Klimaschutzfreundliche Auslegung des einfachen Rechts?

von KILIAN HERZBERG

Der am 10. November 2022 veröffentlichte Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 27. September 2022 „Windenergie im Wald“ wirft viele Fragen auf: Bedarf es künftig einer klimaschutzfreundlichen Auslegung des einfachen Rechts? Wie wirken sich die Bestrebungen zum Klimaschutz auf die Kompetenzordnung zwischen Bund und Ländern aus? Auch wenn der Beschluss auf den ersten Blick nur Details der Abgrenzung verschiedener Kompetenztitel in Art. 74 GG betrifft, hat er potentiell weitreichende Auswirkungen über den Fall hinaus.

Der Fall

Der Erste Senat hat auf eine Verfassungsbeschwerde hin § 10 Abs. 1 S. 2 des Thüringer Waldgesetzes wegen fehlender Landeskompetenz für nichtig erklärt. Das pauschale Verbot der Umwandlung von Wald zum Bau von Windenergieanlagen gehöre zur konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bodenrechts, von der der Bund abschließend Gebrauch gemacht habe.

Die praktische Relevanz ist hoch: In vielen Ländern gibt es Regelungen zur Beschränkung von Windenergie im Wald, in Sachsen-Anhalt ein fast wortgleiches Gesetz (Analyse der Fachagentur Windenergie an Land, S. 20 ff.), und der Ausbau von Windenergie ist ein politisch umstrittenes Thema. Gelöst wurde der politische Konflikt aber (mal wieder) auf der Kompetenzebene – ganz technisch, will man meinen. Schließlich ist bei der Auslegung von Kompetenztiteln „für Zweckmäßigkeitserwägungen [kein] Raum“ (Rn. 24).

Die Passage

In Rn. 79 argumentiert der Senat dann aber ausdrücklich „inhaltlich“. Es geht an der Stelle nicht um die Auslegung des Grundgesetzes, sondern von einfachem Bundesrecht, nämlich um das Verhältnis von § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB und § 9 Abs. 3 Nr. 2 BWaldG. Durchbricht der Vorbehalt einer Landesregelung im Bundeswaldgesetz den abschließenden Charakter der bodenrechtlichen Regelung im Baugesetzbuch?

Für diese Frage benennt er unter Verweis auf den Klima-Beschluss die verfassungsrechtliche Bedeutung der Treibhausgasreduktion. Dazu „soll“ Windenergie beitragen, ebenso zur Energiesicherheit, wie im Beschluss „Windenergie-Beteiligungsgesellschaften“ aus März 2022 ausgeführt.

Dies bezieht er dann auf den Fall: „Vor diesem Hintergrund liegt es bei objektiver Betrachtung fern, dass das Bundesrecht auf eine zentrale Klimaschutz- und Energieversorgungsstrategie, nämlich die im Bauplanungsrecht privilegierte Zulassung der Windenergienutzung, in nennenswertem Umfang verzichten könnte, indem es über § 9 Abs. 3 Nr. 2 BWaldG den Ländern – zumal denen mit so hohem Waldanteil wie Thüringen – erlaubte, durch landesrechtliche Umwandlungsverbote die Windenergieerzeugung auf Waldflächen vollständig auszuschließen.“

Diese Argumentation scheint dem Senat wichtig zu sein, sie hat es auch in Leitsatz 3 geschafft: „Gegen eine Durchbrechung der in § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB geregelten Privilegierung der Windkraft im Außenbereich durch pauschale landesrechtliche Verbote von Windenergieanlagen im Wald spricht auch, dass der Ausbau der Nutzung der Windkraft einen faktisch unverzichtbaren Beitrag zu der verfassungsrechtlich durch Art. 20a GG und durch grundrechtliche Schutzpflichten gebotenen Begrenzung des Klimawandels leistet und zugleich die Sicherung der Energieversorgung unterstützt.“

Wozu aber dienen diese verfassungsrechtlichen Ausführungen zur Wichtigkeit der Windkraft bei der Auslegung des einfachen Rechts?

