von JONAS REICHERT
Bruno de Witte nannte die Konstruktion des Corona-Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“ einen Akt des „legal engineering“. Ob es Meisterstück oder Mogelpackung geworden ist, war bei der Auflage 2020 heiß umstritten. Unbestritten ist, dass es für die Fiskalordnung der Union einen Meilenstein darstellt. Zur Erinnerung: In dem auf Art. 311 Abs. 3 AEUV gestützten Eigenmittelbeschluss 2020 (EMB) wurde die Kommission zur Aufnahme von 750 Mrd. € zur Bewältigung der Folgen der Coronakrise ermächtigt. In dem auf die Notfallkompetenz Art. 122 AEUV gestützten EU Recovery Instrument (EURI) werden Verwendungszwecke formuliert und die Mittel an kleinere Fonds zugewiesen. Der größte davon ist die auf Art. 175 Abs. 3 AEUV gestützte Recovery and Resilience Facility (RRF). Die juristische Ingenieursleistung hatte nicht nur die veränderten politischen Anforderungen an die Verträge zu verarbeiten, sondern war auch in erhebliche Pfadabhängigkeiten der beteiligten Organe eingebettet. Letztere haben an manchen Stellen die Statik des Vorhabens erheblich beeinträchtigt.
Politökonomischer Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion
Die seit dem Maastrichter Vertrag fast unveränderten Vorschriften der Verträge lassen sich in verschiedene politökonomische Vorstellungen über die Wirtschafts- und Währungsunion einbetten. Die diskutierten Ideen betrachten vor allem Einnahmen- und Ausgabenseite des Unionshaushalts und dessen Finanzierungsbedingungen. Insbesondere in Deutschland ist eine „fiskalkonservative“ Lesart der Verträge populär gewesen, nach der die Union stark von den Mitgliedstaaten abhängig ist. Die Einnahmen bestehen fast nur aus Eigenmitteln, die aus Anteilen bestimmter Abgaben der Mitgliedstaaten bestehen. Der Eigenmittelbeschluss muss einstimmig ergehen und von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden (Art. 311 Abs. 3 S. 2 AEUV). Unionsschulden waren außer für weitergeleitete Kredite unbekannt. Wenn die Union mehr Einnahmen generieren wollte, musste sie sich mit den nationalen Parlamenten und den Abgabenpflichtigen anlegen. Die Ausgaben waren vor allem auf die primärrechtlich vorgesehenen Fonds beschränkt. Die Finanzierungsbedingungen sollten wegen des Ankaufsverbots für Staatsanleihen durch die Zentralbanken, des Bevorzugungsverbots für Staatsanleihen und des Beistandsverbots dem Markt unterworfen sein (Art. 123–125 AEUV). Durch Next Generation EU hat sich diese Lage erheblich verändert: Die Kunststoff-Eigenmittel (Art. 2 Abs. 1 lit. c EMB) wirken wie eine Unionsabgabe und die Kommission kann 750 Mrd. € Schulden zur Bewältigung der Folgen der Coronakrise aufnehmen (Art. 5 Abs. 1 EMB). Verschuldung kann hier als Ausweg aus dem Finanzierungskonflikt mit den Parlamenten und Abgabenpflichtigen der Mitgliedstaaten erscheinen, zumal die Union keiner Defizitregel wie Art. 126 AEUV unterliegt. Ausgabenseitig fällt die volumenmäßig präzedenzlose Aktivierung der Notfallkompetenz Art. 122 AEUV für EURI und die unionsweite Kurzarbeitergeldabsicherung SURE auf. Mit den EURI nachgeordneten Fonds wurden Teile der von der Kommission seit 2018 verfolgten Vorschläge für ein Eurozonenbudget verwirklicht. Inwiefern die Finanzierungsbedingungen der Union durch ihre Institutionen beeinflusst werden können, v.a. durch Vorschriften über die Risikobewertung von Staatsanleihen in den Portfolios von Versicherungen und Bankbilanzen, und ob diese Schulden zum Teil in der Bilanz der Zentralbanken landen, ist noch offen. Insgesamt ist hierbei ein Übergang zu einer stärkeren fiskalischen Integration („Fiskalunion“) mit größerem Gestaltungsspielraum der Union zu erkennen. Beide politischen Ideen ignorieren den Aspekt der Vermittlung zwischen Einnahmen und Ausgaben über die Haushaltsregeln (Art. 310 AEUV). Das ist aber bei Next Generation EU besonders problematisch, weil dessen sehr große Fonds von außerhalb des regulären Haushalts bewirtschaftet werden und das Parlament damit sein Mitspracherecht (Art. 310 Abs. 2 AEUV) einbüßt. Ob eine Interinstitutionelle Vereinbarung für dessen Absicherung politisch ausreicht, bleibt zu sehen.
Kompetenzdenken
Neben der Auslegung der Haushaltsgrundsätze stehen hier vor allem Kompetenzfragen im Raum. Sie begleiten die Union seit jeher und sind durch eine Fülle an Rechtsprechung unterfüttert. Ein wichtiges Werkzeug der Zuordnung eines Rechtsakts zu einer Kompetenz ist die „Schwerpunkttheorie“, wonach eine Maßnahme der Kompetenz zuzuordnen ist, die sie schwerpunktmäßig betrifft. Untergeordnete Regelungen seien dafür nicht ausschlaggebend, dazu später mehr. Der politische Umbau der Wirtschafts- und Währungsunion muss sich irgendwie in die entwickelten Maßstäbe einfinden und sorgt dabei für Irritationen.
