Zum ersten Mal hat der Bundestag entschieden, dass in Deutschland eine Bundestagswahl teilweise wiederholt werden soll. Parallel erklärt das Berliner Verfassungsgericht die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zur Bezirksverordnetenversammlung für ungültig. Nicht nur die Wahlprüfung, sondern auch die Wiederholungswahlen bringen eine Reihe von Fragen mit sich. Es stellt sich nicht nur die Frage, wer wird denn nun zum zweiten Mal gewählt, sondern auch: Wer darf zum zweiten Mal an die Wahlurne?
Schwere Wahl in Berlin
An einem Sonntag im vergangenen September war in Berlin einiges los. Fast 35.000 Personen liefen im Berlinmarathon um die Wette, der Bundestag, das Abgeordnetenhaus und die Bezirksverordnetenversammlungen wurden gewählt. Zu diesen Wahlzetteln gesellte sich dann noch die Abstimmung über den Berliner Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Diese Kumulation an öffentlichen Ereignissen führte zu „chaotischen“ Zuständen, so Professorin Schönberger, in einigen der Wahllokalen. Vor diesen bildeten sich lange Schlangen. Viele der Wahlwilligen mussten mehrere Stunden ausharren. In einigen Wahllokalen hatten die Wähler*innen es aber nicht geschafft, wenn sie endlich an der Wahlurne selbst angekommen waren: Es mangelte an Stimmzetteln, insbesondere für die Wahl zum Abgeordnetenhaus oder diese waren zwischen den Bezirken vertauscht worden. Die Wahllokale blieben zudem teilweise länger als 18 Uhr geöffnet, wobei erste Prognosen zum Ausgang der Wahl bereits ab 18 Uhr veröffentlicht wurden.
Dieses Chaos wurde nun auf mehreren Ebenen aufgearbeitet: Am 10. November hat der Bundestag eine Wahlwiederholung der Bundestagswahl in 431 Wahllokalen in Berlin angeordnet. Das Berliner Verfassungsgericht hat am 16. November für Berlin die Wahl zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksabgeordnetenversammlungen für ungültig erklärt. Dies bringt nicht nur mit Blick auf die Vergangenheit (Was bedeutet das für die Arbeit des Abgeordnetenhauses im letzten Jahr?), sondern auch mit Blick auf die Durchführung der Wahlwiederholungen einige Fragen mit sich. Einige Kuriosa – wie das Antreten der damaligen Kandidat*innen zur Wahl des Abgeordnetenhauses auf denselben Listenplätzen wie damals trotz eines mittlerweile erfolgten Parteiwechsel wie im Fall der Abgeordneten Bertermann – wurden bereits thematisiert. Auch der Prüfungsmaßstab der Wahlprüfung steht bei den derzeitigen Überlegungen, z.B. in einem Online-Symposium des Verfassungsblog, im Zentrum. Meine Überlegungen drehen sich um die konkreten Wähler*innenverzeichnisse: Wer darf denn beim zweiten Mal überhaupt noch einmal wählen?
Neue Wähler*innenschaft
Entscheidend für die Wiederholung der Berlinwahl sind §§ 21, 25 LWG und § 78 LWG: Nach § 21 Abs. 2 LWG findet die Wahl aufgrund eines neuen Wähler*innenverzeichnis statt, wenn seit der Hauptwahl mehr als sechs Monate vergangen sind. Das bedeutet einerseits, dass diejenigen, die nun entweder die Schwelle zu 16 Jahren (zur Bezirksverordnetenverssammlung) oder zu 18 Jahren (für das Abgeordnetenhaus) passiert haben, neu dazu kommen. Ebenso dürfen Personen „neu“ wählen, die in der Zwischenzeit nach Berlin gezogen sind. Personen, die hingegen aus Berlin weggezogen sind, können nicht mehr wählen.
Nach § 44 Abs. 2 BWG findet auch die Wahlwiederholung für den Bundestag auf der Grundlage eines neuen Wähler*innenverzeichnisses statt, da die Hauptwahl länger als sechs Monate zurückliegt. Auch hier dürfen nun Personen wählen, die die Volljährigkeit erreicht haben und Personen, die in der Zwischenzeit nach Berlin gezogen sind. Personen, die aus Berlin weggezogen sind, dürfen nicht noch einmal wählen.
Beeinträchtigung der Wahlgleichheit?
Durch den Wahlgang sollen sich die Stimmen der Wähler*innen auf die Zusammensetzung des Parlaments – auf Bundes- oder Landesebene – niederschlagen. Das Wahlrecht ist der stärkste Ausdruck der staatsbürgerlichen Rechte in einer Demokratie. Bei den Personen, die aufgrund der Wahlpannen ihre Stimme nicht abgeben konnten, z.B. weil sie einen vertauschten Stimmzettel erwischt haben, wurde dieses Recht schon im September des letzten Jahres beeinträchtigt. Im Rahmen der kompletten Wahlwiederholung der Berlinwahl wird dieser Fehler nun korrigiert. Nach der Wahl konstituieren sich das Abgeordnetenhaus sowie die Bezirksverordnetenversammlungen neu. Das Berliner Verfassungsgericht spricht an, dass die Abbildung des ursprünglichen Wähler*innenwillen nicht mehr möglich ist. Nun schlägt sich also der demokratische Wille der Berliner*innen, die im Frühjahr 2023 ihre Stimme abgeben werden, in der neuen Zusammensetzung nieder.
