von JENDRIK WÜSTENBERG

Die sogenannten „Klimakleber“ der Letzten Generation halten die Gesellschaft mit ihren Blockaden weiter in Atem. In der Debatte über die strafrechtliche Bedeutung neigt die mediale Berichterstattung wie auch die öffentlichkeitswirksame Debatte zu einer Relativierung und Aushöhlung des Notwehrrechts. Eine Relativierung des „schneidigen“ Notwehrrechts im Rahmen von Klimablockaden ist jedoch nicht hinnehmbar, will man nicht § 32 StGB selbst antasten.

Das viral gegangene Video eines Mannes, der einen Demonstranten der Letzten Generation bei einer Sitzblockade von der Straße zerrte und diesem anschließend in den Bauch trat, befeuerte erneut die Debatte über die Reichweite des Notwehrrechts in den sozialen Medien und führte einmal mehr zu rechtswissenschaftlichen Betrachtungen etwa von Ronen Steinke in der Süddeutschen Zeitung. Der Duktus ist dabei wie folgt gesetzt: Aus Sicht der Staatsanwaltschaften bestünde „kein Zweifel, dass ein solches Verhalten von Autofahrern in der Regel illegal“ sei. „Zeitweise“ hätten Wissenschaftler „unter großem medialem [sic!] Echo das Gegenteil“ argumentiert. Mit Verweis auf eine Stellungnahme der Berliner Staatsanwaltschaft wird suggeriert, dass Bürger das Recht nicht in die eigene Hand nehmen dürften, „wenn mit einem zeitnahen Eintreffen der Polizei zu rechnen ist“; ein „Ablösen der festgeklebten Blockierer ohne Verletzungen wird in aller Regel nur der Polizei möglich sein“.

Der (wohl strafbare) Tritt des Kraftfahrers soll hier außer Betracht bleiben, aber bei den Bürgern verfestigt sich durch solche pauschalen Äußerungen von Behörden und medial rezipierten Auffassungen von Juristen der Eindruck, dass das Notwehrrecht unter einem Vorbehalt der Verfügbarkeit „zeitnaher“ polizeilicher Hilfeleistung oder der Verhältnismäßigkeit der Abwehrmittel stünde. Nicht unerwähnt bleiben sollten in diesem Kontext die gleichzeitigen juristischen Versuche, den Tatbestand der Nötigung erfüllende Verhalten der Blockierer im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung oder eines Notstandes zu rechtfertigen oder mit philosophischen Bezügen auf Habermas gar die Täter zu den eigentlichen Helden zu erklären, weil sie sie sich der Strafe stellten und nicht darauf spekulierten, „unerkannt mit illegalen Vorteilen davonzukommen“ (als ob Heimlichkeit eine Rolle spielte und kriminelle Energie erst begründete!).

Dies wirft die die Frage auf, ob hier nicht einer Relativierung des Notwehrrechts das Wort geredet wird und dem Bürger eine vermeintliche Unsicherheit der Rechtslage suggeriert wird, welche diesen letztlich zum Verzicht auf eine Verteidigung bewegt. Das wäre ein besorgniserregender, mit dem Zweck des § 32 StGB nicht in Einklang zu bringender Zustand.

