von JANNIK KLEIN
Mehr als 82 % der Wahlberechtigten haben einen neuen Bundestag gewählt. Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis erreichen Union und SPD mit 328 von 630 Sitzen eine potenzielle Regierungsmehrheit. Erstmals verliert die politische Mitte jedoch die parlamentarische 2/3-Mehrheit, um etwa das Grundgesetz ändern zu können. Wie geht es nun weiter? Welche Mehrheiten können sich im 21. Deutschen Bundestag bilden? Darf der bisherige Bundestag noch das Grundgesetz ändern?
Regierungsmehrheit für Union und SPD
Bis zum frühen Montagmorgen war unklar, ob Union und SPD eine parlamentarische Mehrheit erreichen, um eine Bundesregierung bilden zu können. Schon nach den ersten Hochrechnungen zeigte sich, dass die FDP den Einzug in den Bundestag wohl verpassen würde. Das BSW machte es bis zum Schluss spannend, scheiterte nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis jedoch mit 4,972 % äußerst knapp an der 5 %-Sperrklausel. Nur aufgrund des Nichteinzugs des BSW gibt es eine parlamentarische Mehrheit für eine schwarz-rote Koalition, früher auch „große Koalition“ genannt. Andernfalls hätte wohl eine sog. Kenia-Koalition aus Union, SPD und Grünen über eine Regierungsbildung verhandeln müssen.
Union und SPD haben zwar lediglich eine Mehrheit von 12 Stimmen „über dem Durst“. Solch knappe Mehrheiten können allerdings durchaus disziplinierend auf die Mitglieder von Regierungsfraktionen wirken. In der Vergangenheit haben Bundesregierungen schon mit einer geringeren Mehrheit relativ stabil gearbeitet. Zunächst müssen sich Union und SPD jedoch auf einen Koalitionsvertrag verständigen, der wohl auch noch den SPD-Mitgliedern in einem Mitgliedervotum vorgelegt werden dürfte.
Wie geht es nun weiter? Art. 39 Abs. 2 GG sieht vor, dass der Bundestag spätestens am dreißigsten Tage nach der Wahl zusammentritt. Der 21. Deutsche Bundestag wird sich daher spätestens am 25. März 2025 konstituieren. Damit enden nach Art. 69 Abs. 2 GG die Amtsverhältnisse des Bundeskanzlers und aller Bundesminister. Am gleichen Tag wird der Bundespräsident – bisheriger Staatspraxis folgend, von deren Beibehaltung auch zu Beginn der neuen Legislaturperiode sicher ausgegangen werden darf – den Bundeskanzler nach Art. 69 Abs. 3 GG ersuchen, die Geschäfte weiterzuführen, bis die Mitglieder des Bundestages einen Bundeskanzler gewählt haben. Mit der geschäftsführenden Bundesregierung vermeidet das Grundgesetz eine regierungslose Zeit und sichert die Funktionsfähigkeit der Bundesregierung.
Keine 2/3-Mehrheit für die politische Mitte
Erstmals verliert die politische Mitte aus Union, SPD, Grünen und SSW mit 414 von 630 Sitzen die parlamentarische 2/3-Mehrheit von 420 Stimmen. Eine solche Mehrheit ist etwa nach Art. 79 Abs. 2 GG erforderlich, um das Grundgesetz zu ändern. AfD und Linke können mit ihren 216 Stimmen fortan eine Verfassungsänderung blockieren. Eine 2/3-Mehrheit ist aber auch bei der Wahl der Richter des Bundesverfassungsgerichts relevant. Sie benötigen nach § 6 Abs. 1 S. 2 BVerfGG eine Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens die Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestages. Im Gegensatz zur verfassungsändernden Mehrheit bedarf es jedoch nicht der 2/3-Mitgliedermehrheit, also zwingend 420 Ja-Stimmen, sondern „nur“ der 2/3-Stimmenmehrheit. Somit zählen nur die Ja- und die Nein-Stimmen; Enthaltungen und nicht anwesende Mitglieder wirken sich hingegen nicht negativ aus. Daher käme eine Mehrheit für die Wahl eines Verfassungsrichters auch zustande, wenn etwa einzelne Abgeordnete der Linken nicht abstimmen. Sollte eine Wahl von Verfassungsrichtern im Bundestag scheitern, könnte erstmals der neue sog. Ersatzwahlmechanismus des § 7a Abs. 5 BVerfGG greifen und daraufhin der Bundesrat das Wahlrecht ausüben, in dem Union, SPD und Grüne gegenwärtig aber nur mithilfe einer weiteren Partei (FDP, Freie Wähler, Linke oder BSW) über eine 2/3-Mehrheit verfügen. Für eine Änderung des Grundgesetzes müssten dagegen – eine geschlossene Zustimmung von Union, SPD, Grünen und SSW unterstellt – mindestens sechs Abgeordnete der AfD oder der Linken aktiv zustimmen.
