Strategische Prozessführung – Ein Schaf im Wolfspelz?

von NAM NGUYEN

Strategische Prozessführung sieht sich häufig den Vorwürfen ausgesetzt, mit ihren politisch aufgeladenen Klagen den Grundsatz des Individualrechtsschutzes zu beeinträchtigen und das grundgesetzliche System der Gewaltenteilung zu strapazieren. Warum die strategische Prozessführung nur scheinbar dafür verantwortlich ist, soll Gegenstand dieses Beitrags sein.

Klimaklagen als Paradebeispiel strategischer Prozessführung

Die jüngst eingereichten Verfassungsbeschwerden 16 junger Menschen gegen fünf Landesregierungen mit dem Ziel, die Länder zur Verabschiedung von eigenständigen Klimaschutzgesetzen zu verpflichten, ordnet sich in einer Reihe von klimaschutzbezogenen Klagen ein, die nicht zuletzt wegen des Klimabeschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 für viel Aufregung und Kritik an der Judikative gesorgt haben (vgl. z.B. hier, hier, hier oder hier). Diese sogenannten Klimaklagen, die sich unter dem Begriff der „Climate Change Litigation“ zusammenfassen lassen, sind eine Spezialform politischer Rechtsmobilisierung, die als „strategische Prozessführung“ Eingang in die rechtswissenschaftliche Debatte gefunden hat. Der Begriff strategische Prozessführung meint grundsätzlich das Betreiben eines gerichtlichen Verfahrens mit der Zielsetzung, eine über den konkreten Einzelfall hinausgehende Wirkung rechtlicher, politischer oder gesellschaftlicher Art zu erreichen. Im optimalen Falle entfaltet sich diese Wirkung in Form einer (höchst-)richterlichen Grundsatzentscheidung, die aufgrund ihrer Rechtsverbindlichkeit Handlungsdruck, beispielsweise für die Politik, entfaltet.

Warum wird strategische Prozessführung als Gefahr für den Grundsatz des Individualrechtsschutzes gesehen?

Der Gedanke scheint zunächst befremdlich: Warum sollten einzelne Kläger und Klägerinnen, die ihre Rechte gegenüber wirkmächtigen Staaten und globalen Energiekonzernen gerichtlich geltend machen wollen, den in Art. 19 IV GG verankerten Grundsatz des Individualrechtsschutzes beeinträchtigen? Der Vorwurf lässt sich dadurch erklären, dass bei genauem Hinschauen das medial effektive „David-gegen-Goliath“-Narrativ hinkt. Hinter den jungen Klägerinnen und Klägern, die vor Gericht für ihre Rechte kämpfen, stehen meist hochprofessionell organisierte, finanziell abgesicherte globale Netzwerke aus Nichtregierungsorganisationen und Verbänden, die mithilfe von spezialisiertem juristischem Fachpersonal die Klagen umfassend vorbereiten und unterstützen. So wurden die Verfassungsbeschwerden gegen das deutsche Klimaschutzgesetz unter anderem von der Deutschen Umwelthilfe, Germanwatch, BUND und Greenpeace wesentlich mitgetragen. Die eingangs genannten Verfassungsbeschwerden gegen die fünf Bundesländer werden von der Deutschen Umwelthilfe begleitet. Da diese Verbände und Nichtregierungsorganisationen aufgrund des in Deutschland vergleichsweise nur schwach ausgeprägten Verbandsklagerechts nicht selbst Klage erheben dürfen, müssen Sie den Umweg über klagebefugte Personen gehen. Die Verbände und NGOs werden dabei als wesentliche Antreiberinnen der strategischen Prozessführung wahrgenommen, die den einzelnen Kläger und die einzelne Klägerin nur „vorschieben“, teilweise deren Klagebefugnis mühsam „konstruieren“ müssen, um ihre eigene politische Agenda gerichtlich durchsetzen zu können. Aufgrund ihrer maßgeblichen Rolle bei der Prozessführung, könne, so die Kritik, die Rechte und Interessen der einzelnen Kläger und Klägerinnen nur noch eine untergeordnete Rolle zukommen. Darin wird eine Beeinträchtigung, eine Umgehung des Grundsatzes des Individualrechtsschutzes gesehen.

