von NICK STRAILE
In der Parteiendemokratie ist die Kandidat*innenaufstellung durch die politischen Parteien von großer Bedeutung. Herkömmlich geschieht sie in Aufstellungsversammlungen, die in Präsenz stattfinden. Das Präsenzformat kann jedoch soziale und wirtschaftliche Hürden für Parteimitglieder darstellen und so den Wahlgrundsatz der Allgemeinheit schwächen. Inklusivere Wahlsysteme wie hybride Aufstellungsversammlungen können die Allgemeinheit der Wahl demgegenüber stärken. Dieser Beitrag regt dazu an, die Frage der Verfassungsmäßigkeit von hybriden Aufstellungsversammlungen in diesem Licht neu aufzugreifen.
Einleitung
276 der 630 Abgeordneten des 21. Deutschen Bundestags sind über die Erststimme in das Parlament eingezogen. Die Aufstellung der Wahlkreiskandidat*innen ist also auch nach der Wahlrechtsreform 2023 zentral für die demokratische Legitimation des Bundestages. Wer sich um ein Direktmandat bewerben darf, entscheiden die Parteien in Aufstellungsversammlungen (§ 21 Abs. 1 Satz 2 BWahlG ). Dabei handelt es sich um besondere Mitgliederversammlungen (oder Vertreterversammlungen), die bislang grundsätzlich in Präsenz stattfinden.
Diese Aufstellungsversammlungen sind von erheblicher legitimationstheoretischer Bedeutung. Sie können unter Umständen sogar als „Vorentscheid über den Wahlkreissieg“ bezeichnet werden: In rund zwei Dritteln der Wahlkreise galten bislang sichere Mehrheiten. Wenn die Teilnahme an Aufstellungsversammlungen bestimmten Mitgliedergruppen strukturell erschwert ist, wird die Allgemeinheit dieses bedeutenden Glieds der Legitimationskette erheblich geschwächt.
Daneben sprechen auch die Bedürfnisse der Parteimitglieder für inklusivere Aufstellungsversammlungen. Nach der Deutschen Parteimitgliederstudie 2009 wünschen sich Parteimitglieder über die Parteigrenzen hinweg eine Stärkung der innerparteilichen Demokratie (Laux in Spier u.a. (Hrsg.), Parteimitglieder in Deutschland, S. 157 (166 ff.)). So befürworteten 66 % der befragten Parteimitglieder die Einführung von Urwahlen für Bundestagskandidat*innen (ebd. S. 167). Dieses Bedürfnis nach substantiell inklusiveren Kandidat*innenenaufstellungen bietet Anlass, sich auch mit formell inklusiveren Formen der Kandidat*innenenaufstellungen zu befassen.
De lege lata: Präsenzpflicht bei Aufstellungsversammlungen
Der Wortlaut von § 21 Abs. 3 BWahlG enthält zwar kein ausdrückliches Präsenzgebot. Gleichwohl wird es weithin aus dem Begriff der „Versammlung“ abgeleitet (Michl, MIP 2021, 29 (30), Fn. 11 m.w.N.). Die Bundeswahlleiterin und die Gesetzgebungsmaterialien zur PartG-Novelle 2023 (BT-Drs. 20/9147, 12 f.) stellen ebenfalls klar, dass digitale Verfahren bislang unzulässig sind. Dafür spricht auch die COVID-19-Wahlbewerberaufstellungsverordnung: Die ausdrückliche zeitweilige Erlaubnis digitaler Verfahren wäre entbehrlich gewesen, wenn Online-Versammlungen (nach Auffassung des Gesetzgebers) schon nach geltendem Recht zulässig wären (Boehl in Schreiber, BWahlG § 21 Rn. 17, 21 a. E.).
Der Allgemeinheitsgrundsatz als unterbelichteter Wahlgrundsatz
Seit Jahrzehnten werden Reformen der Aufstellungsversammlung diskutiert (im Überblick Boehl in Schreiber, BWahlG § 21 Fn. 79). Zuletzt ging es auch um hybride Aufstellungsversammlungen (instruktiv Ramson), also solche mit gleichzeitig analoger und digitaler Teilnahmemöglichkeit. Bisher dominiert der Wahlgrundsatz der Öffentlichkeit die Frage der Verfassungsmäßigkeit hybrider Aufstellungsversammlungen. Wenig Beachtung findet dagegen der Wahlgrundsatz der Allgemeinheit. Gerade er könnte aber dazu führen, dass sich die Gewichte bei der verfassungsrechtlichen Bewertung verschieben.
Denn die Wahlgrundsätze bilden kein statisches System aus, vielmehr enthalten sie teils gegenläufige Forderungen, weshalb nicht jeder von ihnen „in voller Reinheit verwirklicht werden kann“ (BVerfGE 59, 119 (124)). Bei der Konkretisierung der Wahlgrundsätze ist dem Gesetzgeber daher ein „weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt“ (BVerfGE 95, 335 (349)). In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht anerkannt, dass eine gewisse Relativierung anderer Wahlgrundsätze – durch die Einführung der Briefwahl – gerade im Interesse der Allgemeinheit der Wahl verfassungsgemäß ist (BVerfGE 59, 119 (124)).
Der Wahlgrundsatz der Allgemeinheit verlangt, dass alle Wahlberechtigten ihr Recht in möglichst gleicher Weise ausüben können (BVerfGE 28, 220 (225)) und gewährleistet dadurch eine möglichst breite demokratische Legitimation der Staatsgewalt. Er schützt vor Diskriminierungen auch aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen (Schwarz in Dürig/Herzog/Scholz, 107. EL März 2025, GG Art. 38 Rn. 90 ff.). Das gilt nicht nur für Parlamentswahlen, sondern auch für Aufstellungsversammlungen (BVerfGE 89, 243 (251)).
