So einfach ist der „Dexit“ nicht zu machen

von ROBERT BÖTTNER

Eine von ihr geführte Regierung, so die AfD, werde sich für eine kompetenzreduzierende Reform der EU einsetzen. Sollte dies nicht gelingen, solle die Bevölkerung nach dem Modell des „Brexit“ über einen Austritt Deutschlands aus der EU abstimmen. Artikel 23 GG, der die Mitwirkung der Bundesrepublik an der Europäischen Union gerade als Verfassungsauftrag postuliert, stellt den „Dexit“ allerdings vor hohe Hürden.

Der Austritt Deutschlands aus der EU ist fester Bestandteil des AfD-Parteiprogramms. Bei den derzeitigen Umfragewerten ist nicht auszuschließen, dass diese Haltung in Zukunft zum Problem für die deutsche Europapolitik wird. Wohl mit Blick auf die anstehenden Wahlen forderte jüngst die Parteivorsitzende Alice Weidel in einem Interview mit der Financial Times: Reform oder „Dexit“.

Das europäische Austrittsverfahren

Europarechtlich ist das kein Problem. Nach Artikel 50 EUV kann jeder EU-Mitgliedstaat aus der Union ausscheiden, wenn er dem Europäischen Rat dahingehend seine Absicht mitteilt. Nach längstens zwei Jahren verlässt der Staat die EU. Artikel 50 fordert lediglich, dass der Mitgliedstaat den Austritt „im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften“ beschlossen haben muss. Genau hier – in den deutschen verfassungsrechtlichen Vorschriften – liegen die Hürden, die schwerlich zu überspringen sind.

Die erste Hürde: ein*e Kanzler*in von der AfD

Zwar bestimmt Artikel 59 Abs. 1 GG, dass der Bundespräsident den Bund völkerrechtlich vertritt und in seinem Namen Verträge mit auswärtigen Staaten schließt. Als actus contrarius fiele darunter auch die Kündigung der mit den anderen Mitgliedstaaten geschlossenen EU-Verträge. Die völkerrechtliche Vertretungsmacht des Bundespräsidenten ist indes keine ausschließliche und bezieht sich nach allgemeiner Meinung eher auf formale Akte. Die außenpolitische Funktion der Regierung (so das BVerfG im Urteil zur Atomwaffenstationierung, S. 85 f.) umfasst auch die Vertretung in Internationalen Organisationen einschließlich der EU, sodass es dem Bundeskanzler oder der Bundeskanzlerin zukäme, eine entsprechende Mitteilung an den Europäischen Rat zu richten.

Die erste Hürde besteht also darin, den Kanzler oder die Kanzlerin zu stellen. Das Verfahren dazu richtet sich bekanntlich nach Artikel 63 GG und erfordert regelmäßig eine absolute Mehrheit im Bundestag. In einem dritten Wahlgang reicht eine relative Mehrheit, es sei denn, der Bundespräsident entscheidet sich, den Bundestag aufzulösen. Gibt es keine klaren Mehrheiten im Bundestag, die für eine Regierungsbildung zusammenarbeiten wollen, kann ein dritter Wahlgang schnell zu einem politischen Risiko werden, wie die Wahl Thomas Kemmerichs im Thüringer Landtag eindrucksvoll gezeigt hat.

Die zweite Hürde: ein verfassungsänderndes Parlamentsgesetz

Der Kanzler oder die Kanzlerin darf aber nicht von sich aus den Austritt erklären. Vielmehr bedarf es dafür eines Parlamentsgesetzes nach Artikel 23 GG. Da es sich beim EU-Austritt um einen Sachverhalt handelt, durch den das Grundgesetz im Sinne des Artikel 23 Abs. 1 S. 3 GG seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird, bedarf es einer verfassungsändernden Mehrheit nach Artikel 79 Abs. 2 GG. Eine mögliche Zusammenarbeit mit anderen Parteien außen vor gelassen bedürfte die AfD somit nicht nur eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag, sondern auch eine entsprechende Mehrheit der Stimmen in der Ländervertretung, also eine alleinige oder in dieser Frage einhellige koalitionäre Regierungsverantwortung in den Bundesländern (da Stimmen nach Artikel 51 Abs. 3 nur einheitlich abgegeben werden können). Hier zumindest käme dem Bundespräsidenten eine entscheidende Rolle zu, denn er ist nach Artikel 82 GG für die Ausfertigung des Austrittsgesetzes verantwortlich. Dazu kann er das Gesetz auf formelle und wohl auch auf evidente materielle Fehler prüfen.

Die AfD-Vorsitzende schlägt demgegenüber vor, die Entscheidung über den EU-Austritt in einem Referendum herbeizuführen. Artikel 20 Abs. 2 GG, wonach die Staatsgewalt vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt wird, lässt den Schluss zu, dass man wie im Vereinigten Königreich eine Volksabstimmung über den Verbleib in der EU durchführen könnte. Tatsächlich aber müsste man die klaren Vorgaben des Grundgesetzes, das eben ein Parlamentsgesetz für den Austritt fordert und nur punktuell überhaupt Volksabstimmungen vorsieht, ändern. Dazu bedürfte es aber neuerlich die eben erwähnte Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat.