Das Notwehrrecht in Deutschland ist „schneidig“. Es folgt dem Prinzip, dass das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht. Auf die Verhältnismäßigkeit des gewählten Notwehrmittels kommt es daher nicht an. Eine Einschränkung des Notwehrrechts, wenn polizeiliche Hilfe „zeitnah“ verfügbar ist, ist kritisch zu sehen. Unzweifelhaft ist das Notwehrrecht in seiner Ausgestaltung eine auffällige Durchbrechung des staatlichen Gewaltmonopols (Fischer, StGB, § 32 Rn. 35). Dieses strukturelle Argument darf aber nicht dazu verleiten, die gesetzgeberische Wertung des § 32 StGB zu relativieren. Denn was soll der Bürger unter „zeitnah“ verstehen? Minuten? Eine Viertelstunde? Eine halbe Stunde? Dies ergibt sich weder aus den Ausführungen der Staatsanwaltschaft noch aus dem Gesetz selbst; auch eine zeitweise Duldungspflicht gegenüber dem Unrecht ist mit dem Grundprinzip der Notwehr unvereinbar (so schon RGSt 32, 391 (392f.); Erb, in: MK StGB, § 32 Rn. 141; Rönnau/Hohn, in: LK StGB, § 32 Rn. 184). Denn wenn Hilfe nicht präsent ist und erst herbeigeholt werden muss, dürfte der Angreifer zunächst die Oberhand behalten (Erb, a.a.O.; Rönnau/Hohn, a.a.O.). Um der Rechtssicherheit einerseits und der gesetzgeberischen Wertung andererseits zu genügen, ist die Wortwahl „zeitnah“ völlig unhilfreich, einmal abgesehen davon, dass die fachgerechte Ablösung vom Straßenbelag bisweilen Stunden dauert und sich der Angriff somit trotz polizeilicher Hilfeleistung verfestigt und fortwirkt. Hierbei ist auch zu beachten, dass bei Verwendung von Klebemitteln wie Sekundenkleber oder schnellbindendem Beton selbst eine kurze Verzögerung der polizeilichen Hilfe dazu führt, dass die staatliche Gefahrenabwehr nicht dieselbe Wirkung entfaltet wie die private, sodass der Verweis auf die Subsidiarität hier auch deswegen fehlgeht (Erb, in: MK StGB, § 32 Rn. 145ff.; Rönnau/Hohn, in: LK StGB, § 32 Rn. 185f.).

Die Aussage, dass ein verletzungsfreies Ablösen der Personen nur durch die Polizei möglich sei, sorgt ebenfalls für Irritation. Es kommt eben im Rahmen des Notwehrrechts gar nicht darauf an, ob die Demonstranten ohne Verletzungen abgelöst werden können, da sich eine Abwägung mit dieser Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit gerade verbietet und eine krass unverhältnismäßige Abwehr nicht vorliegt. Um es plakativ mit Thomas Fischer auszudrücken: „Wer mit Gewalt unbeteiligte Dritte stundenlang daran hindern möchte sich fortzubewegen, muss den Verlust einer mehrere Quadratzentimeter großen Hautschicht hinnehmen, wenn dies zur Gegenwehr (Befreiung) erforderlich ist.“

Auch der Einwand, dass aufseiten der Autofahrer lediglich die Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigt sei, auf der anderen Seite jedoch die körperliche Unversehrtheit und die Versammlungsfreiheit, irritiert. Denn dies suggeriert eine Abwägung, die § 32 StGB gerade ausschließt. Die hier wohl in Betracht gezogene Fallgruppe des krassen (!) Missverhältnisses (Fischer, StGB, § 32 Rn. 39) im Rahmen der Gebotenheitsprüfung ist ersichtlich nicht gegeben; denn die in den Ausführungen Steinkes geradezu relativierte Fortbewegungsfreiheit nach Art. 2 II 2 GG ist nach eindeutiger Wertung des Verfassungsgebers sogar „unverletzlich“.

Der sich in den o.g. Ausführungen widerspiegelnde Geist suggeriert also die Unsicherheit einer Rechtslage, wo eigentlich keine Unsicherheit besteht. Will der Staat ein scharfes staatliches Gewaltmonopol, so müsste er eine Verhältnismäßigkeitsprüfung in § 32 StGB aufnehmen. Solange es aber bei der aktuellen Rechtslage verbleibt, ist es höchst irritierend, wenn Juristen den Bürger verunsichern und gleichsam von einer Wahrnehmung eines ihm zustehenden, gewichtigen Abwehrrechts abhalten mögen. Es untergräbt im Übrigen auch das Vertrauen der Opfer in den Staat, wenn ihnen bereits vorab eine völlig undifferenzierte Strafverfolgung ihrer Verteidigungshandlungen in Aussicht gestellt wird.

Zuletzt lässt dies die Frage aufkommen, ob hier bisweilen nicht andere Wertungen eine Rolle spielen als juristische. Der Umstand, dass sich der Protest „friedlich“ und „gewaltlos“ (übrigens entgegen der gängigen Auslegung des Gewaltbegriffs im Rahmen des § 240 StGB! (Fischer, StGB, § 240 Rn. 14f.)) für ein „gutes“ Ziel einsetzt, ändert schließlich nichts an der objektiv zu beurteilenden Strafbarkeit dieses Verhaltens und der Notwehrlage für die Blockierten. Man möge in diesem Kontext doch einmal hinterfragen, ob das für nicht abwehrfähig gehaltene Verhalten der „Klimakleber“ bei nur leicht veränderten Umständen ebensolches Verständnis und Schutzbemühen hervorriefe: Etwa, wenn Rechtsextreme Zugänge zu Flüchtlingsunterkünften blockierten.

