von RICO NEIDINGER
Aus dem Recht auf formal gleiche Mitwirkung der Fraktionen an der parlamentarischen Willensbildung folgt kein Anspruch auf eine verfahrensmäßige Ausgestaltung, die eine Wahl eines Kandidaten garantiert. Zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über den „Zugang“ der „Alternative für Deutschland“ (AfD) zu einem Posten als Bundestagsvizepräsident.
Herausforderung
Seit Einzug der AfD in die Parlamente sehen sich die sog. „etablierten Fraktionen“ mit der Frage nach dem Umgang mit den Abgeordneten der AfD konfrontiert. Das betrifft das politische Alltagsgeschäft genauso wie die parlamentarisch-organisatorische Ebene bzw. den Zugang zu durch Parlamentswahl gewährten Ämtern. Letzteres wird insbesondere dann virulent, wenn die bisherige Praxis der Parlamente zumindest durch ein informales Vorschlagsrecht der Fraktionen dominiert wurde oder gar ausdrücklich ein Beteiligungsrecht der Fraktionen normiert ist, wie dies etwa in § 2 I 2 GO-BT der Fall ist. Der Umgang der übrigen Fraktionen mit den „Neulingen“ kann dabei unterschiedlich ausfallen: So wurde die AfD-Kandidatin in Baden-Württemberg zur Richterin ans Landesverfassungsgericht gewählt. Bei der Frage des Bundestagsvizepräsidenten verfügt die AfD entgegen dem auf den ersten Blick scheinbar klaren Wortlaut von § 2 I 2 GO-BT bislang nicht über einen solchen Vertreter. Alle von ihr zur Wahl gestellten Abgeordneten konnten nicht die erforderliche Mehrheit auf sich vereinigen. Nachdem auch diverse Ausweichstrategien – durch Vorschläge einzelner Abgeordneter oder die Nominierung gleich mehrerer Kandidaten – ohne Erfolg blieben, strebte die Partei durch Einleitung eines Organstreits eine bundesverfassungsgerichtliche Klärung an. Die nun ergangene Entscheidung ist ein deutlicher Fingerzeig für ähnlich gelagerte Fälle und lohnt schon deshalb eine nähere Betrachtung. Neben diesem Beschluss ist zudem das Urteil vom gleichen Tag zu berücksichtigen, in dem der Organstreit des AfD-Abgeordneten Jacobi über die Frage eines Vorschlagsrechts eines Abgeordneten für die Wahl des Bundestagsvizepräsidenten entschieden wurde.
Prozessuales
Hinsichtlich des Antrags der AfD-Fraktion lässt das Bundesverfassungsgericht die Zulässigkeit offen und weist ihn als offensichtlich unbegründet i.S.v. § 24 BVerfGG zurück. Dabei scheint es Zweifel an der Antragsbefugnis zu haben (Rn. 25). Hier leiden viele von der AfD angestrengte Verfahren Mangel, was nicht zuletzt als ein Indiz für die sachwidrige Inanspruchnahme der Verfahren des Bundesverfassungsgerichts gedeutet werden kann. Auch im Verfahren des Abgeordneten Jacobi kann sich das Bundesverfassungsgericht einen entsprechenden Hinweis auf die oberflächliche Begründungsweise nicht verkneifen, wenn es die Möglichkeit einer Verletzung organschaftlicher Rechte nur als „noch hinreichend dargelegt“ ansieht (Rn. 30).
Materielle Ausführungen
Materieller Ausgangspunkt ist das aus Art. 38 I 2 GG abgeleitete Recht der Fraktionen auf formal gleiche Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung. Dieses Recht steht grundsätzlich den Abgeordneten zu und wird umfassend im Urteil über den Organstreit des Abgeordneten Jacobi erläutert (Rn. 47 ff.). Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass das Recht aus dem Umstand resultiert, wonach die Repräsentation des Volkes durch das Parlament als Ganzes erfolgt, was wiederum die gleichen Mitwirkungsbefugnisse aller Abgeordneten erfordert. Hier setze sich laut Bundesverfassungsgericht die Wahlrechtsgleichheit „auf der zweiten Stufe der Entfaltung demokratischer Willensbildung fort“ (Rn. 48). Erstmals wurde ausdrücklich festgestellt, dass der Anspruch des Abgeordneten auf gleichberechtigte Mitwirkung umfassend ist und „grundsätzlich alle parlamentarischen Entscheidungen einschließlich der Besetzung der Leitungsstrukturen des Parlaments umfasst“ (Rn. 51). Diese Feststellung kann als Gewinn der Abgeordneten und damit des Parlaments als Ganzen gesehen werden, wenngleich die Vereinbarkeit mit der bisherigen Rechtsprechung (BVerfGE 96, 264, Rn. 69) nicht ganz so klar erscheint, wie das Gericht selbst behauptet.
