von ANNIKA D. LUCH und SÖNKE E. SCHULZ
Wen schützt Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG? Ist Schutzgut die eigenständige und selbstgestaltete Wahlentscheidung des Einzelnen oder ist es eine – nach welchen Kriterien auch immer zu bestimmende – optimale Wahlhandlung? Eine Entscheidung des BVerfG (BVerfG, 2 BvC 7/10, v. 9.7.2013) zu § 36 BWahlG, die die Briefwahl ermöglicht, mittlerweile aber auf das Erfordernis eines besonderen Grundes verzichtet und damit den Ausnahmecharakter entfallen lässt, gibt Anlass dies kritisch zu hinterfragen.
Neue technische Errungenschaften und veränderte Erwartungshaltungen der Bürger führen in einer technisierten Informationsgesellschaft zwangsläufig zu der Frage nach einer Fortentwicklung der Möglichkeiten der Stimmabgabe. E-Voting, Online-Wahl, E-Democracy, Teledemokratie, Cyberdemocracy sind einige der in diesem Zusammenhang genannten Stichworte. Nach einer aktuellen Studie kann sich jeder Zweite vorstellen, seine Stimme über das Internet abzugeben. Vier von zehn Befragten würden eine solche Online-Wahl der Briefwahl vorziehen. Zielsetzung einer Erweiterung der Möglichkeiten zur Stimmabgabe ist einerseits die Erhöhung der Wahlbeteiligung, andererseits wäre dies die Reaktion auf veränderte Lebenswirklichkeiten vieler Bürger. Fordern moderne Arbeitswelt und Staat zunehmende Flexibilität und Mobilität (so auch BVerfG, 2 BvC 7/10, v. 9.7.2013, Rn. 15), wirkt das Erfordernis an einem bestimmten Tag an einem bestimmten Ort zu sein (um wählen zu können) – alternativ den herkömmlichen Brief zu nutzen – doch antiquiert. Andere europäische Staaten – allen voran Estland – demonstrieren, dass demokratisch, rechtsstaatlich verfasste Staaten den Übergang sogar zur Stimmabgabe per SMS ohne erkennbare demokratische Defizite bewältigen können.
Aber wie ist die verfassungsrechtliche Situation in Deutschland? Konservativ fragt man „Wäre die Online-Wahl verfassungsrechtlich zulässig“, progressiv „Gibt es einen Anspruch auf Online-Wahlen?“
Grundlegende Anforderungen an technische Wahlunterstützung
Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verlangt zunächst die technische Abbildung aller Wahlrechtsgrundsätze. So muss sichergestellt sein, dass die Wahlberechtigung bei allen Formen der Distanzwahl nachgewiesen wird und die Stimmabgabe pro Wähler nur ein einziges Mal erfolgt. Die Stimme muss unumkehrbar von den personenbezogenen Daten des Wählers getrennt werden, um die geheime Wahl zu gewährleisten. Das eingesetzte System muss darüber hinaus vor Manipulation und Infiltration geschützt, der Auslastung am Wahltag gewachsen und mit einem transparenten, sicheren, der Nachprüfbarkeit offenstehenden Auszählverfahren verknüpft sein. Diese Hürden wurden für die nach § 35 BWahlG zugelassenen Wahlgeräte aufgestellt. Sie gelten für Wahlhandlungen über das Internet entsprechend.
Wandelbarkeit auch verfassungsrechtlicher Maßstäbe
Die fundamentale Bedeutung des Wahlrechts und der dynamische Charakter der allgemeinen Wahl zwingen Rechtswissenschaft und -anwendung dazu, die Beschränkungsgründe ständig zu überprüfen und ggf. an sich ändernde Realbedingungen des Rechts anzupassen. Wie Demokratie ausgeübt wurde, hing seit jeher mit der jeweils verfügbaren Kommunikationstechnik zusammen. So wie die griechische Agora mit der digitalen Agora ein Äquivalent findet, kann dies die Online- für die Briefwahl sein. Wenn die gesellschaftliche Realität nicht alleiniger Maßstab bleibt, sondern ein gesellschaftlicher Wandel nur bei Übereinstimmung mit übergeordneten Rechtsprinzipien, andauernder Akzeptanz in der Bevölkerung und Eingang der gesellschaftlichen Realitäten in das Rechtsbewusstsein zu einer Fortentwicklung führt, ist auch die Entwicklungsoffenheit fundamentaler Verfassungsrechtssätze nicht dem Vorwurf der Konturenlosigkeit ausgesetzt. Die Wandelbarkeit zu verneinen, hieße vielmehr die Wandlungsfähigkeit menschlicher Persönlichkeit, der postindustriellen Gesellschaft und mithin einen Teil der Verfassungswirklichkeit zu verleugnen.