Alte Mehrheit trotz neuer Wahl?
Zu absehbaren Problemen führt das u.a., wenn das Grundgesetz geändert werden soll, um höhere Verteidigungsausgaben zu ermöglichen. Eine Zustimmung der Linken hierzu erscheint derzeit unwahrscheinlich – und eine Kooperation mit der AfD schließen die übrigen Parteien aus. Die aktuelle Wahlperiode endet nach Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG erst mit dem Zusammentritt des 21. Deutschen Bundestages. Damit vermeidet das Grundgesetz eine parlamentslose Zeit; der Bundestag ist mithin jederzeit funktionsfähig. So hat etwa der 13. Deutsche Bundestag nach der Bundestagswahl 1998 und noch vor der Konstituierung des 14. Deutschen Bundestages über den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo-Krieg entschieden (BT-Plenarprotokoll 13/248). Um das Grundgesetz für eine Reform der Schuldenbremse oder die Neuauflage eines Sondervermögens für die Bundeswehr zu ändern, könnte daher theoretisch noch die Mehrheit des 20. Deutschen Bundestages genutzt werden. In diesem verfügen Union, SPD und Grüne gemeinsam über eine verfassungsändernde Mehrheit von 520 der 733 Sitze.
Formell dürfte eine solche Grundgesetzänderung unter Beachtung des Art. 79 Abs. 1, 2 GG verfassungskonform möglich sein. Dem Gesetzgeber steht ein weiter Gestaltungsspielraum zu, wie er die Verfahrensabläufe im Bundestag bestimmt. Nach dem Bundesverfassungsgericht wird der Gestaltungsspielraum wohl erst in einer die formelle Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes tangierenden Weise überschritten, „wenn das Abgeordnetenrecht gem und der Grundsatz der Öffentlichkeit der parlamentarischen Beratung gem. Art. 42 I 1 GG ohne sachlichen Grund gänzlich oder in substanziellem Umfang missachtet werden“ (BVerfG, Urt. v. 30. Juli 2024, Az. 2 BvF 1/23 u.a., Rn. 131 m.V.a. BVerfGE 165, 206 Rn. 96; BVerfGE 166, 304 Rn. 91). Mit Blick auf die in Verfahrensfragen notwendige Rechtssicherheit überzeugt eine eher restriktive Missbrauchskontrolle des Bundesverfassungsgerichts. Noch bestünde ausreichend Zeit für die Abgeordneten, sich über den Beratungsgegenstand einer Grundgesetzänderung eine eigene Meinung bilden und davon ausgehend an der öffentlichen Beratung und Beschlussfassung des Parlamentes mitwirken zu können. Sofern Fristen o.Ä. verkürzt werden müssten, könnte eine 2/3-Anwesendenmehrheit nach § 126 GO-BT auch zulässigerweise von der Geschäftsordnung des Bundestages abweichen.
