Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat das Paritätsgesetz für verfassungswidrig erklärt. Obwohl dem Gericht im Ergebnis zuzustimmen ist, überzeugt seine Argumentation nicht. Das Gericht hätte die Verfassungswidrigkeit der Regelung nicht allein mit historischen Erwägungen begründen dürfen.
Vergangenen Mittwoch hat der Thüringer Verfassungsgerichtshof das Thüringer Paritätsgesetz für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Die Entscheidung ist an sich nicht weiter überraschend, das Thüringer Paritätsgesetz war handwerklich weit schlechter gemacht als die Brandenburger Regelung. Die Entscheidung des Gerichts fiel dabei mit 6 zu 3 Stimmen dennoch vergleichsweise knapp aus. Die Begründung des Gerichts ist aber inhaltlich nicht überzeugend.
Vielzahl von Beeinträchtigungen
Lehrbuchartig prüft das Gericht die Beeinträchtigung der Freiheit und Gleichheit der Wahl und kommt zu dem richtigen Ergebnis, dass beide sowohl in aktiver wie in passiver Hinsicht betroffen sind. Weiterhin bejaht es auch einen Eingriff in die Chancengleichheit der Parteien sowie der Programm- und Betätigungsfreiheit als Ausprägungen der Parteienfreiheit.
Rechtfertigung durch Art. 2 II 2 ThürVerf?
Im Anschluss sieht es zutreffend den Grundsatz demokratischer Repräsentation und die Absicherung der Integrationsfunktion der Wahl als keine tauglichen Rechtfertigungsgründe an. Die Erörterung gelangt dann relativ schnell zu Art. 2 II 2 ThürVerf, welcher einen weitergehenden Inhalt hat als der in Zusammenhang mit Paritätsgesetzen oftmals bemühte Art. 3 II 2 GG und u.a. das Land verpflichtet, „die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Bereichen des öffentlichen Lebens durch geeignete Maßnahmen zu fördern und zu sichern“. Hier wie dort wird in der Vorschrift im Ergebnis ein Fördergebot als Staatszielbestimmung gesehen, welches kein subjektives Recht verleiht. Das Gericht geht davon aus, dass die Vorschrift als Rechtfertigung für Fördermaßnahmen auch im Bereich des Wahlrechts in Betracht kommt und begründet dies vor allem historisch. Hier hätte es sich mit den in der Literatur vorgebrachten Bedenken in Bezug auf eine Anwendung im Wahlrecht auseinandersetzen müssen, denn ob im streng formalen und damit inhaltlich- wie geschlechtsneutral ausgestalteten Wahlrecht eine Differenzierung nach Geschlechtern denkbar ist, bedarf jedenfalls näherer Erläuterung. Daneben ist in der Literatur anerkannt, dass das (ähnliche) Fördergebot des Art. 3 II 2 GG nicht dazu in der Lage ist, die Bestenauslese aus Art. 33 II GG auch nur einzuschränken (vgl. nur Kunig, in v. Münch/Kunig, GG, 6. Auflage, Art. 3 Rn. 174). Warum die Wahlrechtsgleichheit hier weniger Schutz verdient als Art. 33 II GG, ist jedenfalls nicht ohne weiteres einzusehen (Morlok/Hobusch, NVwZ 2019, 1734, 1737).
Anwendbar, aber keine Ermächtigung für Quoten
Trotz der grundsätzlichen Anwendbarkeit kommt das Gericht durch Auslegung von Wortlaut und unter Betrachtung der Entstehungsgeschichte zu dem an sich zutreffenden Ergebnis, die Vorschrift sei keine Ermächtigung für starre Quoten. Dabei beruft es sich bei der Wortlautauslegung darauf, dass in Anbetracht der Anzahl der beeinträchtigten Rechte, ihrer Bedeutung und der Intensität „erhöhte Anforderungen an Klarheit und Aussagekraft“ zu stellen seien. Das ist methodisch zweifelhaft. Bei der Extrahierung des Bedeutungsgehaltes aus der Norm mittels Auslegung spielt weder die Anzahl der Beeinträchtigungen, noch die Intensität eine Rolle. Weiterhin ist die Anzahl der Beeinträchtigungen in der gesamten Prüfung kein taugliches Kriterium. Besonders kritisch ist zu sehen, dass das Gericht die hohe Intensität lediglich behauptet und nicht näher darlegt.
