Nach der Bundestagswahl werden sich die Mehrheitsverhältnisse im neuen Bundestag deutlich verschieben. Besonders schwierige Szenarien wie eine Sperrminorität für die AfD sind zwar nicht eingetreten. Insbesondere wird aber die oft als „politische Mitte“ bezeichnete Dreiergruppe aus CDU, SPD und den Grünen keine 2/3-Mehrheit mehr haben und damit auch keine Verfassungsänderungen ohne Unterstützung der Linkspartei oder AfD verabschieden können. Sowohl Friedrich Merz als auch Teile der Grünen zeigen sich deshalb offen für die Idee, noch mit der alten Bundestagsmehrheit das Grundgesetz für den Bereich der Schuldenbremse zu ändern und beispielsweise ein neues Sondervermögen zu beschließen. Für eine solche Grundgesetzänderung ist der alte Bundestag zwar hinreichend legitimiert (I.), allerdings besteht eine Pflicht der amtierenden Bundestagspräsidentin, sobald der neue Bundestag einberufen werden kann, nicht mehr den alten, sondern stattdessen bereits den neuen Bundestag einzuberufen (II.). Diese Pflicht kann auch prozessual von den neuen Abgeordneten durchgesetzt werden (III.). Im Ergebnis müssten die beteiligten Akteure deshalb jetzt sehr schnell vorgehen, um noch eine Grundgesetzänderung zu erreichen (IV.).
I. Die Legitimation des alten Bundestages
Dass der alte Bundestag noch Beschlüsse fassen soll, während der neue Bundestag bereits gewählt ist, mag zunächst seltsam anmuten. Tatsächlich ist dies aber der von Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG vorgesehene Regelfall. Die Wahlperiode des alten Bundestages endet erst mit der Konstituierung des neuen Bundestages. In der juristischen Literatur zu Art. 39 GG herrscht – soweit ersichtlich – Einigkeit, dass der sogenannte „Alt-Bundestag“ in dieser Übergangsphase zwischen Wahl und Konstituierung des neuen Bundestages keinerlei Beschränkungen unterliegt und auch keine Rücksicht auf den neuen Bundestag nehmen muss. Dies gilt wohl auch für Grundgesetzänderungen, obwohl hier eine besonders schwerwiegende Bindungswirkung entsteht, die auch nicht mit einer einfachen Mehrheit umkehrbar ist. Argumentativ lässt sich neben dem Wortlaut von Art. 39 Abs. 1 GG anführen, dass die Abgeordneten weiterhin vollumfänglich legitimiert sind (vgl. Groh in von Münch/Kunig, Art. 39 GG Rn. 12). Auch im hier vorliegenden Fall einer vorzeitigen Auflösung des Bundestages gemäß Art. 68 Abs. 1 GG ist dies der Fall (vgl. Groh in von Münch/Kunig, Art. 39 GG Rn. 12). Sinn und Zweck von Art. 39 Abs. 1 GG ist es, die jederzeitige Handlungsfähigkeit des Bundestages gerade in eilbedürftigen Sachen sicherzustellen. Im bisher einzigen Fall der Einberufung des Alt-Bundestages nach einer Wahl handelte es sich um eben so eine Eilentscheidung, konkret zum Kosovo-Einsatz der Bundeswehr (Klein/Schwarz in Dürig/Herzog/Scholz, Art. 39 GG Rn. 53). Auch wenn vorliegend eine Änderung der Schuldenbremse höchstens in Hinblick auf die Neukonstituierung des Bundestages mit veränderten Mehrheiten als eilig erscheint, stellt dies zumindest nach der ganz herrschenden Meinung im Schrifttum kein Problem dar. Der alte Bundestag ist in seinen Entscheidungen voll souverän und darf jegliche, auch nicht eilige Beschlüsse fassen.