Die klimaschutzfreundliche Auslegung

Ist das einfach eine teleologische Auslegung des § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB, der sicherlich das Ziel hat, den Klimaschutz zu fördern (BT-Drs. 13/4978, S. 6)? So könnte man wohl das Auslegungsergebnis begründen. Das Gericht schaut aber gar nicht mit den üblichen Auslegungsmethoden auf § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB und § 9 Abs. 3 Nr. 2 BWaldG, sondern zweifelt, ob das Bundesrecht auf eine bestimmte Regelung überhaupt „verzichten könnte“.

Der Maßstab für Können des Bundesrechts ist aber das Grundgesetz. Handelt es sich also um eine klassische verfassungskonforme Auslegung (vgl. z.B. BVerfGE 119, 247 Rn. 92)? Dann müsste eine Auslegung der genannten Normen, die landesrechtliche Ausnahmen von der bauplanungsrechtlichen Privilegierung ermöglichen würde, verfassungswidrig sein.

Gibt es also eine verfassungsrechtliche Pflicht des Bundesgesetzgebers, Windenergieanlagen bauplanungsrechtlich zu privilegieren? Im Beschluss sagt das das Gericht nicht ausdrücklich und es wäre angesichts der traditionellen Zurückhaltung, dem Gesetzgeber eine Pflicht zu konkreten Maßnahmen aufzuerlegen, auch überraschend. Noch im Beschluss „Windenergie-Beteiligungsgesellschaften“ sah es im Ausbau der Windenergie nur eine Möglichkeit, legitimen Gemeinwohlzielen zu dienen (Rn. 103 ff.), ohne konkrete Maßnahmen zu fordern. Die Argumentation lässt sich damit kaum als klassische verfassungskonforme Auslegung einordnen.

Vielleicht muss man stattdessen eine Stufe niedriger ansetzen und es steht der Satz aus der ständigen Rechtsprechung dahinter: „Sind bei der Auslegung und Anwendung einfachrechtlicher Normen mehrere Deutungen möglich, so verdient diejenige den Vorzug, die den Wertentscheidungen der Verfassung entspricht“ (seit BVerfGE 8, 210 (221), z.B. BVerfGE 142, 74 Rn. 82). Bisher ging es dabei immer um Grundrechte. Das einfache Recht soll grundrechtsfreundlich ausgelegt werden. In den allermeisten Fällen stehen aber mehrere Grundrechtspositionen gegenüber, sodass schon im Rahmen des einfachen Rechts eine „praktische Konkordanz“ (ebd.) anzustreben ist. Das ist Aufgabe der Fachgerichte und das Bundesverfassungsgericht kontrolliert das nur eingeschränkt.

In diesem Verfahren legt aber das Bundesverfassungsgericht ohne vorherige Befassung der Fachgerichtsbarkeit das einfache Recht aus und muss sich an diesen Satz halten. Es zieht also die Wertung „Klimaschutz“ aus der Verfassung heran und sieht diese in seiner Auslegung von § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB i.V.m. § 9 Abs. 3 Nr. 2 BWaldG besser verwirklicht als in der Alternative.

Man mag den Ansatz der „klimaschutzfreundlichen Auslegung“ für eine selbstverständliche Fortschreibung der grundrechtsfreundlichen Auslegung des einfachen Rechts halten, schließlich nennt der Beschluss als Grundlage des Klimaschutzgebotes neben Art. 20a GG auch grundrechtliche Schutzpflichten (näher zu dieser Kombination). Und doch gibt es strukturelle Unterschiede: Der Klimaschutz bezieht sich nicht in der typisch grundrechtlichen Weise auf einzelne Individuen und diskutierte Maßnahmen sind immer nur kleine Beiträge, die aber einen enormen Schaden abwenden sollen. Das dürfte die Praxis vor Herausforderungen stellen, bei der Auslegung jeder Rechtsnorm die Betroffenheit des Klimas zu ermitteln und ggf. mit anderen Gemeinwohlbelangen abzuwägen – auch Klimaschutz genießt „keinen unbedingten Vorrang“ (Klima-Beschluss Rn. 198).