Gegenläufige Zielsetzungen der Wahlrechtsgrundsätze
Die Wahl in der Wahlkabine soll eine individuell freie und geheime Wahlentscheidung gewährleisten. Im Moment des Ausfüllens des Stimmzettels soll die von jeder Beeinflussung freie Entscheidung ohne Rechtfertigung durch das geheime Ankreuzen getroffen werden können. So hat sich auch das BVerfG vor langer Zeit kritisch zur Form der Briefwahl als Distanzwahl geäußert und der Wahl im Wahllokal eindeutig normativen Vorrang eingeräumt, dies in seiner – wahrlich schlanken – Entscheidung vom 9.7.2013 zum Wegfall des Begründungserfordernisses aber nicht mehr betont, auch wenn der Senat weiterhin Sympathien für die Urnenwahl erkennen lässt:
„Der Normgeber hat auch in den Blick genommen, dass eine deutliche Zunahme der Briefwähler mit dem verfassungsrechtlichen Leitbild der Urnenwahl, die die repräsentative Demokratie in besonderer Weise sichtbar und erfahrbar macht (…), in Konflikt geraten könnte.“
Dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl wird durch Verzicht auf besondere Gründe für die Briefwahl ebenso wie durch eine Online-Stimmabgabe zu optimaler Geltung verholfen. Allerdings erfolgt dies zu Lasten der Grundsätze der freien und geheimen Wahl, je nach Verständnis auch der Öffentlichkeit der Wahl. Nach dem BVerfG bedarf es daher eines Ausgleichs gegenläufiger Positionen – ganz im Sinne praktischer Konkordanz: „Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl stellt jedenfalls im Zusammenhang mit der Briefwahl eine zu den Grundsätzen der Freiheit, Geheimheit und Öffentlichkeit der Wahl gegenläufige verfassungsrechtliche Grundentscheidung dar, die grundsätzlich geeignet ist, Einschränkungen anderer Grundentscheidungen der Verfassung zu rechtfertigen“.
Das Wahlrecht als Abwehrrecht oder Auftrag an den Gesetzgeber zur Verwirklichung demokratischer Ideale
Trägt diese Argumentation auch für die Online-Wahl? Die Befürworter verweisen darauf, es sei heutzutage unwahrscheinlich, dass Wähler in signifikanter Anzahl bei einer Online-Stimmabgabe in unzulässiger Weise beeinflusst würden. Die – in Estland zum Einsatz kommende – Variante, dass man die Wahlentscheidung innerhalb eines bestimmten Zeitfensters ändern könne (iterative Wahl), ließe zudem eine Korrektur beeinflusster Wahlentscheidungen zu. Andere betonen, dass die Online-Wahl allenfalls an die Stelle der Briefwahl als Ausnahme von der Präsenzwahl treten könne; das E-Voting wäre insofern ein zusätzlicher Weg, die Stimme vorab abzugeben. Für die rechtliche Beurteilung ist maßgeblich, ob Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG als klassisches Abwehrrecht zu verstehen ist, das staatliche Eingriffe in die (u. a.) freie und geheime Wahlentscheidung verbietet oder ob es Art. 38 Abs. 1 GG erfordert, dass die verfassungskonforme Stimmabgabe – die Erfüllung von Verfassungserwartungen – staatlicherseits überwacht werden muss, damit die Wahlgrundsätze möglichst optimal verwirklicht werden. Der Wahlakt als Kernstück der repräsentativen Demokratie mag Letzteres nahelegen, was sich auch daran zeigt, dass die geheime Wahl als institutionelle Sicherung der Wahlfreiheit pflichtig vorgegeben ist (§ 33 BWahlG). Die bequeme Stimmabgabe von zu Hause, weitgehend unabhängig von Zeit und Raum, müsste insofern weiterhin die Ausnahme bleiben. Andererseits hat das BVerfG zu Recht darauf verwiesen, dass sich bei der näheren Ausgestaltung des Wahlrechts nicht jeder Wahlrechtsgrundsatz in voller Reinheit verwirklichen ließe und dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zustehe.
Der Gang zum Wahllokal – außerrechtliche Idealvorstellungen oder verfassungsrechtliche Pflicht
Und schließlich bleibt noch der oft bemühte „Gang zum Wahllokal“ als demokratisches Ideal. Der Einwand, maßgeblich sei nicht nur die Quantität der Wähler, sondern auch auf die Qualität der Wahlentscheidung (Demokratie brauche Zeit; der Gang zum Wahllokal biete Gelegenheit zur Abkühlung, zum Nachdenken1, lässt sich nicht aus den verfassungsrechtlich verbürgten Wahlgrundsätzen ableiten. Er verkehrt diese vielmehr in ihr Gegenteil – Schutzobjekt ist bei dieser Sichtweise nicht mehr die freie Wahlentscheidung des Einzelnen, sondern eine staatliche Optimalvorstellung der Stimmabgabe (zu Recht als „Wahl-Ideal“betitelt).
Vom Recht des Gesetzgebers zur Pflicht des Gesetzgebers?
Ob und unter welchen Voraussetzungen den Gesetzgeber eine Handlungspflicht trifft, die Möglichkeit einer Online-Stimmabgabe zu schaffen, lässt sich nicht abschließend beantworten. Das BVerfG stellte in einer frühen Entscheidung fest, dass der Gesetzgeber nicht gezwungen sei, die Möglichkeit der Briefwahl zu schaffen (BVerfGE 12, 139). Angesichts der zur Zeit noch vorherrschenden Skepsis gegenüber der Datensicherheit im Netz kann sicherlich noch nicht von einer Änderung der Gewohnheiten und Lebensumstände gesprochen werden, die ein Reagieren des Wahlgesetzgebers zwingend erforderlich macht. Sollte perspektivisch aber ein den Anforderungen des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG entsprechendes Online-Wahlsystem existieren, geriete die unter Juristen weit verbreitete Technikskepsis unter Rechtfertigungsdruck.
- Bull, in: Kubicek/Braczyk/Klumpp (Hrsg.), Multimedia@Verwaltung, Jahrbuch Telekommunikation und Gesellschaft, 1999, S. 293 (298). [↩]