Orban vs. Europäische Union: Europäische Außenpolitik als Druckmittel

(c) Leuphana Universität Lüneburg

Christina Jacobs

von EMMA BARTMANN und CHRISTINA JACOBS

Vor dem anstehenden EU-Spitzentreffen der Staats- und Regierungschef:innen am 14. und 15. Dezember 2023 hat der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban in einem an den EU-Ratspräsidenten Charles Michel gerichteten Brief verlangt, zwei geplante Beschlüsse zum Start der Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine sowie zu deren weiterer finanziellen Unterstützungen von der Tagesordnung zu streichen. “Der offensichtliche Mangel an Konsens würde unweigerlich zu einem Scheitern führen”, so Orban. Dieser Beitrag gibt zunächst einen Überblick über den Stand der ukrainischen Beitrittsbestrebungen und ordnet anschließend die Äußerungen Orbans in die Debatte um den unionalen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus ein.

Die Annäherung zwischen der Ukraine und der EU

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine hat die EU 77 Mrd. € Finanzhilfen an die Ukraine geleistet, darunter 38,3 Mrd. € an wirtschaftlicher sowie 21,16 Mrd. € an militärischer Unterstützung. Die wirtschaftlichen Hilfsmaßnahmen ergingen auf Grundlage von Verordnungen des Europäischen Parlaments und des Rates (z. B. Verordnung (EU) 2022/2463; Verordnung (EU) 2023/1077), deren Rechtsgrundlagen u.a. im Bereich der Handelspolitik (Art. 207 II AEUV), sowie der wirtschaftlichen, finanziellen und technischen Zusammenarbeit mit Drittländern (Art. 212 AEUV) liegen. Die militärischen Maßnahmen finanzieren etwa militärische Ausrüstung oder Hilfsgüter wie Treibstoff und Wartungsmaßnahmen und werden insbesondere im Rahmen der europäischen Friedensfazilität vorgenommen. Hierbei handelt es sich um ein haushaltsexternes Finanzierungsinstrument, das der Finanzierung außenpolitischer Maßnahmen u.a. im militärischen Bereich dient. Rechtsgrundlagen des Beschlusses zur Einrichtung einer Europäischen Friedensfazilität waren die Vorschriften der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), insb. Art. 28 I, 41 II, 42 IV und 30 I EUV. Die konkrete Mittelbereitstellung ist jedoch an die Einhaltung bestimmter Bedingungen wie diverser Absichtserklärungen zwischen der EU und der Ukraine gekoppelt (z.B. zur Korruptionsbekämpfung). Diese sind auch Voraussetzung eines Beitritts zur EU.

Die Ukraine hatte am 28. Februar 2022 einen Antrag auf Beitritt zur Europäischen Union (vgl. Art. 49 I 1 EUV) gestellt. Nach der Beantwortung eines Fragenkatalogs zu politischen und wirtschaftlichen Kriterien sowie der Fähigkeit des Landes, die Verpflichtungen des acquis communautaire zu erfüllen, wurde ihr vom Europäischen Rat bereits am 24. Juni 2022 der Status eines EU-Beitrittskandidaten zuerkannt. Zu diesem Zeitpunkt hat der Europäische Rat aber auch festgelegt, dass Entscheidungen über die nächsten Schritte erst getroffen werden, wenn sieben von der Europäischen Kommission empfohlene Kriterien erfüllt werden. Diese Kriterien konzentrieren sich unter anderem auf effektivere Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung sowie Reformen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit. Die bisherigen Verfahrensschritte wurden im Vergleich deutlich schneller erreicht als bei Anträgen anderer Bewerberstaaten um die EU-Mitgliedschaft. Dennoch ist ein EU-Beitritt aufgrund der wirtschaftlichen und institutionellen Gegebenheiten in der Ukraine zumindest in absehbarer Zeit schwer vorstellbar. Gleichwohl empfahl die EU-Kommission im November 2023 in ihrem diesjährigen Erweiterungspaket dem Rat, die Verhandlungen mit der Ukraine über einen Beitritt zu starten.

Orbans politisches Kalkül

Anknüpfend an diese Entwicklungen sollte beim EU-Gipfel am 14. und 15. Dezember 2023 der Europäische Rat über den Start von Beitrittsverhandlungen sowie weitere Wirtschaftshilfen entscheiden. Das Beitrittsverfahren sieht vor, dass nach der vorläufigen Stellungnahme der Kommission der Europäische Rat die Aufnahme von Verhandlungen beschließt, wobei der Rahmen durch den Rat festgesetzt wird (Booß in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge Kommentar, 6. Auflage, Art. 49 EUV Rn. 6). Eine Gegenstimme Orbans würde das Zustandekommen eines solchen Beschlusses verhindern.

