Im März argumentierte ich an dieser Stelle für ein Recht Schottlands, auch im Falle einer Sezession von Großbritannien in der EU zu verbleiben. Meine Argumentation fußte darauf, dass auf die Schottland-Problematik nicht mehr die völkerrechtlichen Grundsätze der Diskontinuität der Mitgliedschaft in internationalen Organisationen anzuwenden sind, da sich die EU strukturell bereits zu weit von einer klassischen Internationalen Organisation entfernt hat. Sie hat hierbei eine wesensmäßige Staatsähnlichkeit angenommen, die staatliche Grundsätze als vorzugswürdig erscheinen lassen. In nahezu allen dezentral strukturierten Verfassungen ist anerkannt, dass eine innere Neugliederung nicht zu einem Ende der Zugehörigkeit zum Gesamtverbund führt. Dieser Verbleibegrundsatz ist meiner Ansicht nach ein allgemeiner Rechtsgrundsatz und kann als solcher unionsrechtliche Geltung beanspruchen. Einer teilweise geforderten Vertragsergänzung nach Art. 48 EUV bedarf es daher nicht, wenngleich sie zur Schaffung von Rechtssicherheit und als politisches Willkommens-Statement mit Sicherheit wünschenswert wäre und zur Regelung der Einzelfragen sogar unerlässlich erscheint.
Die Diskussion der EU-Mitgliedschaft nahm in der vergangenen Woche im Verfassungsblog an Fahrt auf. Während die auf völkerrechtlichen Grundsätzen aufbauende Argumentation gegen einen Verbleib in der EU weitgehend auf Ablehnung stößt, stützt sich das prominenteste Argument für einen Verbleib der Schotten in der EU auf deren Unionsbürgerschaft.
Das Unionsbürgerschaftsargument
Unter der Prämisse, dass die Schotten mit Erlangung der Selbstständigkeit ihre britische Staatsangehörigkeit verlören, wird argumentiert, dass ein damit einhergehender Verlust der Unionsbürgerschaft nach 20 AEUV unionsrechtswidrig wäre. Denn, wie der EuGH im Urteil Ruiz Zambrano deutlich machte, folgt die Unionsbürgerschaft nicht nur aus der mitgliedstaatlichen Staatsbürgerschaft, sondern sie wirkt auch auf diese zurück, indem sie verbietet, dass einem Unionsbürger der Kernbestand seiner Unionsbürgerschaft (mittelbar) entzogen wird. Würde Schottland nun aus der EU ausscheiden und die Schotten mit Erlangung einer schottischen Staatsbürgerschaft die britische verlieren, wäre genau dies der Fall. Im Folgeurteil Alokpa konkretisierte der EuGH jedoch den besagten Kernbestand der Unionsbürgerschaft dahingehend, dass er nur verbietet, einen Unionsbürger faktisch zu zwingen, das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen. Diesen Anforderungen ist auch dann Genüge getan, wenn den Schotten nach der Sezession das Recht eingeräumt wird die britische Staatsbürgerschaft zu behalten und in britisches Hoheitsgebiet umzusiedeln. Einen Verbleib Schottlands in der EU gebietet die Unionsbürgerschaft hingegen nicht zwingend.
Überzeugender ist dagegen das Argument Piet Eeckhouts, welches sich statt auf die schottischen Unionsbürger auf die Rechte all jener Unionsbürger stützt, die Schottland zum Ziel ihrer wirtschaftlichen und privaten Tätigkeiten erkoren haben. Da Schottland seinerseits nichts unternehmen möchte, um beispielsweise deren wirtschaftliche Grundfreiheiten zu beeinträchtigen, liegt die Wahrung dieser Rechte allein in der Hand der EU. Dieses Ziel wird ohne Reibungsverluste wohl nur durch eine zügige Aufnahme ohne Übergangszeit erreicht werden können. Wählt die EU für die Aufnahme Schottlands den Weg eines Neubeitritts nach Art. 49 EUV, ist dies mit einer Übergangszeit zwischen effektiver Unabhängigkeit und Ratifikation des Beitritts im letzten Mitgliedstaat verbunden. Während dieser Zeit bestünde der vertragswidrige Zustand, dass die Unionsbürger in Schottland ihrer Rechte beraubt wären. Dies kann nur im Wege des von Schottland vorgeschlagenen „Internal Enlargements“ z.B. nach Art. 48 EUV vermieden werden. Darüber hinaus ist das Beitrittsprozedere nach Art. 49 EUV seinem Sinn und Zweck nach nicht auf eine partielle Neugliederung innerhalb der Union ausgerichtet.