Bei der Wiederholung der Bundestagswahl findet keine vollständig neue Abbildung eines Wähler*innenwillens statt. Die Wiederholung der Wahl führt zu einer korrigierten Stimmabgabe in den 431 betroffenen Wahllokalen. Durch die Erstellung der neuen Wähler*innenverzeichnisse ergibt sich aber das Problem, dass Personen aus Berlin, die innerorts umgezogen sind oder aus Berlin weggezogen sind, nicht noch einmal ihre Stimme abgeben können und diese damit keine Abbildung mehr im Parlament findet. Ihre Stimmabgabe zur Bundestagswahl 2021 ist damit verloren. Personen, die aus einem anderen Bundesland nach Berlin oder dem Bereich eines nichtbetroffenen Wahllokals in den Einzugsbereich eines betroffenen Wahllokales ziehen, können somit im Ergebnis zwei „zählende“ Stimmen für die Bundestagswahl abgeben. In beiden Fällen ist die Wahlrechtsgleichheit (sowohl Zählwertgleichheit als auch Erfolgswertgleichheit) nach Art. 38 I 1 GG betroffen ist.
Das Wahlprüfungsverfahren am Bundesverfassungsgericht
Der ursprünglichen Wähler*innenschaft dient die Wahlwiederholung als Korrektur der fehlerhaften Stimmabgabe. Die angesprochene Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit von einzelnen Wähler*innen entsteht durch das Zusammenspiel des Rückgriffs auf neue Wähler*innenverzeichnisse sowie die nur teilweise angeordnete Wahlwiederholung.
Die Anordnung der Wahlwiederholung in den 431 Wahllokalen in Berlin durch den Bundestag ist noch nicht endgültig, der Beschluss des Bundestages kann nach Art. 41 Abs. 2 GG vor dem Bundesverfassungsgericht angegriffen werden. Dabei betont das Bundesverfassungsgericht die, wenn auch diskutierte, Ausschließlichkeit des Wahlprüfungsverfahren.
Die Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht dient überwiegend dem Schutz des objektiven Wahlrechts, denn „Gegenstand der Wahlprüfung ist nicht die Verletzung subjektiver Rechte, sondern die Gültigkeit der Wahl als solche“. Der Schutz subjektiver Rechte findet Ausdruck in § 48 III BVerfGG, der fordert, dass die Wahlberechtigten vorher Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl eingelegt haben müssen. Vorliegend richtet sich die Kritik aber gegen die Wahlwiederholung, gegen die kein Einspruch eingelegt werden konnte.
Aus dem Bestandsschutz des Parlaments folgend bleibt die Frage nach der Mandatsrelevanz entscheidend, die vorsichtig geschätzt, eher nicht vorliegt. Zwar ist der Fort- und Wegzug aus Berlin jedes Jahr hoch; ein Großteil der Zuziehenden beispielsweise kommt aber nicht aus anderen Bundesländern, sondern aus dem Ausland und wäre damit bei einer Bundestagswahl nicht wahlberechtigt.
Kontrolle des § 44 Abs. 2 BWG?
Das Bundesverfassungsgericht muss auch im Wahlprüfungsverfahren die Vereinbarkeit des angewandten Wahlrechts mit dem Grundgesetz prüfen. An dieser Stelle wäre es wünschenswert, wenn die Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit durch die Regelung der Wähler*innenverzeichnisse auch in § 44 Abs. 2 BWG selbst gesehen wird. Das Berliner Verfassungsgericht thematisiert den Rückgriff auf §§ 21, 25 LWG und § 78 LWG nicht.
Sonst bleibt nur die, vom konkreten Wahlvorgang unabhängige und damit unwahrscheinliche, Möglichkeit die Regelung im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG iVm § 13 Nr. 6 a, § 76 Abs. 1 BVerfGG oder einer Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG iVm § 13 Nr. 8 a, § 90 Abs. 1 BVerfGG zu überprüfen.
Fazit
Die Frage, wer denn bei der Wahlwiederholung wählen darf, lässt sich nach geltender Rechtslage recht schnell klären. Der Rückgriff auf ein aktualisiertes Wähler*innenverzeichnis hat in der Durchführung der Wahlwiederholung sicher praktische Vorteile, stößt mit Blick auf die „verlorenen und doppelten Stimmen“ jedoch auf starke Bedenken hinsichtlich der Wahlrechtsgleichheit.
Zitiervorschlag: Stelzhammer, Sophia, Stimme verloren? Wahlwiederholungen in Berlin und das Problem der Wähler*innenschaft, JuWissBlog Nr. 70/2022 v. 8.12.2022, https://www.juwiss.de/70-2022/.
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