Über die historische Argumentation, der Verfassunggeber habe keine Quoten erlauben wollen, gelangt das Gericht dann dazu, dass Art. 2 II 2 ThürVerf keine taugliche Ermächtigung für starre Quoten sei. Bei der ähnlichen Vorschrift des Art. 3 II 2 GG lässt sich ein ähnlicher Wille des Verfassunggebers nachweisen. In den Bericht der Verfassungskommission, welcher zu Anfügung von Art. 3 II 2 GG geführt hat, heißt es dazu unmissverständlich: „Es bestand Übereinstimmung darüber, daß diese Bestimmung eine Frauenförderung in Gestalt sog. starrer Quoten nicht gestattet.“ (BT-Drs., 12/6000, S. 50).
Insoweit ist die Ansicht des Gerichts, dass auf das Fördergebot keine Paritätsgesetzgebung gestützt werden kann, sicherlich richtig. Die Argumentation in diesem Punkt ist aber methodisch nicht einwandfrei.
Art. 3 II 2 GG wird ausgeblendet
Alleine darauf aber dann die Ablehnung der Rechtfertigung zu stützen, ist zu kurz gegriffen. Auch wenn das Gericht meint, Art. 2 II 2 ThürVerf sei weitergehender als Art. 3 II 2 GG, hätte es letztgenannte Vorschrift dennoch prüfen müssen, weil die Argumentation bei Art. 2 II 2 ThürVerf vor allem um den Willen des Thüringer Verfassunggebers und den Wortlaut kreist. Diese Erwägungen sind nicht auf das Grundgesetz übertragbar und führen zu keinem Ausschluss von Art. 3 II 2 GG. Ein Schluss a maiore ad minus ist hier nicht denkbar, auch die in den Augen des Gerichts weniger weit reichende Norm hätte geprüft werden müssen.
Dann hätte sich das Gericht etwa zu der Problematik verhalten müssen, ob Art. 3 II 2 GG Frauenfördermaßnahmen im Wahlrecht rechtfertigen kann, ob überhaupt „bestehende Nachteile“ im Sinne der Norm für Frauen existieren und ob die Wahlentscheidung des Bürgers einen solchen Nachteil darstellen kann (ablehnend Hobusch: Denn der zuletzt gesunkene Frauenanteil etwa in Thüringen geht auf das Erstarken der männlich geprägten AfD zurück.
Verhältnismäßigkeit fehlt völlig
Das Gericht nutzt die Gelegenheit nicht, das Urteil mit Hilfserwägungen zu stützen, sondern belässt es bei der Ablehnung von Art. 2 II 2 ThürVerf. Sinnvoll wäre es gewesen, hilfsweise die Verhältnismäßigkeit zu untersuchen und aufzuzeigen, dass das Gesetz auch deshalb materiell verfassungswidrig ist (ausführlichere Erörterung etwa hier. Denn die Beeinträchtigungen sind enorm: Frauen- oder Männerparteien werden mangels Ausnahmen faktisch verboten. Die Intensität steht daneben in keinen Verhältnis zur Zweckerreichung: Die Quotierung zielt nur auf die Landeslisten ab, dabei sind die bereits deutlich weiblicher besetzt als die Parteien (umfassende empirische Auswertung bei Morlok/Hobusch, THürVBl 2019, 282, 285 f.). Die wahre Ursache ist der viel zu geringe Frauenanteil in den Parteien, der durch die Quote für die Landeslisten nicht gesteigert wird.
Keine Stellung hat das Gericht zu den handwerklichen Fehlern genommen. Das Gesetz ermöglichte zwar Personen mit Geschlechtseintrag „divers“, auf jedem Listenplatz zu kandidieren, sah aber keine Regelung für den ebenfalls möglichen Fall vor, dass der Geschlechtseintrag offen bleibt (also Personen ohne Geschlechtseintrag). Hierin liegt eine offensichtliche Verletzung der Wahlrechtsgleichheit.
Ausblick: Hoffnungen auf Brandenburg
Insgesamt leidet das Urteil, obwohl das Ergebnis zutreffend ist, an diversen inhaltlichen Schwachstellen. Das Gericht hat ohne Grund das Thema argumentativ nicht ausgeschöpft, vieles ungesagt gelassen und sich zu stark auf die historische Auslegung von Spezialvorschriften der Landesverfassung konzentriert. Insbesondere Erwägungen zu Art. 3 II 2 GG und zur Verhältnismäßigkeit wären dringend notwendig gewesen. Das Urteil kann so für kommende Entscheidungen zu Paritätsgesetzen nur eingeschränkt als Maßstab genommen werden. Insoweit ruhen die Hoffnungen auf dem Brandenburger Landesverfassungsgericht, sich zu den in Thüringen ausgesparten Punkten ausführlicher zu äußern.
Zitiervorschlag: Alexander Hobusch, Urteil zum Paritätsgesetz in Thüringen: Kein großer Wurf, JuWissBlog Nr. 104/2020 v. 22.7.2020, https://www.juwiss.de/104-2020/
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