Problem der Verpflichtungsermächtigung im Eigenmittelbeschluss
Wenden wir uns nun einem dogmatischen Problem zu, das das Zusammenspiel von juristischer Argumentation und politischen Zwängen der Beteiligten beispielhaft sichtbar werden lässt: Die Verschuldungskompetenz. Man könnte erstens meinen, der Eigenmittelbeschluss sei nicht am Primärrecht zu messen, weil er einstimmig ergeht und von den Mitgliedstaaten ratifiziert wird (Art. 311 Abs. 3 S. 3 AEUV). Es lässt sich zwar z.B. einwenden, dass er nicht wie andere Rechtsakte mit den Verträgen gleichgestellt ist (z.B. Art. 1 Abs. 3, 6 Abs. 1 und 3 oder 51 EUV), aber das Rechtsnaturargument böte einen gangbaren Ausweg. Zweitens wird argumentiert, dass die Vorschrift („Eigenmittel“) so offen formuliert sei, dass man darunter Schulden verstehen könne, zumal der Rat jederzeit neue Eigenmittelkategorien einführen kann (Art. 311 Abs. 3 S. 2 AEUV). Kommission und Rat halten demgegenüber aber an einem materiellen Eigenmittelbegriff fest, der einen Nettovermögenszuwachs durch Eigenmittel verlangt. Schulden seien hingegen wegen der Rückzahlungspflicht Fremdmittel. Auch der Eigenmittelbeschluss von 2020 definiert die Verschuldung (Art. 5 EMB) nicht als Eigenmittel (Art. 2 EMB). In diesem Punkt wollten die Unionsorgane wohl eine seit langem vorgetragene Rechtsauffassung nicht aufgeben. Wieso können Unionsschulden dann auf die Eigenmittelkompetenz gestützt werden, wenn sie gar keine Eigenmittel sind? Das Bundesverfassungsgericht – drittens – meint, die Verpflichtungsermächtigung müsse aus Gründen des Verfassungsrechts im Eigenmittelbeschluss „vorgesehen“ und die Ausgaben an eine andere Kompetenz zweckgebunden sein. Damit hat es offengelassen, wo die Verschuldungskompetenz zu finden ist. Die „Verankerung“ im Eigenmittelbeschluss sei aber zwingend, da der Bundestag sonst seine Budgethoheit einbüßte. Wenn aber der Bundestag bei der Ratifikation des Beschlusses ein Vetorecht habe, sei diese Gefahr gebannt. Damit hat das Gericht zwar vermieden, erneut die Atombombe „ultra-vires-Akt“ zu zünden, eine Antwort auf die Kompetenzfrage hat es aber nicht gegeben. Diese Antwort hat – viertens – der Juristische Dienst des Rates mit der Schwerpunkttheorie versucht: Die Rückzahlung der aufgenommenen Schulden erfolgt mit entsprechend erhöhten Eigenmitteln bis zum Jahr 2058 aus dem Unionshaushalt (Art. 6 EMB). Die dafür notwendige Erhöhung der Eigenmittelobergrenzen sei zweifelsohne auf die Eigenmittelkompetenz stützbar. Weil die Aufnahme der Mittel logisch mit ihrer Rückzahlung verbunden sei, handele es sich bei der Aufnahme um einen Annex zur Rückzahlung. Dieser könne nach der Schwerpunkttheorie mitgeregelt werden. Der Juristische Dienst scheint hier Ursache und Wirkung zu vertauschen: Zuerst müssen Schulden aufgenommen werden; erst dann kann man über ihre Rückzahlung sprechen.
Konsequenzen für die juristische Verarbeitung
Es ist auffällig, dass die Unionsorgane zunächst einmal hörenswerte Lösungen – die erste und zweite – über die Rechtsnatur des Eigenmittelbeschlusses oder den formellen Eigenmittelbegriff nicht verwenden, um alte Rechtspositionen nicht aufzugeben oder skeptische Mitgliedstaaten über die Einstimmigkeit von Art. 311 Abs. 3 AEUV mit ins Boot zu holen. Letzteren bleibt dann ein Vetorecht und auch die nationalen Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts bleiben formal unangetastet. Ebenso verwunderlich wirkt, dass die Unionsorgane auch in ihrer juristischen Argumentation stets die Krisengebundenheit des Projekts betonen, obwohl zwei von drei Rechtsakten gar nicht auf Krisenbestimmungen gestützt sind. Wieso bestimmte Akteure sich scheinbar gezwungen sehen, den Weg über von juristischer Ingenieurskunst konstruierte Argumentationsmonster zu gehen, soll Gegenstand meiner Forschung der nächsten Jahre sein.
Zitiervorschlag: Reichert, Jonas, Fiskalkompetenzen nach Next Generation EU: Juristische Ingenieurskunst?, JuWissBlog Nr. 12/2024 v. 28.02.2024, https://www.juwiss.de/12-2024/.
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