Der Beschluss kann dabei kaum als Vorbild dienen: Er stellt sich dem Problem der praktischen Konkordanz nicht und betrachtet keine entgegenstehenden Gemeinwohlbelange wie die (als Kompetenztitel durchaus behandelten) Belange von Naturschutz und Landschaftspflege.

Klimaschutz im Föderalismus

Aber auch als „klimaschutzfreundliche Auslegung“ wirft die Argumentation die Frage auf, ob sie wirklich in eine kompetenzrechtliche Diskussion passt. Das Gericht zweifelt, ob „das Bundesrecht auf eine zentrale Klimaschutz- und Energieversorgungsstrategie […] in nennenswertem Umfang verzichten könnte“. Aber ist denn Klimaschutz und Energieversorgung allein eine Aufgabe des Bundes? Könnte nicht der Bund auch auf diese „Klimaschutz- und Energieversorgungsstrategie“ verzichten und den Ländern die Entscheidungen zur Verfolgung der genannten Ziele in diesem Bereich überlassen? Das entspräche doch der Logik konkurrierender Gesetzgebungskompetenzen.

Wer eine Frage regelt, sagt schließlich (formal gesehen) nicht nichts darüber aus, was geregelt wird. Eine Regelung auf Bundesebene kann daher – wenn es nicht gerade auf die Bundeseinheitlichkeit ankommt – nicht an sich für eine bessere Verwirklichung eines Zieles garantieren.

Der Senat scheint hier aber daran zu zweifeln, dass der Klimaschutz bei den Ländern in ebenso guten Händen ist wie beim Bund. Dabei trifft nach der Kammer-Entscheidung zu den Landesklimagesetzen auch die Länder eine verfassungsrechtliche Pflicht zum Klimaschutz (Rn. 16). Aber auch dort scheint das Gericht die Erstzuständigkeit für Klimaschutzstrategien beim (koordinierenden) Bund zu sehen (vgl. Rn. 17). In dem dort entschiedenen Fall entlastete das die Länder von einer möglichen Pflicht, Klimaschutzgesetze zu erlassen. Hier scheint es sich gegen die Länder zu wenden. Ob zentral gesteuerte oder mehr am Subsidiaritätsgrundsatz orientierte Klimaschutzstrategien effektiver sind, ist aber keineswegs klar.

Angesichts des konkret entschiedenen Falls ist es wenig überraschend, dass der Senat in erster Linie die Möglichkeiten der Länder zur Konterkarierung des Klimaschutzes sieht. Bei der Frage, ob § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB abschließend ist, könnte eine Länderkompetenz auch nur gegen den Klimaschutz eingesetzt werden. Und doch wirft die pauschale Formulierung Fragen zu den Vorstellungen des Bundesverfassungsgerichts vom Klimaschutz im föderalen System auf.

Fazit

Der Erste Senat hat mit Rn. 79 und Leitsatz 3 des Beschlusses viele Fragen zur Einbettung des dem Grundgesetz entnommenen Klimaschutzgebotes in den Rechtsalltag aufgeworfen. Er schien sich der Brisanz der Ausführungen auch bewusst gewesen zu sein, da er sie in den Leitsätzen aufgriff.

Die Idee einer „klimaschutzfreundlichen Auslegung“ als Fortentwicklung der grundrechtsfreundlichen Auslegung ist mit dem Beschluss aufgeworfen und es wird sich zeigen, welchen Ertrag sie in der Praxis bringt.

Auch die Frage der primären Klimaschutzzuständigkeit im föderalen System wird sich sicherlich noch häufiger stellen. Deutet sich mit diesem Beschluss eine zentralistische Tendenz an?

Zitiervorschlag: Herzberg, Kilian, Klimaschutzfreundliche Auslegung des einfachen Rechts?, JuWissBlog Nr. 69/2022 v. 6.12.2022, https://www.juwiss.de/69-2022/.

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BVerfG, Föderalismus, Klimaschutz, Methodenlehre
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