Die dritte Hürde: das Bundesverfassungsgericht

Denkbar ist natürlich, dass der Austritt unter Missachtung der eben genannten innerstaatlichen prozessualen Erfordernisse der EU gegenüber erklärt wird. Sofern es dann nicht schon wie in einigen anderen Staaten zur Demontage des Verfassungsgerichts gekommen ist, könnte als letzte Bastion das Bundesverfassungsgericht eine Austrittserklärung für ungültig erklären – vorausgesetzt natürlich, es wird mit der Angelegenheit befasst (wo kein Kläger, da kein Richter).

Denn neben den formellen Voraussetzungen bedarf ein Austritt einer materiellen „Austrittslage“. Aus der Präambel und Artikel 23 GG entnimmt das Bundesverfassungsgericht nicht nur eine „Offenheit für eine europäische Integration“ (Maastricht-Entscheidung, S. 174), sondern gar den „Verfassungsauftrag zur Verwirklichung eines vereinten Europas“, wonach es nicht im politischen Belieben der deutschen Verfassungsorgane stehe, sich an der europäischen Integration zu beteiligen (Lissabon-Urteil, Rn. 225). Dies gilt, solange die EU nach Artikel 23 Abs. 1 S. 1 GG „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“. Einzelne unliebsame Entscheidungen der Union genügen noch nicht, um den Austritt Deutschlands aus der Union zu erklären.

Verfassungsrechtliche Hürden und politische Unwägbarkeiten

Zwar sind die Voraussetzungen, die das Grundgesetz an einen Austritt aus der Union stellt, enorm hoch, sodass beim derzeitigen Stand der Integration eine entsprechende Austrittserklärung schlicht verfassungswidrig wäre. Allerdings ist der Verfassungsauftrag zur Europäischen Integration selbst wohl nicht Bestandteil des änderungsfesten Kerns der deutschen Verfassungsordnung, will man ihn nicht als Teil des demokratischen Prinzips in Artikel 79 Abs. 3 i.V.m. Artikel 20 GG hineinlesen.

Ob und wie demgegenüber die EU auf eine möglicherweise unzulässige Austrittserklärung reagieren kann, ist höchst fraglich. Auch wenn die Einhaltung der nationalen verfassungsrechtlichen Bestimmungen eine Tatbestandsvoraussetzung des Artikel 50 EUV ist, wird der EuGH die Einhaltung nationaler verfassungsrechtlicher Regeln nicht überprüfen können. Indem der EuGH betont, das Recht zum Austritt sei ein souveränes Recht eines jeden Mitgliedstaats, das an keine weiteren Voraussetzungen gebunden ist, kann er keinen Staat über den Weg der Kontrolle der Austrittserklärung zwangsweise in der Union halten. Auch der Europäische Rat wird ein Land nicht wegen eines „fehlerhaft erklärten Austritts“ in der Union halten können. Einen europäischen „Bundeszwang“ gibt es gerade nicht.

Am Ende muss jedem Einzelnen klar sein: Ein Austritt aus der EU und damit (auch) aus dem Binnenmarkt hätte erhebliche negative Auswirkungen, die die möglichen Vorteile eines „take back control“ mitnichten aufwiegen könnten. Der „Brexit“ ist dafür ein eindrückliches Beispiel (siehe etwa hier). Für Deutschland als ein Land in der Mitte Europas, das wie kein anderes von Exporten ins europäische Ausland und damit vom Gemeinsamen Markt profitiert, wäre die Folgen ungleich verheerender.

Zitiervorschlag: Böttner, Robert, So einfach ist der „Dexit“ nicht zu machen, JuWissBlog Nr. 9/2024 v. 22.02.2024, https://www.juwiss.de/9-2024/.

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.

Dexit, EU-Austritt, Referendum, Robert Böttner, Verfassungsänderung
Nächster Beitrag
Service am Montag
Vorheriger Beitrag
Service am Montag

Ähnliche Beiträge

von RALPH JANIK Es ist über 20 Jahre her, dass Samuel Huntington in seinem streitbaren Buch vom Kampf der Kulturen drei Thesen zur Entwicklung der Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine, die er als „zerrissenes Land“ kategorisierte, vorgelegt hat: unter anderem sprach er von der Möglichkeit, „dass die Ukraine entlang…
Weiterlesen
Von PHILIPP SEMMELMAYER Am 17.10.2020 fanden in Neuseeland Parlamentswahlen statt, bei denen der bisherigen und auch zukünftigen Premierministerin Jacinda Ardern ein Erdrutschsieg gelang. Zudem waren die diesjährigen Parlamentswahlen mit zwei Referenden verbunden, deren Ergebnis in Kürze bekanntgegeben werden soll. Somit stand Neuseelands Demokratie, die sich stets als reformfreudig und modern…
Weiterlesen
von ROBERT BÖTTNER Als Follow-up zu den Vorschlägen der Konferenz zur Zukunft Europas aus dem Mai 2022 hat nun im November 2023 das Europäische Parlament einen umfangreichen Katalog an Änderungsvorschlägen vorgelegt. Neben einer Reihe kleinerer Anpassungen enthalten die Vorschläge tiefgreifende institutionelle und kompetenzielle Reformen. Im Zentrum steht natürlich die Stärkung…
Weiterlesen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.