II. Die Einberufungspflicht der Bundestagspräsidentin
Während einer solchen Änderung in Bezug auf die Abstimmung durch den Bundestag also kaum Bedenken entgegenstehen, stellt sich bereits auf einer vorgelagerten Ebene ein verfassungsrechtliches Problem. Lothar Michael hat dies 2016 in einem Beitrag im Handbuch Parlamentsrecht beschrieben (Michael in Schliesky/Morlok/Wiefelspütz Hdb. Parlamentsrecht, § 49 Rn. 17 f.) und der aktuelle Fall zeigt besonders eindrücklich, warum diese Argumentationslinie hoch relevant ist. Problematisch ist nach Michael nicht die Abstimmung durch den alten Bundestag, sondern die Einladung zu dessen Sitzung durch die Bundestagspräsidentin. Die Bundestagspräsidentin befindet sich in einer Doppelrolle: Sie ist einerseits noch regulär dem alten Bundestag zugeordnet und kann diesen einladen, gleichzeitig nimmt sie treuhänderisch die Geschäfte des neuen Bundestages wahr und lädt diesen nach lang bestehender – und wohl verfassungsgewohnheitsrechtlich verdichteter – Tradition in enger Abstimmung mit den voraussichtlichen Fraktionen zur ersten Sitzung ein (Klein/Schwarz in Dürig/Herzog/Scholz, Art. 39 GG Rn. 46). Dazu ist sie rechtlich auch unstreitig verpflichtet, die Frage ist allerdings, ab welchem Zeitpunkt eine solche Verpflichtung besteht. Art. 39 Abs. 2 GG spricht von einer maximalen Dauer von 30 Tagen nach der Wahl bis zur Konstituierung des neuen Bundestages. Auch wenn dies in der jüngeren Vergangenheit oft ausgeschöpft wurde, wird dadurch eine frühere Einladung nicht behindert. Im Gegenteil spricht eine Maximaldauer dafür, dass im Regelfall eine frühere Einladung möglich sein sollte. Sinn und Zweck der 30-Tagesfrist ist bloß sicherzustellen, dass der neue Bundestag möglichst bald einberufen wird und nicht, einen genau definierten Übergangszeitraum festzulegen. Sobald aber eine Einladung beider Bundestage möglich ist, so Michael, der mit der Organqualität des Bundestages argumentiert, muss der neue und nicht der alte Bundestag eingeladen werden (Michael in Schliesky/Morlok/Wiefelspütz Hdb. Parlamentsrecht, § 49 Rn. 17). Dem ist ausdrücklich beizupflichten und dies ist vor allem auch aus dem Telos von Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG herzuleiten. Der alte Bundestag besteht nur deshalb gemäß Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG weiter, damit es immer einen Bundestag gibt, der handlungsfähig ist und auch wichtige Entscheidungen treffen kann. Für die Zukunft soll dann aber nach der Wahl möglichst bald ein neuer Bundestag zusammentreten, der den aktualisierten Willen der Wählerinnen und Wähler repräsentiert. Das Grundgesetz möchte Kontinuität, aber keinen Stillstand. Für eine Pflicht zur Einberufung des neuen Bundestages lässt sich auch das Demokratieprinzip aus Art. 20 GG anführen, das die Periodizität von Wahlen aufgibt, was Art. 39 GG wiederum konkretisiert (vgl. Kotzur in von Münch/Kunig, Art. 20 GG Rn. 114). Die zeitliche Begrenzung von Macht ist ein wichtiger Mechanismus zur Rückkoppelung eines repräsentativen Organs an die Bevölkerung. Die Idee von der Herrschaft auf Zeit wird allerdings missachtet, wenn ohne organisatorische Not nicht ein aktueller, sondern ein alter Bundestag eingeladen wird, bloß weil im Grundgesetz eine Maximalfrist zur Einberufung vorgesehen ist.
