Thüringer Landtag bald ohne Parlamentspräsident?

von RICO NEIDINGER

Bei der Landtagswahl in Thüringen am 1.9.2024 erlangte die AfD nach vorläufigem Endergebnis 32,8 % der Stimmen. Mit den daraus resultierenden 32 Sitzen ist sie klar die größte Fraktion im 8. Thüringer Landtag. Unabhängig von der schwierigen Regierungsbildung entsteht daraus ein parlamentsrechtliches Problem: Die Wahl des Parlamentspräsidenten. Das Vorschlagsrecht für dieses Amt liegt traditionell bei der stärksten Fraktion, was die AfD ist und die entsprechend Wiebke Muhsal nominierte. Deren Wahl erscheint aber wegen Ablehnung durch die anderen Fraktionen nahezu ausgeschlossen. Ein verfassungskonformer Ausweg: ein Landtag ohne Präsident.

1. Ausgangslage

Der Landtag tritt gemäß Art. 50 III 2 ThürVerf spätestens am 30. Tag nach der Wahl zusammen. Terminiert ist die konstituierende Sitzung auf den 26.9.2024 und damit innerhalb des vorgesehenen Zeitrahmens.

Der organisatorische Ablauf der ersten Sitzung ergibt sich aus § 1 der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags (GOLTTH). Die Regelung findet unabhängig von der grundsätzlichen Diskussion um die Diskontinuität der Geschäftsordnung auch unmittelbar Anwendung, da in Thüringen mit dem Thüringer Geschäftsordnungsgesetz (ThürGOG) eine parlamentsrechtliche Sonderkonstellation existiert: § 1 ThürGOG ordnet an, dass die Geschäftsordnung so lange fort gilt, bis der Landtag eine neue Geschäftsordnung beschlossen hat. Damit steht zumindest die rechtliche Grundlage außer Diskussion.

Geleitet wird die erste Sitzung des Landtages gem. § 1 Abs. 2 GOLTTH durch das an Jahren älteste Mitglied, dem sog. Alterspräsidenten. Dies wird voraussichtlich Jürgen Treutler (AfD) sein. Nachdem er zwei Abgeordnete als vorläufige Schriftführer ernannt hat und durch Namensaufruf der Abgeordneten die Beschlussfähigkeit des Landtags festgestellt hat, findet die Wahl des Präsidenten und anschließend die der Vizepräsidenten statt.

Die Wahl richtet sich nach § 2 GOLTTH. Gemäß Absatz 1 erfolgt die Wahl geheim und ohne Aussprache. Gewählt ist, wer die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen erhält. Ergibt sich keine Mehrheit, können für weitere Wahlgänge neue Bewerber vorgeschlagen werden.

Für die Wahlvorschläge sieht § 2 II GOLTTH vor, dass die stärkste Fraktion ein Mitglied des Landtags für die Wahl zum Präsidenten und die anderen Fraktionen jeweils einen Abgeordneten für die Wahl des Vizepräsidenten vorschlagen, sodass jede Fraktion im Vorstand des Landtags mit einem Mitglied vertreten ist.

2. Umsetzung und Auslegungsmöglichkeit

Damit erscheint die Sachlage klar: Der AfD kommt gem. § 2 II 1 GOLTTH das Vorschlagsrecht für den Landtagspräsidenten zu. An dieser Stelle ist bereits festzuhalten, dass das Vorschlagsrecht kein Anspruch auf die Besetzung des Amtes ist. Der Abgeordnetenstatus begründet bereits keinen Anspruch auf Zugang zu den Leitungsämtern des Parlaments. Vielmehr steht das Vorschlagsrecht nach der insofern übertragbaren Rechtsprechung des BVerfG zum Bundestagsvizepräsidenten und der Ausschussvorsitzenden unter einem Wahlvorbehalt durch den Landtag. Dass der AfD Wahlvorschlag die erforderliche Mehrheit erlangt, ist angesichts des bisherigen Wahlverhaltens der Landtagsfraktionen zum AfD-Vizepräsidenten eher unwahrscheinlich.

Daher stellt sich die Frage, was dann gilt. Mit dieser Frage wird parlamentsrechtliches Neuland betreten. Entsprechend kann nicht auf bestehendes Gewohnheitsrecht zurückgegriffen werden. Es fehlt bereits an der entsprechenden Praxis für Fälle, in denen der erste Wahlvorschlag der stärksten Fraktion nicht die erforderliche Mehrheit gefunden hat.

Angesichts der im Thüringer Landtag herrschenden Mehrheitsverhältnisse eher untauglich ist der Vorschlag, über eine Abweichung im Einzelfall gem. § 120 GOLTTH vorzugehen. Die dafür notwendige Zweidrittelmehrheit wird an der Sperrminorität der AfD scheitern. CDU und BSW planen laut Presseberichterstattung eine Änderung der Geschäftsordnung vor der Wahl in der konstituierenden Sitzung. Das dürfte zwar nicht daran scheitern, dass eine solche Geschäftsordnungsänderung nicht auf der vorläufigen Tagesordnung steht. Denn auf Antrag einer Fraktion oder von mindestens zehn Abgeordneten kann mit einfacher Mehrheit eine Abweichung gem. § 22 GOLTTH beschlossen werden. Allerdings muss die Vorlage mit einer Frist von sieben Tagen Vorlauf (§ 51 I GOLTTH) verteilt werden, eine Abweichung davon dürfte die AfD wiederum mit ihrer Sperrminorität gem. § 66 II GOLTTH verhindern. Ob darüber hinaus eine Geschäftsordnungsänderung unmittelbar vor der Wahl politisch klug oder wieder Wasser auf die Mühlen der „AfD-Opferrolle“ ist, steht auf einem anderen Blatt.