An der Verfassungsmäßigkeit dürfte auch die Tatsache nichts ändern, dass das Grundgesetz vom alten Bundestag geändert werden würde, obwohl bereits ein neuer Bundestag gewählt wurde. Zwar wirkt es auf den ersten Blick merkwürdig, nach einer Neuwahl noch mit einer „abgewählten“ Mehrheit die Verfassung zu ändern. Dieses Störgefühl könnte verfassungsrechtlich im Demokratieprinzip aus Art. 20 Abs. 1, 2 GG verortet werden, das in seinen Grundsätzen durch die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG geschützt ist. Danach muss sich die durch den Wahlakt neu vermittelte Legitimation des Parlamentes verfassungsrechtlich zeitnah verwirklichen. Zugleich müssen die Wahlorgane aber ausreichend Zeit haben, um das Ergebnis ordnungsgemäß festzustellen (in diesem Jahr voraussichtlich am 14. März 2025). Nach dem Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen entspricht es einem demokratischen Grundsatz, „dass zwischen Wahl und Konstituierung neu gewählter Volksvertretungen äußerstenfalls drei Monate liegen dürfen“ (VerfGH NRW, Urteil vom 18. Februar 2009, VerfGH 24/08). Das Grundgesetz gewährt in Art. 39 Abs. 2 GG sogar ausdrücklich nur eine relativ kurze Zeitspanne von bis zu 30 Tagen, „bis sich die vom Wähler in der Wahl getroffene Entscheidung im Staatsleben praktisch auswirken kann“ (BT-Drs. 7/5491, 6). Im Zusammenspiel mit Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG nimmt das Grundgesetz bewusst in Kauf, dass der alte Bundestag – trotz der bereits erfolgten Wahl zu einem neuen Bundestag – noch neue Gesetze beschließt.
Auch wenn damit verfassungsrechtliche Bedenken im Ergebnis wohl nicht durchgreifen: Ob eine schnelle Verfassungsänderung nach einer Bundestagswahl mit einer alten, zukünftig nicht mehr vorhandenen Mehrheit klug ist, muss politisch diskutiert und im Zweifel vor den Wählern verantwortet werden.
Gibt es eine Kontrollmehrheit gegen die Regierung?
Im 21. Deutschen Bundestag wäre eine Reform der Schuldenbremse oder die Neuauflage eines Sondervermögens für die Bundeswehr nur mit Stimmen der AfD oder der Linken möglich, weil das Grundgesetz geändert werden müsste. Anders sieht es indes aus, wenn die Kreditobergrenzen der – normativ nicht angetasteten – sog. Schuldenbremse überschritten werden sollen. Ein solcher Überschreitungsbeschluss bedarf nach Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG „nur“ der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, künftig also von 316 Stimmen. Verfassungsgerichtlich überprüfbar wäre der Beschluss in Verbindung mit dem Haushaltsgesetz im Wege des abstrakten Normenkontrollverfahrens. Antragsberechtigt sind nach Art. 94 Abs. 1 Nr. 2 GG die Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Viertel der Mitglieder des Bundestages. Sofern der Bundestag eine Überschreitung der Schuldenbremse beschließt, kommen als Antragsteller faktisch wohl nur ein Viertel der Mitglieder des Bundestages in Betracht, weil Union und SPD die Bundesregierung stellen würden und derzeit mindestens eine der drei Parteien an jeder Landesregierung beteiligt sind. Weder AfD allein noch Grüne, Linke und SSW zusammen verfügen jedoch über 158 Stimmen, die für einen Normenkontrollantrag erforderlich sind. Wenn letztere ein gemeinsames Agieren mit der AfD ablehnen, könnte eine Überprüfung eines Überschreitungsbeschlusses der Schuldenbremse durch das BVerfG schon am fehlenden Quorum scheitern. So würde es auch anderen Kontrollinstrumenten wie etwa einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss ergehen, der nach Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG eine konkrete Einsetzungsminderheit von einem Viertel der Mitglieder des Bundestages erfordert.
Zitiervorschlag: Klein, Jannik, Alte oder knappe Mehrheiten nach der Bundestagswahl, JuWissBlog Nr. 21/2025 v. 27.02.2025, https://www.juwiss.de/21-2025/
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