Das Notwehrrecht muss „schneidig“ bleiben, wenn es seine Wirksamkeit behalten soll. Jeglichen Relativierungen durch „zeitnahe“ obrigkeitliche Hilfe oder im Wege von Rechtsgutabwägungen durch die Hintertür sollte daher eine klare Absage erteilt werden. Hier gilt die bisweilen undifferenziert verwendete Forderung nach „Opferschutz vor Täterschutz“ uneingeschränkt.

 

Zitiervorschlag: Wüstenberg, Jendrik, Wider die Relativierung des scharfen Notwehrrechts, JuWissBlog Nr. 13/2023 v. 11.04.2023, https://www.juwiss.de/13-2023/.

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Gewaltmonopol, Klimakrise, Nötigung, Notstand, Notwehr, ziviler Ungehorsam
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15 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Jendrik Wüstenberg
    11. April 2023 16:01

    Da es auf Twitter bereits angemerkt worden ist: Die Heranziehung von Art. 8 Abs. 1 GG „in mittelbarer Drittwirkung“ (auf welche Norm und – vor allem – welches konkrete Tatbestandsmerkmal soll Art. 8 Abs. 1 GG hier ausstrahlen? Und wenn man so eines überhaupt finden würde, warum strahlt dann nur Art. 8 Abs. 1 GG auf dieses TBM aus, nicht aber das Recht auf Fortbewegungsfreiheit der Demonstranten?) oder „verfassungsrechtlicher Bezüge“ (welche das sein sollen, bleibt unklar…?), um das Verhalten der Demonstranten zu rechtfertigen bzw. zu schützen, halte ich für nicht wirklich vertretbar. Es geht wohl im Ergebnis darum, eine Rechtfertigung der Nötigung zu begründen bzw. die Gebotenheit der Notwehrhandlung zu verneinen. Am Ende hätte das jedoch zur Folge, dass doch wieder eine Abwägung auf Umwegen stattfindet, die aber § 32 StGB eben ausschließt. Das ist also eine bloße Umgehung, die noch dazu keinen Halt findet – weder im Grundgesetz noch im Strafrecht. Nicht vergessen sollte man hier, dass der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ohnehin Privatpersonen untereinander nicht bindet. Das Gesetz müsste also eine Abwägung schon irgendwo anordnen, damit Private daran gebunden wären, tut aber hier schlicht genau das Gegenteil.

    Mit einer solchen Ansicht würde folglich das klare Gebot des § 32 StGB, keine (!) Abwägung vorzunehmen, gänzlich entwertet werden.

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  • An dem Artikel ist vieles problematisch, aber geradezu unhaltbar sind die grundrechtlichen Einordnungen.

    Eine – relativ banale – Autofahrt auf einer bestimmten Strecke unter dem Grundrecht der Freiheit der Person aus Art. 2 II 2 GG zu fassen, funktioniert wahrscheinlich nur in Deutschland. Das Grundrecht schützt vor Verhaftungen, Festnahmen usw. Nicht davor, im eigenen SUV ungestört 4 km zur Arbeit zu fahren. Selbst wenn es einschlägig wäre, vergessen Sie den Satz dahinter, welcher klar die Einschränkbarkeit regelt.

    „Irritierend“ ist, dass Sie meinen, § 32 StGB stehe außerhalb der grundrechtlichen Ordnung. Wenn gegenüber Protestierenden Gewalt angewandt wird, verletzt das ihre körperliche Unversehrtheit (Hi, Menschenwürde).

    Wenn etwas scharf gestellt ist, dann sind es die Grundrechte derjenigen, die sich an den Straßen festkleben. Übrigens für ein – wie sie verniedlichend schreiben – „gutes“ Ziel. Ein Ziel, dessen Scheitern die gesamte grundgesetzliche Ordnung ins Rutschen bringen könnte (1 BvR 2656/18, fyi).

