von OLE SIEMEN
Der Ton in den sozialen Netzwerken ist seit jeher rau. Nicht erst seit Beginn der Flüchtlingskrise fallen Äußerungen, die schwer erträglich sind. Verschiedene Aktivitäten der Bundesregierung versuchen, gegenzusteuern. Schießen sie über das Ziel hinaus?
Soziale Netzwerke dienen Internetnutzer*innen als wichtige Nachrichtenquelle. Obgleich Deutschland im internationalen Vergleich etwas abfällt, lässt sich dies auch hierzulande konstatieren. Die so konsumierten Nachrichten werden nicht nur mit „Gefällt mir“ oder ähnlichem bewertet, sondern auch durch die Nutzer*innen weiterverbreitet und kommentiert. In der Regel werden dabei persönliche Ansichten der Nutzer*innen geäußert, deren ungefilterte Subjektivität für andere Nutzer*innen gerade den Reiz sozialer Netzwerke ausmacht.
Nachrichten, die in den letzten Wochen und Monaten regelmäßig zu kontroversen Diskussionen führten, entstammten häufig dem Themenspektrum Migration und Flüchtlingskrise. Offenbar sehen einige Bürger*innen ihre persönlichen Ansichten nicht hinreichend durch Politiker*innen vertreten. Diese Wahrnehmung beklagen sie teils in sachlicher, teils in unsachlicher Form. Die Bandbreite der Äußerungen reicht von nüchternen Zustandsbeschreibungen bis hin zu Morddrohungen. Dazwischen liegt ein weites Feld aus Ängsten, Unmutsbekundungen und Schimpftiraden.
Ein Teil davon lässt sich mit dem Begriff Hate Speech erfassen. Der Versuch einer genauen Definition dieses Konzepts birgt einige Schwierigkeiten. Sagen lässt sich wohl, dass es sich um eine Aussage handeln muss, die einen anderen Menschen nicht etwa sachlich kritisiert, sondern persönlich (zum Beispiel aufgrund sexueller Orientierung, Herkunft oder Behinderung) attackiert. Wer zu diesem Mittel greift, offenbart mindestens eine schlechte Kinderstube und kann sich darauf einstellen, als Teilnehmer der öffentlichen Debatte nicht mehr ernstgenommen zu werden.
Strategien gegen Hate Speech
Eine andere Frage ist aber die mögliche Strafbarkeit. Infrage kommen vor allem die Tatbestände der Beleidigung, der üblen Nachrede, der Verleumdung und der Volksverhetzung. Grundsätzlich lässt sich wohl sagen: Was unter einen dieser Straftatbestände fällt, ist meist auch Hate Speech, aber bei Weitem nicht alles, was Hate Speech ist, fällt auch unter einen dieser Straftatbestände. Während gegen strafrechtlich relevante Äußerungen in sozialen Netzwerken selbstverständlich mit einer entsprechenden Strafanzeige vorgegangen werden kann, ist dies bei Äußerungen, die „nur“ Hate Speech sind, nicht möglich.
Stattdessen lässt sich der betreffende Beitrag in der Regel bei Administrator*innen des Netzwerks melden. In der Vergangenheit führte dies jedoch selten zum gewünschten Erfolg, nämlich der Löschung des Beitrags. Vielmehr beriefen sich die Unternehmen häufig darauf, offene Netzwerke mit offenen Debatten sein zu wollen – das Löschen von Nutzerbeiträgen solle die absolute Ausnahme bleiben.
Bundesjustizminister Heiko Maas hielt dies nicht für zufriedenstellend. Im Dezember 2015 stellte er die Ergebnisse einer „Task Force“ vor, an der auch Facebook und Google beteiligt waren. Durch einfachere Möglichkeiten der Meldung und schnellere Reaktionszeiten aufseiten der sozialen Netzwerke sollten „Hass und Hetze“ im Netz wirksam bekämpft werden.
Zusätzlich ist neuerdings die Bekämpfung von Hate Speech im Internet Teil einer gemeinsamen Strategie des Bundesministeriums des Innern (BMI) und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). In diesem Zusammenhang ist unter anderem die Umsetzung der „NoHateSpeech“-Kampagne des Europarats vorgesehen, die Internetnutzer*innen im Umgang mit Hate Speech unterstützen soll.