Die Rolle der Gerichte bei dem Umgang mit strategischer Prozessführung wird unterschätzt

Aber inwiefern bricht die strategische Prozessführung tatsächlich mit dem Grundsatz des Individualrechtsschutzes? Unstrittig ist, dass es den NGOs in erster Linie nicht um die konkrete Rechtsverletzung im Einzelfall geht – Die Geltendmachung der konkreten Rechtsverletzung der unterstützten Klägerinnen und Kläger ist lediglich Mittel zum Zweck, nämlich den Zugang zum Gericht zu ermöglichen und eine rechtliche Argumentationsbasis für das Verfahren zu schaffen. Sie dient somit zunächst der Erfüllung des Erfordernisses der Klage- bzw. Beschwerdebefugnis. Das zeigt sich insbesondere darin, dass NGOs gezielt klagebefugte Personen suchen, um ihre politischen Ziele vor Gericht durchsetzen ­– teilweise sogar erst nach Anfertigung der Klageschrift. Allerdings hat eine solche Suche nach klagebefugten Personen, eine „Konstruktion“ subjektiv-öffentlicher Rechte seitens der Betreiberinnen strategischer Prozessführung keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Entscheidung des angerufenen Gerichts. Ist eine Verletzung der Rechte der vorgeschobenen klagenden Person tatsächlich möglich, wird und muss das Gericht bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen die Zulässigkeit der Klage annehmen und in der Sache diese vorgeschobene Rechtsverletzung prüfen. Die Tatsache, dass die NGOs dabei darüberhinausgehende, eigenständige politische Ziele verfolgen, darf für das Gericht nicht relevant sein – das ergibt sich aus der in Art. 19 IV GG verbürgten Rechtsschutzgarantie.

Liegt die Klagebefugnis hingegen nicht vor, etwa, weil der Verband ohne entsprechendes Verbandsklagerecht selbst, zum Beispiel als „Anwalt der Natur“, Klage erhebt oder weil die von den NGOs konstruierte Rechtsverletzung der klagenden Partei nicht plausibel ist, wird das Gericht die Zulässigkeit der Klage verneinen müssen. Sollte ein Gericht nun überraschenderweise – aus politischem Eifer und/oder judikativem Aktivismus – trotz mangelnder oder mangelhaft konstruierter Klagebefugnis diese dennoch bejahen, ist das ein Problem, welches nicht von der strategischen Prozessführung ausgeht, sondern von einer Judikative, die ihre Grenzen bewusst überschreitet und dabei das Risiko eingeht, den Entscheidungsspielraum der anderen Gewalten in einer das Gewaltenteilungssystem beeinträchtigenden Art und Weise einzuschränken. Es ist allein die Aufgabe einer starken und sich seiner Grenzen bewussten Judikative, tatsächlich mögliche Rechtsverletzung von schlecht konstruierten, angeblichen Verletzungen zu unterscheiden. Jede Klage, die eine Rechtsverletzung des Klägers geltend machen kann, muss ernst genommen und entschieden werden; unabhängig davon, welche Ziele die klagende Partei oder die dahinterstehenden Akteure verfolgen. Strategische Prozessführung bringt das System des gerichtlichen Rechtsschutzes somit nicht an seine Grenzen. Vielmehr passt es sich dem System an, fordert es jedoch auch heraus und zwingt es, seine Aufgabe ernst zu nehmen und präzise herauszufiltern, welche Klagen Rechtsschutz verdienen und welche nicht. Dass dabei auch vermehrt Klagen von NGOs an Gerichte herangetragen werden, welche die Zulässigkeitsanforderungen nicht erfüllen, etwa weil die vertretene Partei aufgrund ihrer Eigenschaft als Schweine von vornherein keine Klagebefugnis zukommt, ist zugunsten eines effektiven Rechtsschutzes hinzunehmen.

Die Auswirkungen strategischer Prozessführung auf das System der Gewaltenteilung

Die wohl schärfste Kritik an der Praxis der strategischen Prozessführung ist ihre vermeintliche negative Auswirkung auf das grundgesetzliche System der Gewaltenteilung. Dies hat sich insbesondere in den Reaktionen der Rechtswissenschaft auf die immer relevanter werdenden Klimaklagen gezeigt. Wer über den Rechtsweg versucht, mehr Klimaschutz einzufordern, wünsche sich eine „Weltrettung per Gerichtsbeschluss“ herbei. Dieser Weg sei nicht nur von vornherein zum Scheitern verurteilt, da Gerichte personell, funktionell und institutionell gar nicht dazu in der Lage seien, höchstkomplexe, politische Streitfragen wie die Bewältigung des Klimawandels angemessen zu lösen; er sei auch gefährlich, da durch die verbindliche Entscheidung eines demokratisch schwach legitimierten Gerichts die demokratisch unmittelbar legitimierte Legislative übermäßig in ihren Handlungsspielräumen eingeschränkt werde. Dies verhindere politische Kompromissfindungsprozesse und die Einbeziehung gegenläufiger Interessen. Die Problematik des „entgrenzten Gerichts“ sollte jedoch nicht unmittelbar auf die verfassungsrechtliche Bewertung strategischer Prozessführung übertragen werden.