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    • Jendrik Wüstenberg
      12. April 2023 14:02

      Dass die Fortbewegungsfreiheit durch Sitzblockaden beeinträchtigt wird, ist mit überzeugenden Gründen ganz h.M. (BVerfGE 73, 206; 104, 92; Amelung, in: NJW 1995, 2584; Preuß, in: NZV 2023, 60). Den Anwendungsbereich des Art. 2 II 2 GG lediglich auf Schutz vor „Verhaftungen, Festnahmen usw.“ zu reduzieren, ergibt sich nicht aus dessen Wortsinn; die Norm ist eindeutig nicht darauf beschränkt, sondern erfasst die Freiheit des Individuums als Ganzes (vgl. Lang, in: BeckOK GG Art. 2 Rn. 290 m.w.N.). Der Verweis auf die Einschränkbarkeit ist auch vollkommen fehl am Platze, denn der Gesetzgeber und die Rechtsprechung haben das Verhältnis von Sitzblockaden und Art. 8 GG auf der einen zu der Fortbewegungsfreiheit auf der anderen Seite eben zugunsten letzterer aufgelöst, indem Sitzblockaden im Sinne der 2.-Reihe-Rechtsprechung den Tatbestand der Nötigung erfüllen. Das kann man rechtspolitisch ablehnen, es ist aber kein tragfähiges Argument gegen die jetzige Rechtslage.

      Auch findet sich nirgendwo die Behauptung, § 32 StGB stehe außerhalb der grundgesetzlichen Ordnung. Was bei Ihren Ausführungen dogmatisch fehlgeht ist die Annahme, dass für Private untereinander dieselben Voraussetzungen gelten würden wie zwischen Bürger und dem Staat. Aber weder die Grundrechte noch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit lassen sich schablonenhaft über das Verhältnis Bürger zu Bürger legen. Ein Kaufvertrag muss nicht verhältnismäßig sein. Genauso wenig muss die Ausübung des Notwehrrechts von Verfassungs wegen verhältnismäßig sein. Der Staat ist an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden, weil er sich das Gewaltmonopol gesichert hat und er die Bürger schlicht überwältigen könnte. Das durch „Waffengleichheit“ geprägte Verhältnis zwischen den Bürgern untereinander ist damit nicht vergleichbar. Insofern geht es komplett fehl, hier eine detaillierte Abwägung zwischen der Position eines Angreifers und der des Opfers vornehmen zu wollen. Schwerste Verletzungen werden durch die Fallgruppen mangelnder Gebotenheit bereits verfassungskonform verhindert; weitere Einschränkungen der Gebotenheit sind nur rechtspolitisches Wunschdenken, nicht aber verfassungsrechtliches Gebot. Der Menschenwürdebezug bedarf glaube ich keiner weiteren Erläuterung, weil jede Annahme einer Berührung hier völlig abwegig wäre.

      Zuletzt: Warum sollen denn die Grundrechte der Festklebenden „scharfgestellt“ sein? Ist Art. 8 I GG eine Art Über-Grundrecht, dass andere verdrängt? Nein. Hinsichtlich des BVerfG-Urteils ist festzustellen, dass die Forderungen des BVerfG im neuen Klimaschutzgesetz umgesetzt wurden und das Gesetz auch zuvor schon weitestgehend für verfassungskonform befunden wurde. Sich einfach eine Erwägung zur Beurteilung eines Klimaschutzgesetzes herauszugreifen und schablonenhaft mal eben auf die gesamte Rechtsordnung anzuwenden, ist ein ziemlich grober Klotz.

      Insgesamt entsteht bei mir der Eindruck, dass Sie sich ein paar juristische Versatzstücke so zusammensetzen, wie es Ihrem gewünschten Ergebnis nutzt, aber dabei den Gesamtzusammenhang ausblenden. Ich nehme mich natürlich nicht davon aus, dass ich das Verhalten der „Klimakleber“ auch politisch nicht billige. Aber ich habe anhand der gängigen Literatur und Rechtsprechung hier am Ende nur subsumiert. Bei Ihnen lese ich hingegen nur Schlagwörter, die ohne Zusammenhang in den Raum geworfen werden. Das ist leider keine ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung.

      Antworten
      • Es geht eben nicht primär um die Fortbewegungsfreiheit, gut dargelegt in der Replik von Felix Würkert.

