Abwägungsfestigkeit ersetzt keine Begründung

von FRANK RIECHELMANN

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts unterstellt in seinem Urteil vom 31.10.2023, Az. 2 BvR 900/22, dass die Grundrechtsnorm des Art. 103 Abs. 3 GG „abwägungsfest“ sei. „Abwägungsfestigkeit“ ersetzt aber keine Begründung. Eigentlich ist der Terminus, der über 20 Mal in der Entscheidung erwähnt wird, redundant. Denn Art. 103 Abs. 3 GG ist ein subsumtionsfähiger Rechtssatz (Regel). Als solcher unterliegt er ohnehin nicht der Abwägung. Insofern erweist er sich notwendigerweise als „abwägungsfest“. Gemeint dürfte sein, dass die Vorschrift der Rechtsoperation der Subsumtion unterfällt.

„Abwägungsfestigkeit“ meint Subsumtion

Wenn Art. 103 Abs. 3 GG „abwägungsfest“ ist, weil er „dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Prinzip der materialen Gerechtigkeit“ gewährt (Urteil des Zweiten Senats vom 31.10.2023, Az. 2 BvR 900/22, Rz. 76, vgl. auch 3. Leitsatz), so besagt dies, dass er die verfassungsrechtliche Vorrangentscheidung, das heißt das Ergebnis der Abwägung der beiden Prinzipien, wiedergibt. Diese unterliegen der Abwägung – eben, weil es sich bei ihnen um Prinzipien handelt (vgl. ebd., Rz. 78; das Besondere ist in diesem Fall aber, dass nicht der Gesetzgeber, sondern die Verfassung bereits selbst die Abwägung vorgenommen hat; ebd.). Denn charakteristisch für Prinzipien ist, dass sie der Rechtsoperation der Abwägung unterliegen (siehe Alexy, Die Gewichtsformel, in: GS Sonnenschein, 2003, S. 771 f.).
Das Ergebnis der Abwägung – das der Wortlaut des Art. 103 Abs. 3 GG ausdrückt – stellt hingegen eine Regel dar. Regeln sind aber schon insofern „abwägungsfest“, weil sie gar nicht der Abwägung unterliegen; Regeln unterliegen der anderen Rechtsoperation: der Subsumtion (ebd.; zum Regelcharakter des Ergebnisses einer Abwägung s. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1994, S. 87; Riechelmann, ZRPh 2021, S. 97, 108 ff.; ders., Rechtssicherheit als Freiheitsschutz, 2009, S. 75).
Die in Art. 103 Abs. 3 GG zum Ausdruck kommende „Vorrangentscheidung steht einer Relativierung des Verbots durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen“ (BVerfG, ebd., 3. Leitsatz; vgl. ebd. Rz. 75) – und zwar deshalb, weil es sich bei ihr um eine Regel und nicht um ein Prinzip handelt.
Weil Regeln der Subsumtion unterliegen, unterliegen sie nicht der Abwägung, und deshalb sind sie „abwägungsfest“. Der Hinweis, dass die Vorschrift des Art. 103 Abs. 3 GG „abwägungsfest“ sei, erweist sich im Grunde genommen als überflüssig. Denn es geht nicht um die Frage, ob die Vorschrift abwägungsfest ist, sondern darum, was den insofern durchaus „abwägungsfesten“ Inhalt des Verbotes des Art. 103 Abs. 3 GG ausmacht.

„Abwägungsfestigkeit“ im Sinne des BVerfG

„Abwägungsfestigkeit“ und ihre Voraussetzungen im Sinne des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts dürften wie folgt zu verstehen sein:

  1. Eine Vorrangentscheidung zu bestimmen, die das Ergebnis der Abwägung der Prinzipien (Schutzgüter) „Rechtssicherheit“ und „materiale Gerechtigkeit“ ausdrückt, obliegt grundsätzlich dem demokratisch-legitimierten Gesetzgeber.
  2. Allerdings hat die Verfassung schon durch den Rechtssatz des Art. 103 Abs. 3 GG eine solche Vorrangentscheidung getroffen; die Regel des Art. 103 Abs. 3 GG dokumentiert das Ergebnis der Abwägung der beiden vorgenannten Prinzipien durch die Verfassung.
  3. Dem Gesetzgeber ist daher eine Abwägung untersagt, soweit aus ihr ein Ergebnis folgt, das von der Regel des Art. 103 Abs. 3 GG in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise abweicht („Abwägungsfestigkeit“). Ein solches Ergebnis verstößt gegen Art. 103 Abs. 3 GG und ist daher nichtig.

Bedenken, nach denen der Gesetzgeber bei den anderen Wiederaufnahmegründen des § 362 StPO (Nrn. 1 bis 4) das Prinzip der Rechtssicherheit gegenüber dem Prinzip der materialen Gerechtigkeit nicht hinreichend (unangemessen) berücksichtigt hätte, bestehen nicht. Diese Wiederaufnahmegründe werden vom Verbot des Art. 103 Abs. 3 GG nicht erfasst (ebd., Rz. 117 ff.), zu dem sie verfassungsrechtlich zulässige Ausnahmen darstellen (zur Auflösung einer Kollision bei Regeln unter Bewahrung ihrer Geltung s. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 77; Dworkin, Taking Rights Seriously, 1978, S. 27, 74).