Gerichte, insbesondere das Bundesverfassungsgericht als Letztinstanz der Verfassungsauslegung, sind immer wieder mit politisch aufgeladenen Fällen und dementsprechend auch mit der Prüfung objektiven Rechts befasst. Gerichte können sich nach der Verfassungsordnung des Grundgesetzes nicht von dieser Aufgabe unter der Berufung auf einer „political-question“-Doktrin lösen. Sie müssen Normen, die nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind – auch wenn sie mit einer demokratisch unmittelbar legitimierten Mehrheit entstanden sind – für verfassungswidrig erklären (bzw. die Frage der Verfassungswidrigkeit an das BVerfG weiterleiten). Es gilt jedoch, die eigenen Funktions-, Leistungs- und Legitimitätsgrenzen zu erkennen und in diesem Bewusstsein auch entsprechende Entscheidungen zu treffen, etwa indem der Legislative ausreichend Gestaltungsspielräume überlassen werden, um in einem demokratisch legitimierten, kompromissfindungsorientierten Gesetzgebungsverfahren alternative Lösungen finden zu können. Diese Form der notwendigen Zurückhaltung fällt in den Aufgabenbereich der Judikative, nicht jedoch in den Verantwortungsbereich der strategischen Prozessführung. Auch wenn strategische Prozessführung im Ergebnis möglicherweise auf eine solche Entscheidung der Gerichte hinwirkt, so bleibt es die Aufgabe und Verantwortung der Gerichte, selbstsicher im Bewusstsein ihrer Funktion im gewaltengliedrigen Staatsgefüge und im Rahmen ihrer Kompetenzen zu entscheiden. Die politische Zielsetzung der strategischen Prozessführung darf nämlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Sache eine rechtlich fundierte Argumentation vorliegt, mit der sich das Gericht befassen muss. Stützt die strategische Prozessführung beispielsweise ihre rechtliche Argumentation darauf, dass das Klimaschutzgesetz in Teilen verfassungswidrig sei, weil dadurch Grundrechte jüngerer Generationen in Zukunft über Gebühr beeinträchtigt werden, so hat das Gericht eine solche Verfassungswidrigkeit bei einer möglichen Grundrechtsverletzung der Beschwerdeführenden zu prüfen. Das Gericht kann eine an sich zulässige Klage nicht mit dem Hinweis ablehnen, sie verfolge darüberhinausgehende Ziele, deren Durchsetzung über die Politik erfolgen müsse. Kritik an der strategischen Prozessführung ist häufig nur Kritik an der ausschweifenden Entscheidungsfindungspraxis der Gerichte.

Fazit

Strategische Prozessführung gerät immer häufiger in den Fokus der deutschen rechtswissenschaftlichen Debatte. Die Rezeption dieser Praxis fällt dabei unterschiedlich aus. Einige heißen die strategische Prozessführung als Mittel der Rechts- und Interessendurchsetzung von Minderheiten willkommen. Sie verhelfe zu mehr Rechtsstaatlichkeit, indem gezielt verfassungswidrige Zustände von privatrechtlichen Organisationen aufgedeckt, angeprangert und gerichtlich bekämpft werden. Andere hingegen bezweifeln nicht nur die Effektivität einer solchen Praxis, sondern besorgen auch verfassungsrechtliche Probleme, insbesondere in Bezug auf den Grundsatz des Individualrechtsschutzes und der Gewaltenteilung. Unabhängig davon, wie man die strategische Prozessführung letztlich bewertet, sollte man sich den Unterschied vor Augen führen zwischen einer möglicherweise seine Grenzen überschreitenden Judikative und einer strategischen Prozessführung, die – im Rahmen des prozessrechtlich Erlaubten – klagebefugte Personen dabei unterstützt, ihre grundgesetzlich garantierten Rechte geltend zu machen. Es liegt allein in der Verantwortung der Gerichte, wie sie mit den Verfahren umgehen, die Rechtssuchende an sie herantragen.

Zitiervorschlag: Nam Nguyen, Strategische Prozessführung – Ein Schaf im Wolfspelz?, JuWissBlog Nr. 87/2021 v. 21.9.2021, https://www.juwiss.de/87-2021/

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