Zudem ist bereits die Behauptung Orbans, dass die geplanten Beschlüsse ohnehin zum Scheitern verurteilt seien und daher schon gar nicht auf der Tagesordnung stehen sollten, kritisch zu betrachten. Denn diese stellt einen Versuch dar, bereits im Vorfeld des Gipfeltreffens auf dessen Agenda einzuwirken und diese nach eigenem Willen zu gestalten. Teil des politischen Prozesses innerhalb der EU ist die kollektive politische Willensbildung und Beschlussfindung demokratisch legitimierter Staats- und Regierungschef:innen auch durch Austausch und Debatten im Europäischen Rat. Die Bemühung, dies zu verhindern, ist ein Versuch der Verkehrung des demokratischen Prozesses, der zu den Grundwerten der EU gehört (vgl. Art. 2 EUV und Art. 10 II UAbs. 2 EUV). Zudem verlangt Art. 24 III EUV, dass die Mitgliedstaaten im Bereich der GASP zusammenarbeiten und sich Handlungen enthalten, die den Interessen der Union zuwiderlaufen oder ihrer Wirksamkeit als kohärente Kraft schaden könnten.

Wenngleich höchst problematisch, ist der Brief aber wohl schwerlich rechtlich sanktionierbar. Zwar können Verstöße gegen Art. 2 EUV und Art. 10 EUV nach Art. 258 AEUV grundsätzlich im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens gerügt werden. Jedoch wird der Brief als solcher kaum schwerwiegend genug sein, um eine Verletzung der ungarischen Verpflichtungen aus den Verträgen darzustellen und damit ein solches Verfahren auszulösen. Dies gilt umso mehr, als dass ein Veto Orbans im Europäischen Rat natürlich zulässig ist.

Sicherheitspolitik als neues Druckmittel

Das Vorgehen Orbans ist aber auch deshalb problematisch, weil er die Sanktionen gegen Ungarn unter dem 2021 geschaffenen Konditionalitätsmechanismus, der die Zurückhaltung der Auszahlung finanzieller Mittel an Ungarn i.H.v. 13 Mrd. € begründet, offenkundig nicht etwa als Anlass genommen hat, den von der EU gerügten Verletzungen beizukommen. Vielmehr setzt er die EU nun umso stärker unter Druck und obstruiert den demokratischen Prozess wie auch die Unterstützung der Ukraine. Dieser Vorgang verdeutlicht nicht nur die Problematik der Einstimmigkeitsvoraussetzung im Europäischen Rat für den Bereich der GASP, sondern auch, dass es den Sanktionsmöglichkeiten der EU – auch nach Einführung des Konditionalitätsmechanismus – an Durchsetzungskraft fehlt. Es existieren keine wirksamen rechtlichen Möglichkeiten, Ungarn zu einem Einlenken zu bewegen. Als einziges Mittel verbleiben diplomatische Gespräche; die letzten Versuche von Charles Michel und Emmanuel Macron blieben aber ebenfalls erfolglos. Gerade im Bereich der gemeinsamen Außenpolitik kommt es auf gegenseitiges Vertrauen und gute Zusammenarbeit an; das zerrüttete Verhältnis zwischen Ungarn und der EU steht dem nach wie vor entgegen. All dies erfolgt zudem zu einem sicherheitspolitisch schwierigen Zeitpunkt, der ein geschlossenes und einheitliches Auftreten der EU erfordern würde. Stattdessen wird der Kampf um die Anerkennung der Werte der EU durch Orban als außenpolitisches Druckmittel verwendet. Dass es auch anders geht, zeigt indes die Situation der neuen Regierung Polens: Nach dem Wahlsieg von Donald Tusk hat die EU-Kommission unter Auflagen die Freigabe eines Teilbetrages aus dem Corona-Wiederaufbaufonds empfohlen.

Fazit

Das Verhalten Orbans und die darauffolgende Debatte zeigen abermals, dass dringend Reformen notwendig sind, um wirksame Mechanismen zur Sicherung der Einhaltung der Werte des Art. 2 EUV zu schaffen und Schlupflöcher zu vermeiden. Dies scheint umso wichtiger, als die EU-Kommission nun kurz davorsteht, voraussichtlich einen Teil der Gelder an Ungarn freizugeben. Das bisherige Verhalten Orbans lässt jedoch nicht darauf schließen, dass ihn dies unbedingt zum Einlenken bewegen würde. Gleichzeitig muss die EU fast zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine weiterhin ihre sicherheitspolitischen Interessen verteidigen und die Ukraine unterstützen. Die Russlandfreundlichkeit Ungarns wird hierbei zunehmend zu einem Problem. Dass im Tauziehen zwischen Ungarn und der EU nun auch die Außenpolitik zum Gegenstand wird, ist eine folgenschwere Entwicklung.

 

Zitiervorschlag: Bartmann, Emma/Jacobs, Christina, Orban vs. Europäische Union: Europäische Außenpolitik als Druckmittel, JuWissBlog Nr. 70/2023 v. 12.12.2023, https://www.juwiss.de/70-2023/.

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Außen- und Sicherheitspolitik, Christina Jacobs, Emma Bartmann, EU, GASP, Rechtsstaatlichkeit, Ukraine, Ungarn
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