Die Pläne sehen verschiedene Maßnahmen vor, so zum Beispiel die Förderung von „Counter Speech“ und raschere Reaktionen seitens der Betreiber*innen sozialer Netzwerke. Unbestritten ist, dass diese über das „virtuelle Hausrecht“ verfügen und daher Nutzerbeiträge nahezu nach Gutdünken löschen dürfen (und unter Umständen müssen). Dabei mögen ihnen zwar gewisse Grenzen gesetzt sein, beispielsweise durch die vertraglich vereinbarten Nutzungsbedingungen (AGB), doch dies ist in diesem Zusammenhang zu vernachlässigen.
Interessanter ist die Frage nach den Kompetenzen der Politik. Nutzt ein*e Bürger*in die sozialen Netzwerke, so wird von verschiedenen Grundrechten Gebrauch gemacht. Dies ist bei staatlichen Reaktionen zu berücksichtigen. In sozialen Netzwerken sind vor allem die Meinungsfreiheit und die allgemeine Handlungsfreiheit relevant.
Fraglich ist, ob die beschriebenen Maßnahmenkataloge der Ministerien überhaupt Grundrechtseingriffe sein können. Vordergründig stellt es sich so dar, dass Beitragslöschungen nur durch die Unternehmen erfolgen, deren Befugnis dazu bereits erwähnt wurde. Offenbar ist es aber keineswegs so, dass die Unternehmen die Initiative aus eigenem Antrieb ergriffen haben.
Vielmehr scheint die Bundesregierung, nicht zuletzt in Person von Heiko Maas, die treibende Kraft zu sein. In verschiedenen Verlautbarungen hat er aus seinen Ambitionen keinen Hehl gemacht, „Hass und Hetze“ löschen lassen zu wollen. Allerdings hat er auch einen Entwurf zu „digitalen Grundrechten“ vorgelegt, der unter anderem das Recht auf freie Meinungsäußerung enthält. Zu beachten seien demnach nur die „allgemeinen Gesetze“ – von diesen wird Hate Speech aber häufig nicht erfasst. Mit den bisherigen Resultaten der „Task Force“ ist der Bundesjustizminister nun nicht zufrieden. In einem Schreiben an Facebook beklagt er, es würde „das Falsche“ gelöscht.
Die Frage, was denn das „Richtige“ wäre, beschäftigt auch das BMI, das BMFSFJ und die bereits erwähnte Kampagne „NoHateSpeech“. In den sozialen Netzwerken setzen sie sich in zahlreichen Beiträgen und Kommentaren dafür ein, Hate Speech zu ächten. Dabei gestehen sie ein, die schwammige Begrifflichkeit nicht eindeutig mit deutschem Recht in Übereinstimmung bringen zu können.
Abhilfe soll eine Broschüre der Amadeu-Antonio-Stiftung schaffen, deren Entstehung durch das BMFSFJ gefördert wurde und die auch das BMI bewirbt. Das Faltblatt gibt Hilfestellung bei der Erkennung von Hate Speech. Unter der Überschrift „Rassistische Hetze“ werden unter anderem einsortiert: „Gegenüberstellung ‚Wir’ und ‚Die’“, „Verallgemeinerungen“, „Lügenpresse“, „Gutmensch“, … Der darauffolgende Abschnitt erklärt das „Melden und Anzeigen“.
Es mag Geschmacksfrage sein, ob man das Erstellen einer solchen Broschüre einer Stiftung überantworten möchte, deren Vorsitzende acht Jahre als Inoffizielle Mitarbeiterin (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS oder „Stasi“) tätig war. Es mag auch Geschmacksfrage sein, ob man das Erstellen einer solchen Broschüre einer Mitarbeiterin überantworten möchte, deren Expertise auf dem Gebiet Hate Speech aus eigener Anwendung herrührt. Keine Geschmacksfrage aber sind mögliche Auswirkungen auf die Grundrechtsausübung durch Internetnutzer.