Neben der Unionsbürgerschaft wird v.a. vorgebracht, dass es der EU gut zu Gesicht stünde den demokratischen Willen der Schotten zu respektieren, da Demokratie und Rechtstaatlichkeit zu ihren fundamentalsten Werten gehören. Dies ist per se richtig, nur leider werden die Schotten in dieser Woche keinen demokratischen Willen hinsichtlich ihres Verbleibs in der EU äußern. Die Frage lautet schlicht: „Should Scotland be an independent country?“ Kalypso Nicolaidis hat Recht, wenn sie darauf hinweist, dass aus der Antwort nicht der Rückschluss gezogen werden darf, die Schotten würden mit dem Austritt aus Großbritannien auch den Austritt aus der EU erklären. Nur leider erklären sie damit genauso wenig, dass und v.a. zu welchen Konditionen sie in der EU verbleiben wollen.
Integrative Ausrichtung der EU
Plausibler sind teleologische Überlegungen: Nicht nur die Entscheidungstradition des EuGH steht seit Van Gend & Loos im Zeichen einer immer weiter fortschreitenden Integration. Die integrative Ausrichtung der EU ist auch in den Europäischen Verträgen selbst verankert. Allein die Präambel des EUV erwähnt die „historischen Bedeutung der Überwindung der Teilung des Kontinents“ und das „kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas“, welches ohne Duns Scotus, Adam Smith, David Hume, Sir Arthur Conan Doyle und John Law um einiges ärmer wäre. Sie spricht ferner von der „Solidarität zwischen den Völkern“ und von der „immer engeren Union der Völker Europas“. Wann immer also zweifelhaft ist, wie in einem nicht eindeutig geregelten Fall zu verfahren ist, muss die Entscheidung im Sinne dieses integrativen Geistes erfolgen. Eine neuerliche Teilung Europas am Hadrianswall dürfte schwerlich mit der „Überwindung der Teilung“ in Einklang zu bringen sein.
Ob nun der Weg über Art. 48 EUV gewählt wird oder ob Art. 49 EUV teleologisch um „europäische Staaten in Gründung“ erweitert wird, oder eine Aufnahme Schottlands über allgemeine Rechtsgrundsätze herbeigeführt wird, ist hierbei zweitrangig. Entscheidend ist, da keine unionsrechtliche Bestimmung zwingend gegen die schottische Mitgliedschaft spricht, dass alle exklusiven Lösungsmöglichkeiten aufgrund des inklusiven Geistes der Verträge von vornherein ausscheiden. Mag der Kommissionspräsident Barroso auch gegen einen Verbleib in der EU wettern, für den Fall, dass es nicht zu einem Konsens zwischen Schottland und der EU kommt, liegt die Entscheidung gewiss nicht bei ihm. Anders als im eingangs zitierten schottischen Kinderlied heißt es hinsichtlich des Verbleibs Schottlands in der EU also nicht: „gone, gone is all hope of staying.“
In Vielfalt geeint
Egal wie das Referendum ausgehen wird, stehen zwei Sieger bereits heute fest. Zum einen der schottische Erste Minister Alex Salmond, der es geschafft hat durch das Damokles-Schwert der Sezession auch im Falle eines Verbleibes im Vereinigten Königreich das Zugeständnis maximaler Autonomie (Devolution Max) zu erringen.
Der größte Sieger ist jedoch das Europäische Friedensprojekt. Noch nie seit Errichtung des Hadrianswalles verlief ein Unabhängigkeitskampf auf den Britischen Inseln so friedlich wie jener, der am morgigen Donnerstag seinen vorläufigen Höhepunkt erreichen wird. Hierfür ist nicht zuletzt das europäische Bewusstsein der Schotten und die (möglicherweise trügerische) Gewissheit einer fortdauernden Verbundenheit mit England durch das Band der EU verantwortlich. Die Sezession wird, so stellen sich die Schotten dies vor, weder zu einem Ende der Freizügigkeit noch zur Errichtung unüberwindbarer Schlagbäume führen. Der bislang von Sportsgeist und Fairness bestimmte Umgang beider Teile Großbritanniens miteinander auch in Scheidungsfragen ist beispielgebend für andere Regionen Europas.
Wenn Joseph Weiler vor einem Zersplittern Europas warnt, verkennt er, dass seit Churchills Rede an die Jugend, die individuelle Stellung einzelner Nationen wesentlicher Leitgedanke der Europäischen Einigung ist. Entgegen seiner Ansicht widersprechen Sezessionen nicht der Idee Europas, sondern betonen und festigen sie sogar. Der alles überwölbende Mantel der Europäischen Einigung ermöglicht eine größere Vielfalt und kulturelle und wirtschaftliche Eigenständigkeit im Innern. Schreckensszenarien vergangener Sezessionen von durch Staatsgrenzen getrennten Familien, von Enteignung und Vertreibung gehören Dank der EU der Vergangenheit an. Wenn sich ein Mitgliedstaat heute abspaltet, bleibt er ein Teil des Ganzen und trägt zur inneren Vielfalt und zum friedlichen Wettbewerb der Staaten bei, der wichtigsten Triebfeder des Europäischen Erfolges. Sollte Schottland sich am Donnerstag trauen eigener Wege zu gehen, dann nur weil die Europäische Völkerfamilie das Land weiterhin als eines ihrer Kinder akzeptiert.