Wenn man dieser Argumentation folgt, kommt man bei sehr praktischen organisatorischen Fragen an. Ab wann kann ein neuer Bundestag eingeladen werden und wie aufwändig ist die Einladung eines neuen Bundestages im Vergleich zur (ebenfalls ja außerplanmäßig stattfindenden) Einladung eines alten Bundestages? Bis zur endgültigen Feststellung des Wahlergebnisses dauert es voraussichtlich noch bis zum 14. März, dieses wird erfahrungsgemäß aber kaum vom bereits vorhandenen vorläufigen amtlichen Endergebnis abweichen. Viele organisatorische Fragen lassen sich ebenfalls bis dahin klären. Die Abgeordneten dürften bis zu diesem Zeitpunkt genug Zeit gehabt haben, sich klar zu werden, ob sie ihr Mandat antreten wollen. Die Linksfraktion wird sich neu bilden müssen, dies dürfte aber angesichts der erst vor nicht allzu langer Zeit verlorenen Fraktionseigenschaft einigermaßen schnell gehen. Viele andere Fraktionen sind bereits jetzt zusammengetreten und haben teilweise sogar ihre Fraktionsspitzen gewählt. Die Einberufung des alten Bundestages selbst begegnet hingegen durchaus auch Schwierigkeiten, beispielsweise muss die FDP-Fraktion abgewickelt werden und verliert insofern auch an Arbeitsfähigkeit. Viele Abgeordnete haben aufgrund der Wahlrechtsreform im nun kleineren neuen Bundestag ihr Mandat verloren und orientieren sich schon in Richtung ihres Privatlebens. Spätestens einige Tage nach dem 14. März wird sich die Bundestagspräsidentin also fragen müssen, ob der Einladung des neuen Bundestages wirklich unüberwindbare Hürden im Vergleich zur Einladung des alten Bundestages entgegenstehen.
III. Die prozessuale Durchsetzung
Diese Pflicht zur Einladung des neuen Bundestages durch die (alte) Bundestagspräsidentin ist auch prozessual über das Organstreitverfahren abgesichert. Jede:r zukünftige Abgeordnete kann sich unter Berufung auf Art. 38 GG vor dem BVerfG gegen die verspätete Einladung des neuen Bundestages wehren. Gegen die Zulässigkeit eines solchen Organstreitverfahrens scheint zunächst zu sprechen, dass die zukünftigen Abgeordneten des neuen Bundestages vor seiner Konstituierung noch nicht Teile eines bereits bestehenden obersten Bundesorgans sind und auch ihren Status als Abgeordnete erst durch die Konstituierung erlangen. Insofern könnte man sowohl an der Parteifähigkeit als auch an der Antragsbefugnis zweifeln. Wenn man aber eine Pflicht zur Einladung durch die Bundestagspräsidentin annimmt, wäre es widersprüchlich, die Zulässigkeit eines Organstreitverfahrens mit dem Argument abzulehnen, die Bundestagsabgeordneten seien aufgrund eben dieser unterlassenen Einladung noch nicht dazu in der Lage, sich zu beschweren. Dies würde einem effektiven Rechtsschutz entgegenlaufen und die besonders wichtigen Abgeordnetenrechte aus Art. 38 GG entscheidend schwächen. Es gäbe dann auch nach Ablauf der 30-Tagesfrist aus Art. 39 Abs. 2 GG keinen Rechtsschutz, was wenig überzeugend scheint.
Gegen ein zulässiges Verfahren ließe sich außerdem anführen, dass es den neuen Bundestagsabgeordneten gar nicht um die Einladung des neuen, sondern die Verhinderung der Sitzung des alten Bundestages ginge und es insofern am Rechtsschutzbedürfnis mangele, da ihre Abgeordnetenrechte durch Beschlüsse des alten Bundestages (wohl) nicht verletzt werden. Auch dieser Einwand greift aber nicht, da die Abgeordneten wie dargestellt ein Recht auf die Einberufung des neuen Bundestages haben, das durch die fehlende Einberufung verletzt wird. Bloß weil dieser Konflikt erst durch die unzulässige Einladung des alten Bundestages durch die Bundestagspräsidentin zutage tritt, verlieren die Abgeordneten nicht ihr Rechtsschutzbedürfnis.