        Wann habe ich etwas von Abwägung geschrieben? Natürlich ging es mir um die Gebotenheit. Dass Sie hier „das Abreißen kleinerer Teile der Haut“ (oder auch Tritte in den Bauch? (die „wohl [!] strafbar“ seien?)) im Rahmen eines Auto-Grundrechtes für vertretbar halten, weil die andere Seite schließlich auch „Gewalt“ anwende, ist keinesfalls eine unschuldige Subsumtion, sondern gefährliches Öl im Feuer einer ohnehin schon eskalierten Debatte.

        Antworten
        • Jendrik Wüstenberg
          12. April 2023 17:26

          Steht der Betroffene also „rechtlos“ dar? Zumal man sich vor Augen führen muss, dass Art. 8 GG Beeinträchtigungen von Dritten gerade nur bei sozial-adäquaten Nebenfolgen rechtfertigt. Andere zu blockieren, um die Aufmerksamkeit des eigenen Anliegens zu erhöhen, ist gerade nicht durch Art. 8 GG gerechtfertigt.

          Gut, aber selbst wenn wir auf die Gebotenheit blicken, welche Fallgruppe der Einschränkung der Gebotenheit würden Sie hier verneinen? Es kann ja allenfalls um die des krassen Missverhältnisses gehen. Das sehe ich hier (mit dem zitierten Fischer) gerade als nicht gegeben an.

          Antworten
          • Zur Frage der „Rechtlosigkeit“ hat Felix richtig ausgeführt, dass die allgemeine Handlungsfreiheit einschlägig sein dürfte. Schockierend, aber stärker ist die Autofahrt zur Arbeit nicht geschützt.

            Demonstrationen, die stören, sind nicht von der Versammlungsfreiheit gedeckt? Genau das ist der Sinn von Demonstrationen/Blockaden. Da Sie auf korrekte Quellen wert legen: https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv104092.html#Rn045

            Zur Gebotenheit: Da sind wir schlicht unterschiedlicher Meinung. Ich halte es für ein krasses Missverhältnis, wenn Menschen Haut abgerissen wird, damit Personen zur Arbeit fahren können.

            Antworten
            • Jendrk Wüstenberg
              13. April 2023 17:15

              Man kann natürlich Art. 2 II 2 GG mit dieser Begründung ablehnen, ich habe keine Einwände gegen die Vertretbarkeit dieser Ansicht. Da widerspreche ich nicht.
              Auf der anderen Seite erscheint mir aber auch der Verweis auf „nur“ allgemeine Handlungsfreiheit fragwürdig. Man kann natürlich etwas spöttisch feststellen, dass der Autofahrer einfach aussteigen und zu Fuß gehen könnte, aber wirklich lebensnah ist diese Vorstellung nicht, bei der der Autofahrer sein Auto im Stau verkehrsordnungswidrig zurücklassen müsste. Die behauptete Freiheit ist faktisch und rechtlich keine, weil mit ihrer Ausübung nicht unerhebliche Sanktionen für den Betroffenen einhergehen. Damit verweist man den Betroffenen in eine für ihn ausweglose Situation: Entweder er wehrt sich und setzt sich mal eben einer Strafverfolgung aus, oder er verlässt sein Fahrzeug und bekommt ein Ordnungswidrigkeitenverfahren plus Verwaltungskosten für die Beseitigung des Fahrzeugs an den Hals. Der Betroffene soll also als einzige nicht sanktionierte Handlungsalternative gefälligst im Auto sitzen bleiben, bis die Störung durch die Polizei beseitigt ist. Das finde ich nicht sonderlich lebensnah und zumutbar, zumal für eine Freiheitsbeschränkung i.S.d. Art. 2 II 2 GG auch psychische Zwangswirkungen anerkannt sind. Ob diese hier vorliegen, muss man entscheiden, ich würde dies aber bejahen.

              Zur zitierten BVerfG-Entscheidung mein Gedanke: Der Umstand, dass Versammlungen als Nebenfolge stören dürfen, heißt nicht, dass eine dem Hauptzweck nach störende Versammlung als Rechtfertigungsgrund taugt. Das BVerfG betont in allen Entscheidungen auch die deutlichen Grenzen von störenden Versammlungen: Entweder sagt es in der älteren Rechtsprechung, dass die Störung nicht Hauptzweck sein darf, oder es zieht in der neueren Rechtsprechung Maßstäbe wie die Intensität, den Bezug zum verfolgten Anliegen, eine vorherige Ankündigung etc. heran. Im Kern ist die Zielrichtung damit klar, nur die Begründung wird ein wenig angepasst: Das Versammlungsrecht als Rechtfertigungsgrund entfällt dann, wenn eine durch die Versammlung verursachte Störung nicht mehr sozial-adäquat ist.

