Frischer europäischer Wind aus Polen? Zur Abberufung der Mitglieder des Lex-Tusk-Ausschusses

von LENA KAISER

Jüngst wurde öffentlich bekannt, dass das bisherige Oppositionsbündnis die Mitglieder des hoch kontroversen Sonderausschusses abberufen hat. Zu dessen Einsetzung ermächtigt ein im Mai 2023 erlassenes Gesetz, welches umgangssprachlich wegen seiner vermuteten Zielrichtung auch Lex Tusk genannt wird. Die Europäische Kommission reagierte damals in ungewöhnlicher Vitesse und erhob bereits acht Tage später wegen Unionsrechtsverstoßes Vertragsverletzungsklage vor dem EuGH. Auch wenn das bisherige Oppositionsbündnis des nun frisch vereidigten Ministerpräsidenten Donald Tusk den Sonderausschuss bisher nicht absetzen konnte, bleibt es nicht zuletzt wegen der aktuellen Regierungsbildung in Polen hochspannend. 

… zurück auf Anfang: Die Einführung des Lex Tusk

Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens ist das umstrittene polnische Gesetz Lex Tusk, welches zur Einsetzung eines Sonderausschusses ermächtigt, der sich mit dem russischen Einfluss auf die innere Sicherheit des Landes zwischen 2007 und 2022 befassen soll. Nicht nur das vereinfachte Gesetzgebungsverfahren, welches das Gesetz aufgrund der Initiative durch eine Gruppe von Abgeordneten und trotz mehrfacher Anträge auf Ablehnung durchlief, sondern insbesondere die weitreichenden Handlungsbefugnisse der Kommission, begründen massive Zweifel an der Unionsrechtskonformität.

Der Sonderausschuss, dessen Mitglieder mit nur einfacher Mehrheit durch das Abgeordnetenhaus Sejm gewählt werden, erhält als nicht-juristisches Organ weitreichende Befugnisse zur Untersuchung des „russischen Einflusses“ auf die innere Sicherheit Polens, und Handlungen gegen die „Interessen“ Polens. Bei dieser Ermittlung, bei welcher die Mitglieder im Übrigen Immunität in Bezug auf ihre Handlungen genießen, stattet das Lex Tusk sie sowohl auf der Seite der Handlungsbefugnisse wie auf Rechtsfolgenseiten mit besorgniserregend weiten Kompetenzen aus. So kann die Kommission sogar unter Ausschluss der Öffentlichkeit sowohl Beamte, aber auch NGOs, Journalisten oder politische Parteien anhören. Dabei kann sie als Sanktion u.a. für bis zu zehn Jahre die Wahrnehmung von Funktionen untersagen, welche im Zusammenhang mit der Verwendung öffentlicher Gelder stehen. Während das Gesetz hierfür nicht einmal besondere Verfahrensgarantien vorsieht, erlaubt es die Verhängung solcher Sanktionen sogar für Zeitpunkte, zu denen das entsprechende Handeln im Einklang mit früheren Gesetzen stand.

Der am 16. Juni 2023 vom Sejm angenommene Änderungsantrag, welcher immerhin u.a. die Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle erweitert, vermag diese hochumstrittenen Punkte nicht zu mildern oder gar den Unionsrechtsverstoß auszuräumen.

Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kommission

Die Kommission reagierte prompt acht Tage später mit Einreichung einer Vertragsverletzungsklage, gestützt auf verschiedene rechtliche Anklagepunkte. Die höchsten Wellen schlug hierbei berechtigterweise die erstmalige Verbindung von Art. 2 EUV und Art. 10 EUV, was als Versuch einer Operationalisierung des Werts der Demokratie aus Art. 2 EUV gedeutet werden kann.

Bereits im Jahr 2018 begann der EuGH im Bereich seiner Rechtsprechung zur Justizorganisation den judiziellen Weg dahingehend zu ebenen, indem er in dem berühmten Urteil ASJP zu den Gehaltskürzungen der portugiesischen Richter erstmalig Art. 2 EUV und Art. 19 Abs. 1 UA 2 EUV verband und durch diese Operationalisierung eine gegenseitige Verstärkung der Vorschriften herbeiführte. Während Art. 2 EUV durch die Verbindung mit Art. 19 EUV Konkretisierung erfuhr, erweiterte der EuGH gleichzeitig den Anwendungsbereich von Art. 19 EUV.

Während der EuGH diese Rechtsprechung seitdem kontinuierlich fortführt, lassen sich bereits vor dem bahnbrechendem Urteil Anklänge dazu finden. So stellte der EuGH bspw. in Aldo Patriciello (Rn. 31) fest, dass die Meinungsfreiheit als ein in Art. 11 GrCH garantiertes Grundrecht eine wesentliche Grundlage einer demokratischen Gesellschaft darstelle, in der sich die Werte widerspiegeln, auf denen die Union gem. Art. 2 EUV beruhe.

Duale Legitimationsstruktur der Union als Begründungsinstrument für Operationalisierung von Art. 10 EUV?