Abgesehen von individuellen Abgeordnetenrechten wäre auch an einen Antrag durch die noch nicht neu gebildeten Fraktionen zu denken. Einer Geltendmachung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 32 BVerfGG stehen in beiden Fällen keine Bedenken entgegen.
IV. Ein schnelles Vorgehen ist notwendig
Aus alledem ergibt sich ein durchaus ernst zu nehmendes verfassungsrechtliches Problem. Ob die Argumentationslinie letztendlich vor dem BVerfG Bestand hätte, ist schwer abzusehen. Verfassungsgerichtliche Rechtsprechung gibt es dazu nicht. Insbesondere die Linke dürfte ein großes Interesse daran haben, dass nur mit ihr eine Änderung des Grundgesetzes möglich ist und könnte ein entsprechendes Verfahren anstoßen. Den „Parteien der Mitte“ ist also zumindest zu raten, sich sehr schnell auf ein gemeinsames Vorgehen zu verständigen. Je weiter die Abstimmung über eine mögliche Grundgesetzänderung von der 30-Tagesfrist aus Art. 39 Abs. 2 GG entfernt liegt, desto mehr Gründe sprechen für eine zulässige Einladung des alten und gegen eine notwendige Einladung des neuen Bundestages. Spätestens in der Woche vor dem 25. März darf der alte Bundestag nicht mehr einberufen werden.
Zitiervorschlag: Kisczio, Christian, Zwischen Tür und Angel – Zur unzulässigen Einberufung des Bundestages, JuWissBlog Nr. 22/2025 v. 27.02.2025, https://www.juwiss.de/222-2025/
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4 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Ich vermisse den Hinweis darauf, dass gemäß der Verhältnismäßigkeit entschieden werden müsste.
Der jetzige alte Bundestag läuft nicht harmonisch wie üblich aus, weil nach 4 Jahren durch Wahlen ein neuer Bundestag feststeht, sondern er wurde zwangsweise am 27.12. 2024 a u f g e l ö s t. Die Vertrauensfrage verlief negativ. Hieraus müsste sich ergeben, dass der neue Bundestag, wenn keine extreme Dringlichkeit vorliegt(wie Kriegseintritt oder ähnliche) , k o m p e t e n t e r dem Willen des Volkes ( = Demokratie) entspricht. Im jetzigen Fall einer notwendig gewordenen zwangsweisen Auflösung des alten Bundestags ist m. E. wegen der Umstände dieser Zwänge nur noch in eiligen Fällen und in dem Fall, dass der neue Bundestag nicht zeitnah einberufen werden kann eine Versammlung des alten Bundestages verhältnismäßig. Wie ich weiß entscheidet das Bundesverfassungsgesetz im Zweifelsfall nach Verhältnismäßigkeiten, bzw. was von der einen Seite verhältnismäßig hinzunehmen ist.
Das Bundesverfassungsgericht macht nur dann eine Abwägung der Verhältnismäßigkeit, wenn das Gesetz selbst auf diese Ermessensabwägung ausdrücklich hinweist. Das ist im besagten Artikel 39 eindeutig nicht der Fall. Ihre Aussage trifft daher auf vorliegenden Fall nicht nicht zu.
[…] aber nicht ausschöpfen muss. In der Klageschrift heißt es, die amtierende Bundestagspräsidentin sei aber verpflichtet, den neuen jederzeit einzuberufen, um „die anstehenden Entscheidungen in dem neu gewählten […]
[…] des Alt-Bundestags nach der Wahl anzunehmen. Stellvertretend sei hier auf die Ausführungen von Christian Kisczio […]