von LEA RABE
Ein Ständchen könnte man singen: Elisabeth Selbert hätte am 22. September ihren 125. Geburtstag gefeiert. Die „Mutter des Grundgesetzes“ hat sich im Parlamentarischen Rat maßgeblich für die Gleichberechtigung der Frauen eingesetzt. Ihr Name ist unumstößlich mit Art. 3 II GG verknüpft, denn allein ihrem Einsatz ist es zu verdanken, dass mit der Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ die Gleichstellung zum Verfassungsauftrag geworden ist. Der Beitrag zeichnet in historischer Perspektive Leben und Wirken der Juristin und SPD-Politikerin nach und wirft auch einen Blick nach vorn: Denn in dieser Woche küren wir nicht nur ein Geburtstagskind, sondern auch einen neuen Bundestag. Die Gleichberechtigung der Frauen in der Politik war Selbert eine Herzensangelegenheit, doch im Bundestag sind Politikerinnen zahlenmäßig nach wie vor unterrepräsentiert. Wird der Wahlsonntag daran etwas ändern?
A Selfmade Woman: Familienrechtlerin aus Erfahrung, Staatsrechtlerin aus Passion
Die gebürtige Kasselerin Selbert bemängelte schon in ihrer Jugendzeit die schlechteren Ausbildungschancen von Mädchen gegenüber Jungen. Früh begann sie mit dem Lesen geisteswissenschaftlicher Literatur. Die eigentliche Politisierung Selberts fand ihren Anfang 1918, als sie ihren späteren Mann, den Kommunalpolitiker Adam Selbert, kennenlernte. Im selben Jahr trat sie in die SPD ein. Auch Selbert leistete die berüchtigte „zweite“ und sogar eine „dritte“ Schicht: Spät verwirklichte sie ihren Traum, zu studieren, absolvierte als Dreißigjährige nach der Geburt ihres zweiten Kindes ihr Abitur und legte nach nur sechs Semestern das juristische Referendarsexamen ab. Wesentlich früher wäre das auch nicht möglich gewesen, denn Frauen wurden erst ab 1922 zur juristischen Prüfung zugelassen. Ihre Dissertation, die sie im „Winter hindurch zu Hause“ schrieb, war mit dem Thema „Ehezerrüttung als Scheidungsgrund“ sowohl für die Debatte um das Zerrüttungsprinzip der Ehescheidung als auch für Selberts weitere Karriere wegweisend. Ihre Zulassung als Rechtsanwältin erfolgte am 15. Dezember 1934, also in letzter Minute, wenige Tage vor Inkrafttreten der Änderung der Rechtsanwaltsordnung, die Frauen vom Anwaltsberuf ausschloss. Da ihr Mann aus politischen Gründen aus dem Staatsdienst entlassen und zeitweilig in Haft genommen wurde, lag es während des nationalsozialistischen Regimes allein an Selbert, die Familie zu ernähren.
Nach dem Krieg beteiligte sie sich am Wiederaufbau der SPD, arbeitete unter anderem an der Hessischen Landesverfassung mit und saß ab 1946 im Hessischen Landtag. Kurioserweise wählte sie jedoch nicht dieser, sondern der Niedersächsische Landtag in den Parlamentarischen Rat. Als „Staatsrechtlerin aus Passion“ setzte Selbert sich anfangs in verschiedenen Ausschüssen vor allem für eine strikte Gewaltenteilung sowie die Unabhängigkeit der Justiz und die Bundesverfassungsgerichtsbarkeit ein.
In die Debatte um den Art. 3 II GG schaltete sie sich erst spät ein: Als der Gleichberechtigungsartikel im Hauptausschuss diskutiert wurde, zeigte sie sich angesichts des bisherigen Entwurfes entrüstet. Es folgte ein beispielloser politischer Kampf um die Fassung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, der sich aus ihrer langjährigen Erfahrung als Familienrechtsanwältin speiste. Selbert war von der Notwendigkeit der Revision des BGB überzeugt. Konservativen Kräften im Rat zum Trotz, die befürchteten, dass das BGB „aus den Angeln gehoben“ werden würde, verteidigte sie ihre Vision und aktivierte nicht nur ihre Kollegin Frieda Nadig, sondern auch die weibliche Öffentlichkeit, über Konfessions- und Parteigrenzen hinaus, die Selbert mit Protestschreiben an den Rat unterstützen. So setzte sich ihre Fassung letztlich durch.
Selbert saß bis 1958 im Hessischen Landtag, danach widmete sie sich wieder voll ihrer Kanzlei und ihrer Familie. Ihre berufliche Tätigkeit gab sie erst im hohen Altern von 87 Jahren – schweren Herzens – auf. Trotz der Dreifachbelastung durch ihre Anwalts- und Notariatskanzlei, ihre Familie und die politische Arbeit hat sie einen Meilenstein für die Gleichstellung der Geschlechter in Deutschland gesetzt. Sie starb im Jahr 1986.