Die Verbindung von Art. 2 EUV mit Art. 10 EUV durch die Kommission im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens mag zunächst ein Störgefühl dahingehend verursachen, dass Art. 10 EUV prima facie nur die Demokratie auf Unionsebene adressiert, während Lex Tusk polnisch national-staatliche Strukturen betrifft. Eine solche Betrachtung würde aber die duale Legitimationsstruktur und die enge Verknüpfung der europäischen Demokratie mit denjenigen der Mitgliedstaaten verkennen. Während die Union durch die Wahlen zum Europäischen Parlament zum einen unmittelbar demokratische Legitimation erhält, erfolgt durch die Einbringung von Vertretern in den Europäischen Rat eine weitere (mittelbare) Rückbindung an die Europäische Öffentlichkeit. Aus diesem Grund verlangt Art. 10 Abs. 2 UA 2 EUV auch, dass die Mitgliedstaaten ihre eigenen Verfassungen jeweils demokratisch ausgestalten. Die Argumentation des EuGHs in Bezug auf die Unabhängigkeit der Gerichte (Rn. 43), wonach die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte für den Vorlagemechanismus nach Art. 267 AEUV im europäischen Gerichtsverbund essentiell sei, lässt sich spiegelbildlich auf den Wert der Demokratie übertragen. Freilich lässt sich berechtigt an dieser Stelle einwenden, dass den Gerichten mit Art. 267 AEUV ein konkreter Mechanismus im Unionsrecht bereitgestellt wird, während Art. 10 EUV über einen vielfach höheren Abstraktionsgrad und daher über keinen vergleichbar konkreten Anwendungsbereich verfügt. Dies mag allerdings zum einen daran liegen, dass der EuGH sich in ASJP bereits nur mit einem Teilausschnitt der Rechtsstaatlichkeit in Form der Unabhängigkeit der Justiz beschäftigen musste. Zudem erscheinen bereits die Möglichkeiten der Beeinflussung der europäischen Demokratie durch die nationale Demokratie (und vice versa) weitaus multifaktorieller und komplexer, sodass es zumindest schwer sein dürfte, einen vergleichbar konkreten „Anker“ wie Art. 267 AEUV zu finden. 

Diese Interdependenz zwischen nationaler und europäischer Demokratie findet, wie Schuler zutreffend feststellt, in Art. 2 EUV selbst Ausdruck, indem die Union sich einerseits auf die Werte gründet, sie aber zum anderen den Mitgliedstaaten auch gemeinsam sind.

Ein weiteres Argument liefert Art. 10 Abs. 3 EUV, wonach die Unionsbürger ein Recht auf Teilhabe am demokratischen Unionsleben haben. Spieker (S. 87) merkte in diesem Zusammenhang ebenso die enge Verknüpfung zwischen europäischer und nationaler Demokratie an und bezeichnete die nationale Demokratie als Bedingung für die auf Unionsebene.

Mahnung zur Vorsicht

Bei all dem Enthusiasmus über den jüngsten von vielen lange herbeigesehnten Schritt der Kommission in der europäischen Rechtsstaatlichkeitskrise, ist jedoch zur Vorsicht angemahnt. Auch wenn der EuGH die von der Kommission vorgebrachte rechtliche Argumentation fruchtbar machen sollte, ermächtigt Art. 10 EUV keinesfalls zur Vorgabe oder detaillierter Regulierung national-staatlicher Strukturen. Wie auch bereits in der vergangenen Rechtsprechung zu beobachten, ermöglicht die Konstruktion von Art. 2 EUV in Verbindung mit normkonkretisierenden Vorschriften den EuGH lediglich einen Ausbau des Rahmens, innerhalb dem die Mitgliedstaaten sich bei der Gestaltung ihrer (Justiz-)Organisation bewegen können.

Das anhängige Vertragsverletzungsverfahren – quo vadis?

Eine Entscheidung des Gerichtshofs in der Sache dürfte auch trotz der jüngst erfolgten Abberufung der Ausschussmitglieder erfreulicherweise dennoch zu erwarten sein. Während in der Vergangenheit teilweise der Ansatz vertreten wurde, dass die Kommission in Fällen mit geänderter Sachlage ein besondere Rechtsschutzbedürfnis vorweisen müsse, ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage nach ständiger Rechtsprechung (Rn. 15) der Fristablauf für die begründete Stellungnahme. Nicht zuletzt dürfte weiterhin juristisch sauber zwischen dem zu ermächtigenden Gesetz und dem Bestehen des Sonderausschusses zu differenzieren sein. Sollte die Kommission ihre Anklage also nicht eigenständig zurücknehmen, sollte aufgrund des Bestehens des Lex-Tusk zum maßgeblichen Zeitpunkt des Ablaufs der Frist, ein Urteil in der Sache zu erwarten sein.

 

Der Beitrag war Bestandteil eines Impulsvortrags im „Arbeitskreis Unionsrecht“ und wurde durch die dortige Diskussion bereichert.

 

Zitiervorschlag: Kaiser, Lena, Frischer europäischer Wind aus Polen? Zur Abberufung der Mitglieder des Lex-Tusk-Ausschusses, JuWissBlog Nr. 71/2023 v. 16.12.2023, https://www.juwiss.de/71-2023/.

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Arbeitskreis Unionsrecht, Art. 10 EUV, Art. 2 EUV, Demokratie, Lena Kaiser, Lex Tusk, Operationalisierung der Werte, Polen
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