfassungsgütern wie den Wahlrechtsgrundsätzen oder der Parteienfreiheit nicht übergeordnet und führt aus: „Vielmehr spricht vieles dafür, dass sich diese Verfassungsgüter gleichrangig gegenüberstehen und es Sache des Gesetzgebers ist, zwischen ihnen einen angemessenen Ausgleich herbeizuführen“ (Rn. 113). Eine „Pflicht zu Parität“ gibt es also nicht. Es ist vielmehr die Entscheidung des Gesetzgebers, ob und wie er eine gleichberechtigte Teilhabe in Parlamenten fördern will. Er muss keine Regelungen erlassen, er kann bzw. darf es aber tun. Nimmt er sich dieser Aufgabe an, gilt es im Kontext von Wahlen zu beachten: Es besteht die Möglichkeit, dass gesetzliche Paritätsgebote in die Parteienfreiheit und die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit der Wahl eingreifen (Rn. 109). Eine Absage an Regelungen für mehr gleichberechtigte politische Teilhabe ist dies gleichwohl nicht. Es kommt vielmehr darauf an, die in Konflikt stehenden Verfassungsgüter in Ausgleich zu bringen, also eine verhältnismäßige Regelung zu finden. Dabei könnte sich der Gesetzgeber auch anderer Instrumente bedienen. Beispiele könnten offene Wahllisten, geringere und flexiblere Quoten, finanzielle Anreize oder Sanktionen statt der strikten Ablehnung einer Liste oder die Anregung zu parteiinterner Frauenförderung sein; letzteres beispielsweise um den Frauenanteil unter den Parteimitgliedern zu erhöhen.
Wie könnte es weitergehen?
Für die Ausgestaltung solcher Regelungen ist die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts von Bedeutung, dass sich Art. 3 Abs. 2 GG und Art. 38 und Art. 21 GG gleichrangig gegenüberstehen. Damit sollte sich die Frage, ob Eingriffe in die Wahlrechtsgrundsätze und die Freiheit der Parteien durch Art. 3 Abs. 2 GG zu rechtfertigen sind, endgültig auf die Ebene der Rechtfertigung verlagern. Für Beeinträchtigungen der strengen und formalen Wahlgleichheit wird mit dem Beschluss jedenfalls die erforderliche Gleichgewichtigkeit erstmals indirekt bejaht (Rn. 112). Zu diskutieren bleibt dann im Rahmen der Rechtfertigung, ob eine verhältnismäßige Regelung gefunden wurde, die alle Verfassungsgüter in einen angemessenen Ausgleich bringt. Hierbei sind die Fragen zu berücksichtigen, die der Zweite Senat in seinem Beschluss aufwirft: Wie kann größtmöglicher Chancengleichheit aller Bewerber*innen im Aufstellungsprozess gewährleistet werden (Rn. 57 ff.)? Wie verhalten sich Wahlgleichheit und Gleichberechtigungsgebot zueinander (Rn. 85)? Sind die Voraussetzungen des Gleichberechtigungsgebots (hier: strukturell bedingte faktische Benachteiligungen von Frauen im Rekrutierungsprozess der Parteien) gegeben (Rn. 92)? Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, wie das freie Wahlvorschlagsrecht und die passive Wahlgleichheit möglichst umfassend gewährleistet werden können (Rn. 102 f.) und ob der Freiheit der Parteien – insbesondere der Programm- und Organisationsfreiheit – ausreichend Raum gegeben wird (Rn. 105 ff.). Schließlich muss auch das Recht auf Chancengleichheit insbesondere kleiner Parteien aus Art. 21 Abs. 1 GG bedacht werden (Rn. 107).
Damit könnte diese Entscheidung geradezu ein Türöffner zu Regelungen für eine gleichberechtigte politische Teilhabe sein, die eine gleiche Verteilung politischer Macht zum Ziel haben und in diesem Sinne Parität verfolgen.
Zitiervorschlag: Kerstin Geppert, Parität geht nicht… oder doch?, JuWissBlog Nr. 16/2021 v. 11.02.2021, https://www.juwiss.de/16-2021/.
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3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Liebe Kerstin,
danke für den lesenswerten Artikel und die Widergabe dieser höchst interessanten Entscheidung!
Interessant wird es sein, wie dieses bei den Landesverfassungsgerichten verarbeitet wird, die sich ja jeweils gegen ein solches Paritätsgesetz ausgesprochen haben. Ich denke, da wird einiges zu revidieren sein!
Gruß
Simon
[…] einer gesetzlichen Frauenquote für Wahllisten, über „Parität“ (siehe auch hier, hier, hier und hier). Die Landesverfassungsgerichte Brandenburg und Thüringen haben entsprechende Gesetze in […]
[…] bis heute fort. Ebenso besteht die Debatte um die Parität in der Politik, die auch bei JuWiss regelmäßig aufkam. Die Unterschiede sollen in dem Bild der Asymmetrie der Gleichheit dargestellt […]