Ausblick: Gleichberechtigung im neuen Bundestag?
Auf dem Papier ist die Gleichberechtigung von Männern und Frauen keine Neuheit mehr. Doch der formal-rechtliche Status übersetzt sich nicht automatisch in faktische Gleichheit.
Während die gröbsten Defizite im Zivilrecht nach und nach behoben wurden, ist die politische Teilhabe immer noch hochumkämpft. Denn: Die staatsbürgerliche Egalität und mit ihr das Wahlrecht, sträuben sich ob ihres universalistischen Anstrichs und ihrer abstrakt-symmetrischen Konzeption gegen konkret-asymmetrische Gleichheitspostulate. Ein solches enthält der Art. 3 II GG seit der Nachtarbeitsentscheidung und spätestens seiner Ergänzung um Satz 2. Diskutiert wird, ob Art. 3 II 2 GG auch im Rahmen des Art. 38 I 1 GG anwendbar ist – also ob die konkrete Betrachtung der vergeschlechtlichen Ungleichheitsdimensionen, von denen die abstrakte Kategorie des wahlberechtigten „Volkes“ durchzogen ist, eine Angleichung der Partizipationsbedingungen, ergo die Herstellung „faktischer“ Gleichheit erlaubt.
Der Frauenanteil im Bundestag war im Vergleich zur Bevölkerung stets unterrepräsentativ. Er sackte nach der letzten Wahl auf 30,9 % ab. Seit einiger Zeit diskutieren Politik, Medien und Rechtwissenschaft daher, bisweilen leidenschaftlich, über den demokratischen Mehrwert einer gesetzlichen Frauenquote für Wahllisten, über „Parität“ (siehe auch hier, hier, hier und hier). Die Landesverfassungsgerichte Brandenburg und Thüringen haben entsprechende Gesetze in den Bundesländern im letzten Jahr kassiert. Ein grundgesetzliches „Paritätsgebot“ besteht nach dem doch sehr dezidierten obiter dictum der Wahlprüfungsentscheidung/„Paritätsbastelanleitung“ des Bundesverfassungsgerichts nicht. Die Frage nach der Zulässigkeit eines Gesetzes ließ der Zweite Senat offen.
Wird sich am Geschlechterverhältnis nach Sonntag etwas ändern? Nach den letzten Umfragen: vielleicht. SPD, GRÜNE und LINKE, die ihre Wahllisten freiwillig paritätisch quotieren, werden jüngsten Prognosen zufolge Stimmengewinne einfahren. Die Effektivität von Listenquotierungen hängt allerdings generell davon ab, wie viele Frauen einerseits auf „aussichtsreichen“ Listenplätzen nominiert sind andererseits, wie hoch ihr Anteil an – ebenfalls „aussichtsreichen“ – Wahlkreiskandidaturen ist. Dementsprechend ist die erstmalige Listenparität bei der CSU auch nicht viel mehr als ein wahltaktischer Bluff: Die Christsozialen generieren ihre Mandate regelmäßig in den Wahlkreisen. Bis auf die GRÜNEN (die aber vor allem Zweitstimmen einfahren) hat keine Partei hier paritätisch nominiert. Trotzdem dürfte sich ein gutes Ergebnis bei den GRÜNEN positiv auf den Frauenanteil auswirken. Gegenteiliges gilt für die männerdominierte AfD. Generell gilt: Je mehr Zweitstimmen die Quotenparteien einfahren – der Frauenanteil an aussichtsreichen Kandidaturen liegt bei allen im paritätischen Bereich – desto weiblicher wird der neue Bundestag. Mit Pari-Pari ist aber insbesondere aufgrund der wenigen Direktkandidatinnen bei der „erststimmenstarken“ CDU (Frauenanteil: 25%) und CSU (22%) und der uneinheitlichen Quotenpraxis für die Zweitstimme nicht zu rechnen.
„Die mangelnde Heranziehung von Frauen zu öffentlichen Ämtern und ihre geringe Beteiligung in den Parlamenten ist doch schlicht Verfassungsbruch in Permanenz“ meinte schon Elisabeth Selbert. Voraussichtlich werden ihr die meisten Parteien am Sonntag eingedenk ihrer Nominierungspraxis kein Geburtstagsgeschenk machen – vielleicht dann aber der neue Bundestag in Form eines Paritätsgesetzes? Mit Art. 3 II GG hat Selbert den Grundstein dafür gelegt.
Zitiervorschlag: Lea Rabe, Alles Gut(e), Elisabeth Selbert!? – Ein Geburtstagsgruß vor der Bundestagswahl, JuWissBlog Nr. 88/2021 v. 24.9.2021, https://www.juwiss.de/88-2021/
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