Sollte diese Möglichkeit ausfallen, ist die Lösung durch Auslegung der Geschäftsordnung unter Beachtung der allgemeinen Prinzipien zu finden. So vermeintlich klar die einzelnen Absätze von § 2 GOLTTH für sich genommen sind, wirft die Zusammenschau beider Regeln bereits die Frage auf, ob das Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion immer oder nur für den ersten Wahldurchgang gilt. Legt man den Fokus auf § 2 I 4 GOLTTH lässt sich vertreten, dass für die weiteren Wahlgänge auch die anderen Fraktionen vorschlagsberechtigt sind. § 2 II GOLTTH würde dann nur eine Regelung für den Vorschlag zum ersten Wahlvorgang darstellen. Das wäre aber eine recht formale Betrachtung und ließe außer Acht, dass der Landtag dem Grundsatz der Gleichheit verpflichtet ist, der sich als Teilhabeanspruch auch auf geschäftsordnungsrechtlich gewährte Beteiligungsrechte erstreckt und seinen Ausdruck unter anderem im Recht auf eine faire und loyale Auslegung und Anwendung der Geschäftsordnung findet. Hinter den Vorschlagsregelungen steht damit durchaus ein verfassungsrechtlicher Anspruch der Fraktionen. In diesem Zusammenhang erscheint es fraglich, ob die völlige Nichtbeachtung von § 2 II GOLTTH auch vor dem Hintergrund der in der Vergangenheit dem entsprechenden Parlamentsbrauch folgenden Praxis, dass die stärkste Fraktion den Parlamentspräsidenten stellt, dem Grundsatz der fairen und loyalen Anwendung der Geschäftsordnung entspricht. Schließlich würde das Vorschlagsrecht damit vollständig übergangen, was eine andere Eingriffsqualität als die Nichtwahl von Vorschlägen darstellt.

Vor diesem Hintergrund wäre es denkbar entsprechend dem bisherigen Vorgehen zu den AfD-Wahlvorschlägen für den Vizepräsidenten: den Posten des Parlamentspräsidenten unbesetzt zu lassen und nur Vizepräsidenten zu wählen, die dann als Stellvertreter die Aufgaben des Präsidenten wahrnehmen. Das scheint wegen der herausgehobenen und in Art. 57 ThürVerf verfassungsrechtlich normierten Stellung des Präsidenten kontraintuitiv. Gleichwohl sehen die Regelungen nur das Amt vor, garantieren aber nicht, dass es immer und zu jeder Zeit auch einen Amtswalter gibt. Letzteres zeigen bereits die Abwahlmöglichkeit in § 2 III GOLTTH und der automatische Amtsverlust bei einem Fraktionsaustritt, § 2 IV GOLTTH. In beiden Fällen kommt es zu einer zumindest zeitweisen Vakanz mit der Folge, dass das Präsidentenamt via Stellvertretung durch einen Vizepräsidenten wahrgenommen wird. Auch § 1 II GOLTTH sieht die Übernahme der Sitzungsleitung der konstituierenden Sitzung durch einen Stellvertreter ausdrücklich vor. Vergleicht man die Wahlregelungen in der GOLTTH mit § 2 II GOBT, wird wiederum deutlich, dass die Thüringer Regelung nicht zwingend und in jedem Fall die Wahl eines Präsidenten verlangt. Das mit zunehmendem Zeitablauf der Parlamentsgeschichte immer mehr an Bedeutung gewonnene Proporzprinzip und das damit zusammenhängende Vorschlagsrecht der Fraktionen erscheint damit in der aktuellen Ausgestaltungsform in Thüringen im Ergebnis Vorrang vor der absoluten Besetzung eines Amtes zu haben, und sei es auch dasjenige des Parlamentspräsidenten.

Der Weg zu diesem Vorgehen liegt beim Landtag selbst. Zwar ist zur Auslegung der Geschäftsordnung zunächst in entsprechender Anwendung von § 121 I GOLTTH der Alterspräsident berufen. Gegen diese Entscheidung sieht § 121 II GOLTTH aber eine Einspruchsmöglichkeit von mindestens zehn Abgeordneten vor, über den regulär der Landtag nach Prüfung durch den Justizausschuss beschließt. Da der Justizausschuss noch nicht existiert, entfällt dieser Prüfungsschritt und der Landtag entscheidet unmittelbar selbst durch einfache Mehrheit.

3. Fazit

Damit erscheint eine vorübergehende präsidentenlose Zeit im Thüringer Landtag möglich. Das dürfte zumindest so lange gelten, bis der Thüringer Landtag sich im Rahmen seiner Geschäftsautonomie unter Einhaltung der Fristen für einen generellen Systemwechsel bei der Präsidentenwahl entschieden hat und sich deutlich vom Proporzprinzip verabschiedet. Das ist gerade beim Präsidentenamt mehr als sinnvoll. Schließlich steht die auf das Vertrauen der Landtagsmehrheit gestützte unparteiliche Amtsführung im Zentrum des Amtes.

Zitiervorschlag: Neidinger, Rico, Thüringer Landtag bald ohne Parlamentspräsident? , JuWissBlog Nr. 63/2024 v. 19.09.2024, https://www.juwiss.de/63-2024/.

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Geschäftsordnung, Konstituierung, Landtagspräsident, Parlamentsrecht, Thüringen
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