Die Allgemeinheit der Wahl leidet allerdings unter dem Präsenzformat der Aufstellungsversammlungen. Denn die Wahlkreise sind groß – durchschnittlich 1.195 km², teilweise über 6.000 km². Im Unterschied zur Bundestagswahl selbst, bei der mehrere Wahllokale und die Briefwahl zur Verfügung stehen, gibt es bei Aufstellungsversammlungen jeweils nur eine zentrale Präsenzversammlung. Für Mitglieder mit geringen finanziellen Mitteln, Schichtarbeit, körperlicher Behinderung oder Fürsorgepflichten bedeutet die Anreise zu einer Präsenzversammlung erhebliche Belastungen. Punktuelle Maßnahmen der Parteien, wie Fahrtkostenzuschüsse und Fahrgemeinschaften können diese Hürden nicht ausräumen. Dies gilt insbesondere für den Zeitaufwand der An- und Abreise, sowie die Abwesenheit von zu Hause, die mit familiären oder beruflichen Pflichten unvereinbar sein können. Damit ist die Teilnahme nach sozial selektiven Kriterien faktisch ungleich verteilt. Das kann die Allgemeinheit der Aufstellungsversammlungen beeinträchtigen.
Reformüberlegungen
Hybride Aufstellungsversammlungen könnten den Grundsatz der Allgemeinheit hingegen stärken. Sie würden es Parteimitgliedern erlauben, sich neben dem regulären Präsenzformat digital zuzuschalten und ihre Stimme abzugeben. Dadurch entfallen einige der bisherigen sozialen und wirtschaftlichen Barrieren: Kosten für Bus- oder Bahntickets werden vermieden und Betreuungs- oder Pflegeverpflichtungen lassen sich besser mit der demokratischen Mitwirkung vereinbaren. Auch gesundheitliche Einschränkungen der Mitglieder selbst würden ihr nicht mehr entgegenstehen. Hybride Aufstellungsversammlungen begegnen den bestehenden Hürden zudem strukturell, anstatt nur punktuell auf sie zu reagieren, indem sie den Parteimitgliedern bedarfsunabhängig eine inklusivere Teilnahmemöglichkeit bieten. So wird die Teilnahme unter anderem für sozial benachteiligte Mitglieder erleichtert und die Allgemeinheit der Wahl gestärkt.
Einige Stimmen aus der Literatur halten hybride Aufstellungsversammlungen allerdings für verfassungswidrig. Dabei liegt der Blick meist auf dem Wahlgrundsatz der Öffentlichkeit (Michl, MIP 2021, 29 (31, 36)) oder in einfachen Worten auf der „notorischen Intransparenz“ von E-Voting-Systemen. Immerhin gebietet der Grundsatz der Öffentlichkeit nach der Wahlcomputerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass alle wesentlichen Schritte einer Wahl ohne besondere technische Vorkenntnisse überprüfbar bleiben (BVerfGE 123, 39 (69)). Das Bundesverfassungsgericht weist jedoch auch im Kontext dieses präzisierten Maßstabs auf die Möglichkeit hin, Ausnahmen zuzulassen, um anderen Wahlrechtsgrundsätzen Geltung zu verschaffen (BVerfGE 123, 39 (75)). Im Fall der Wahlcomputerentscheidung konnte das Bundesverfassungsgericht keine derartige Rechtfertigung erkennen (BVerfGE 123, 39 (75 ff.)). Beim Einsatz von Wahlcomputern kommt aber die oben dargestellte Stärkung des Wahlgrundsatzes der Allgemeinheit ohnehin nicht in Betracht. Für die vorliegende Abwägung ist daher auf den generellen Maßstab, den weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum zurückzugreifen.
Darüber hinaus genügt es nach dem Bundesverfassungsgericht, wenn Aufstellungsversammlungen einen „Kernbestand an Verfahrensgrundsätzen“ wahren, „ohne den ein Kandidatenvorschlag schlechterdings nicht Grundlage eines demokratischen Wahlvorgangs sein kann“ (BVerfGE 89, 243 (252 f.)).
Unter diesen herabgesetzten Anforderungen sind auch Alternativen zur Laienkontrolle denkbar. Die Überprüfbarkeit der wesentlichen Schritte der Wahl könnte sich auf technisch Versierte Parteimitglieder beschränken. Damit bliebe die Integrität des Wahlvorgangs für einen Teil der Parteiöffentlichkeit direkt und für den Rest wenigstens indirekt nachvollziehbar. Durch die Möglichkeit einer solchen Expertenkontrolle könnte der Wahlgrundsatz der Öffentlichkeit jedenfalls in seinem Kernbestand gewahrt werden. Gleichzeitig würden hybride Aufstellungsversammlungen den gegenwärtigen sozialen und wirtschaftlichen Hürden entgegenwirken und dadurch die Allgemeinheit der Wahl stärken.
Fazit
Die verfassungsrechtliche Debatte um hybride Aufstellungsversammlungen wird bislang stark durch den Wahlgrundsatz der Öffentlichkeit geprägt. Damit bleibt ein wesentlicher Grundsatz unterbelichtet: die Allgemeinheit der Wahl. Gerade die Präsenzpflicht birgt aber faktische Zugangshürden für sozial benachteiligte Parteimitglieder, was den Wahlgrundsatz der Allgemeinheit in Mitleidenschaft zieht. Hybride Aufstellungsversammlungen stellen hier Besserung in Aussicht.
Zititervorschlag: Straile, Nick, Zur Verfassungsmäßigkeit hybrider Aufstellungsversammlungen, JuWissBlog No. 100/2025, 30.10.2025, https://www.juwiss.de/100-2025/
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