Das Recht unterliegt zudem verfassungsimmanenten Schranken. Einschränkungen können durch gleichwertige Rechtsgüter von Verfassungsrang, insbesondere die Funktionsfähigkeit des Parlaments, unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt werden. Die Konkretisierung des zur Funktionsfähigkeit Notwendigen obliegt im Rahmen der Parlamentsautonomie zunächst dem Bundestag selbst und unterliegt nur einer eingeschränkten verfassungsgerichtlichen Kontrolle auf evidente Sachwidrigkeit entlang des Grundsatzes der fairen und loyalen Anwendung der Geschäftsordnung (Rn 52 ff.).
Im Zusammenhang des Amtes des Bundestagsvizepräsidenten bedeutet dies, dass das grundsätzlich in § 2 I 2 GO-BT gewährte „Grundmandat“ der Fraktionen mit Blick auf Art. 40 I 1 GG im Sinne eines Rechts auf Zurwahlstellung eines Abgeordneten verstanden werden muss. Diese Einschränkung steht in einem Spannungsverhältnis zu der andernorts betonten interfraktionellen Rolle des Präsidiums (Rn. 91) und lässt gewisse Brüche zwischen den Entscheidungen erkennen. Eine Verfahrensgestaltung, durch die eine Offenlegung oder Begründung des Abstimmungsverhaltens notwendig würde, sei mit dem freien Mandat der Abgeordneten ebenso unvereinbar wie eine Ausgestaltung, die ein faktisches Besetzungsrecht der Fraktionen bedeute, gegen den Vorbehalt der Wahl in Art. 40 I 2 GG verstieße und damit den mit der Wahl einhergehenden legitimatorischen Mehrwert beseitige (Rn. 31 ff.). Letzteres dürfte auch ein Fingerzeig für die Auslegung von § 2 II 5 GO-BT und die Zulässigkeit von Mehrfachbenennungen durch eine Fraktion sein. Da damit faktisch ein Besetzungsrecht durch die Fraktion entstünde, indem im dritten Wahlgang der Kandidat mit der relativen Mehrheit gewählt ist, erscheint eine Anwendung dieser Bestimmung nur für die Präsidentenwahl sinnvoll und damit gleichzeitig die allgemeine Beschränkung des fraktionellen Vorschlagsrechts auf einen Kandidaten pro Wahlgang jedenfalls nicht als evident sachwidrig.
Abschließende Bewertung
Dem Bundesverfassungsgericht gelingt in den Entscheidungen im Ergebnis der Spagat zwischen Parlamentsautonomie, Abgeordnetenstatus und gerichtlicher Kontrolldichte. Es ist zu begrüßen, dass das Bundesverfassungsgericht fundiert Stellung nimmt und seine Entscheidungen ausführlich begründet. Gerade das Verfahren des Abgeordneten Jacobi nutzt das Verfassungsgericht, um die Grundlagen des Abgeordnetenstatus aufzuarbeiten und fortzuentwickeln. Etwas verwundert reibt sich der Leser die Augen bei einem scheinbar beiläufig eingefügten Argument zum Vorteil des Zustandekommens eines Wahlvorschlags für das Vizepräsidentenamt in den Fraktionen. Dies habe zur Folge, so das Bundesverfassungsgericht, dass der Abgeordnete „an das Ergebnis der sich nach der demokratischen Mehrheitsregel vollziehenden fraktionsinternen Willensbildung gebunden“ sei (Rn. 119). Ob das Verfassungsgericht damit tatsächlich eine Aussage zur Bindung des Abgeordneten an Fraktionsentscheidungen treffen wollte, darf schon wegen der Beiläufigkeit bezweifelt werden.
Eine gewisse Abwehrhaltung der „etablierten Fraktionen“ gegenüber „Neulingen“ ist gerade beim Zugang zu Ämtern der parlamentarischen Organisation oder der Berücksichtigung bei informalen Vorschlagsrechten nichts Ungewöhnliches, auch wenn Einzelfragen dabei rechtlich durchaus kritisch zu sehen sind. Diese Abwehrhaltung verstärkt sich, wenn eine Fraktion sich als „Fundamentalopposition“ darstellt und an der Dekonstruktion des parlamentarischen Betriebs mehr Interesse zeigt als an der tatsächlichen Sachpolitik. Bedenklich wird es, wenn demokratische Institutionen für die Stilisierung eines Opfernarrativs missbraucht und deren Reputation und damit das Vertrauen der Bevölkerung in sie nachhaltig zerstört wird.
Der Einzug einer neuen Fraktion in das Parlament hat aber zumindest für den Geschäftsordnungsrechtler auch etwas Positives: Es rüttelt die bisweilen fast eingeschlafene Rechtsmaterie auf und lüftet die angestaubten Instrumente kräftig durch. Zu beachten bleibt aber, dass der frische Wind zwar durchaus zu gewissen Verschiebungen im geschäftsordnungsrechtlichen Instrumentarium führen, aber gleichwohl nicht zu einem Orkan werden darf, der die Grundlagen der parlamentarischen Arbeitsweise quasi hinwegfegt und damit die parlamentarisch-repräsentative Demokratie als Ganzes schädigt. Dem hat das Bundesverfassungsgericht hier entgegengewirkt.
Zitiervorschlag: Rico Neidinger, Gleich bedeutet nicht gleich gewählt, JuWissBlog Nr. 16/2022 v. 25.3.2022, https://www.juwiss.de/16-2022/
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