Grundrechtsbeeinträchtigungen
Selbst, wenn das unmittelbare Löschen nicht in der Hand öffentlicher Stellen, sondern bei den sozialen Netzwerken selbst liegt: Die Initiative scheint von der Politik auszugehen. Die genannten Bundesministerien äußern sich dazu, dass und was gelöscht werden soll. Wo dieser Zielvorgabe durch Dritte, also die Unternehmen, Folge geleistet wird, liegt eine mittelbar-faktische Grundrechtsbeeinträchtigung vor und damit das funktionale Äquivalent eines klassischen Grundrechtseingriffs. (Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu „Osho“ und „Glykol“, aber auch des Bundesverwaltungsgerichts zu „Scientology“.)
Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung dafür ist nicht ersichtlich. Grundsätzlich ist der Bundesregierung zwar zuzugestehen, im Rahmen der Staatsleitung auch Informationsaufgaben wahrzunehmen. Dies muss jedoch angemessen mit den Grundrechten betroffener Bürger*innen in Einklang gebracht werden. Ist die Maßnahme voraussetzungsgemäß auf Grundrechtseingriffe gerichtet, entfaltet die allgemeine Kompetenz der Staatsleitung keine zureichende Legitimationswirkung.
Die Verfolgung unerwünschter Äußerungen ist stattdessen, wie geschildert, mit den Mitteln des Strafrechts möglich. Das Grundgesetz gewährt einen breiten Korridor zulässiger Meinungsäußerungen, den das Strafrecht hinreichend einschränkt. Ist eine Äußerung strafrechtlich relevant, so kann sie mit strafrechtlichen Mitteln verfolgt werden; sofern es zu einem Verfahren kommt, stehen dem/der Angeklagte*n rechtsstaatliche Mittel der Verteidigung zur Verfügung.
Eine in diesem Zusammenhang relevante Änderung der Gesetzeslage und eine damit einhergehende Ausweitung der Strafbarkeit ist derzeit nicht absehbar. Zwar gibt es auf EU-Ebene Bestrebungen, das Strafrecht der Mitgliedstaaten unter bestimmten Aspekten zu harmonisieren und unter anderem Hate Speech einheitlich(er) zu pönalisieren. Auch hier stehen jedoch die Grundrechte einer ausgreifenden Kriminalisierung entgegen, zumal die Bundesrepublik Deutschland ohnehin viele der unionsrechtlich geforderten Umsetzungen bereits im geltenden Recht – häufig durch § 130 Strafgesetzbuch (Volksverhetzung) – abdeckt.
Der Versuch, weitere Einschränkungen (auch über Zwischenschaltung Dritter) zu implementieren, ist sehr kritisch zu hinterfragen – insbesondere mit Blick auf die für den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat „schlechthin konstituierende“ Stellung der Meinungsfreiheit. Sie schützt, ungeachtet politischer Korrektheit, alle Meinungen – „ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, oder ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden. […] Der Meinungsäußernde ist insbesondere auch nicht gehalten, die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen zu teilen, da das Grundgesetz zwar auf die Werteloyalität baut, diese aber nicht erzwingt.“ (BVerfG, Beschl. v. 28.11.2011 – 1 BvR 917/09).
Bereits das Wissen darum, dass bestimmte Inhalte nicht erwünscht sind, sondern – aufgrund Empfehlung der Bundesregierung – gelöscht werden, beeinflusst das Verhalten der Bürger*innen. Schon das (auch nur unbewusste) Gefühl, bei Meinungsäußerungen die Sichtweise der Bundesregierung als Grenze des Sagbaren mitdenken zu müssen, zieht Einschränkungen der Meinungsfreiheit mit sich. Der sorglose Gebrauch von Begriffen wie „Hetze“ und „Rassismus“ wirkt einschüchternd, weil damit stets eine Grenzüberschreitung, wenn nicht Gesetzesübertretung insinuiert wird. Und wer annimmt, eine bestimmte Äußerung würde ohnehin zensiert, neigt zur vorauseilenden Selbstzensur. Darum wäre es zu begrüßen, wenn die Bundesregierung weniger invasive Maßnahmen wählte, um die Debattenkultur im Internet zu zivilisieren.