Rechtsoperation und Begründung

Ob Abwägung oder – wie im vorliegenden Falle – Subsumtion (bzw. Nicht-Abwägung/“Abwägungsfestigkeit“) – beide Rechtsanwendungsformen (Rechtsoperationen) enthalten als solche noch keine Begründung, weshalb sie diese auch nicht ersetzen können. Vielmehr setzen sie eine juristische Begründung voraus (bzw. geben für diese bloß formal einen Rahmen vor). Ob die Verfassung bei der von ihr zwischen Rechtssicherheit und materialer Gerechtigkeit getroffenen Abwägung, die zu dem Ergebnis(rechtssatz) „Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden“ führte, mit „bestraft“ auch den Fall eines vorherigen Freispruchs gemeint hat, bedurfte der juristischen Klärung/Begründung durch das Bundesverfassungsgericht.
Vielleicht meinte das Gericht, mit dem Terminus „abwägungsfest“ eine Auseinandersetzung mit einem Argument umgehen zu können, welches besagt, dass eine gerechte Bewertung des Tatgeschehens (und insofern „materiale Gerechtigkeit“) aus dem in Art. 1 Abs. 1 GG wurzelnden materiellen Schuldprinzip folgen würde (vgl. BVerfGE 80, 367 ff., Rz. 37). Aber auch dieses Argument wäre als Bestandteil einer Begründung von einer Frage nach der Rechtsoperation unabhängig.
Ebenso erscheint es möglich, ein weiteres Argument gegen einen generellen Strafklageverbrauch anzuführen, nämlich, dass derjenige, der freigesprochen wurde, insoweit „wesentlich ungleich“ zu demjenigen anzusehen sei, der rechtskräftig verurteilt („bestraft“) wurde. Den Makel einer durch Strafurteil festgestellten schuldhaften Gesetzesverletzung trägt der „Verurteilte“ („Bestrafte“), nicht aber der „Freigesprochene“. Dieser hat auch den Status, in dem für ihn die Unschuldsvermutung gilt, nie verlassen. Außerdem gilt der Strafklageverbrauch grundsätzlich nicht für Einstellungen im Ermittlungsverfahren, weshalb die Staatsanwaltschaft eingestellte Ermittlungen jederzeit wieder aufnehmen kann. Insofern wird es auch weiterhin Fälle „nicht endender“ Strafverfolgung geben (können).

Da erfahrene Juristen an der Ausarbeitung des Grundgesetzes beteiligt waren, mag dies womöglich als Hinweis aufgefasst werden können, dass Art. 103 Abs. 3 GG nicht generell einen Strafklageverbrauch gemeint haben könnte. Der Verfassungsrechtler, Universitäts-Professor und frühere Richter am Bundesverfassungsgericht Konrad Hesse hat in seinem Lehrbuch „Grundzüge des Verfassungsrechts“, wenn auch lapidar geschrieben: „Art. 103 Abs. 3 GG enthält ein Verbot mehrmaliger Bestrafung wegen derselben Tat“ (ebd., 20. Auflage, 1995, Rn. 558). Insofern dürfte die Bemerkung, dass das verfassungsrechtliche Schrifttum und die strafrechtliche Praxis Art. 103 Abs. 3 GG gleichermaßen auf Schuld- wie Freisprüche anwenden würden (BVerfG, Urteil vom 31.10.2023, Az. 2 BvR 900/22, Rz. 67), wenigstens etwas zweifelhaft erscheinen.

Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht schon in der Begründung seines Beschlusses vom 7.12.1983, 2 BvR 282/80 = BVerfGE 65, 377 ff.B, Rz. 12, ausgeführt: „Ein rechtskräftiger Verfahrensabschluß durch Urteil führt zum Strafklageverbrauch“.

Fazit

Jedenfalls umfassen die Ablehnung einer Rechtsoperation („Abwägungsfestigkeit“) oder ihre Benennung (Abwägung oder Subsumtion) keine inhaltliche Begründung.

Zitiervorschlag: Riechelmann, Frank, Abwägungsfestigkeit ersetzt keine Begründung, JuWissBlog Nr. 73/2023 v. 21.12.2023, https://www.juwiss.de/73-2023/.

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1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Frank Riechelmann
    18. April 2024 17:45

    Als Ergänzung des obigen Beitrags lässt sich meine kurze Abhandlung „Prinzipien und Abwägung“ vom 17. April 24 verstehen,
    https://doi.org/10.25592/uhhfdm.14212 #Treu und Glauben #Vielfalt
    Der Universität Hamburg, Frau Professor van Aaken und Herrn Dr. Thiemann danke ich für Ihre Unterstützung bei der Veröffentlichung. Für den Inhalt bin ich selbstverständlich allein verantwortlich.
    Frank Riechelmann

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