              Und selbst diese sehr versammlungsfreundliche verfassungsrichterliche Auffassung wird man wohl mit guten Gründen hinterfragen dürfen, denn wenn man für Art. 2 II 2 GG den historischen Hintergrund heranziehen möchte und dessen Anwendung auf staatliche Festnahmen und Vergleichbares beschränkt wissen will, so ließe sich hinsichtlich der Versammlungsfreiheit ebenso anmerken, dass es wohl kaum die Vorstellung der Schöpfer von Art. 8 GG gewesen war, Sitzblockaden mit Ankleben zu schützen, bei denen Autofahrer stundenlang genötigt werden. Vielmehr ging es vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Unrechtsstaates darum, Oppositionsrechte gegenüber dem Staat (!) zu schützen und die freie öffentliche Meinungsbildung sicherzustellen.

              Antworten
  • […] Jendrik Wüstenberg sorgt sich in seinem Beitrag über die „Relativierung des scharfen Notwehrrechts“. Er meint, es sei vom Notwehrrecht gedeckt, wenn Autofahrer*innen Demonstrierende, die sich an der Fahrbahn befestigen, mit Gewalt zur Seite schaffen. Das scheint nun so eindeutig dann doch nicht zu sein, aber es wäre schade, wenn wir dabei das neue Autofahrgrundrecht übersehen. Vor allem darum soll es hier gehen. […]

    Antworten
  • § 32 Abs. 1 StGB normiert, dass die Notwehr „geboten“ sein muss, was als offenes TBMM auslegungsbedürftig ist. Dort muss entsprechend der Strahlwirkung der Grundrechte (Lüth Rspr usw) dann auch Abwägungsspielraum sein (s. ja auch andere Restriktionen der Notwehr in der geltenden Rspr. bei Kindern, Irrenden, etc. an eben diesem TBMM). Inwiefern man den dann dogmatisch zu Gunsten der einen oder anderen Seite füllt, ist dann ja überhaupt erst die Frage, sofern man bereit ist die anderen TB Vss der Notwehr zu bejahen.

    Antworten
    • Jendrik Wüstenberg
      12. April 2023 20:12

      Ja, aber man kann wohl schlecht erwarten, dass ich eine solche völlig neue Fallgruppe entwickeln soll? Zumal ich keinen Anlass sehe, jetzt plötzlich für irgendwelche Grundrechte neue Fallgruppen zu entwickeln, für die auch kein wirklicher Anlass besteht. Wenn man Art. 8 GG heranzieht, was wäre mit den anderen Grundrechten? Am Ende wäre die Gebotenheit doch gänzlich entstellt dahingehend, dass man doch eine Abwägung vornimmt, Art. 8 GG steht schließlich nicht über anderen Grundrechten. Wenn Sie da was entwickeln wollen, gerne, sicherlich interessanter Beitrag. Aber ich finde die Erwartungshaltung etwas fragwürdig, weil sie trotz Jahrzehnten Rechtsprechung zu Blockaden bislang niemand anerkannt hat.

      Antworten
  • Christopher
    13. April 2023 13:31

    Könnte man politische Vorverständnisse der Autorinnen und Autoren, die jedenfalls im Falle des Autors Wüstenberg durch Einbindungen mittels Ehrenämter in Vorfeldorganisationen der CDU bzw. direkt in die CDU vorliegen, mit *-Fußnoten kenntlich machen. Dass ein Beschäftigter eines Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft zum Notwehrrecht schreibt und offenbar nur Literatur auffinden konnte, die die eigene Meinung unterlegt, wäre mir eine erläuternde Fußnote wert. Der vom Autor gewählte Duktus der Parteitagsrhetorik offenbart das politische Vorverständnis leider noch nicht vollkommen.

    Antworten
    • JuWiss Redaktion
      13. April 2023 15:25

      Danke für den Kommentar. Eine Pflicht zur Offenlegung von parteipolitischen Präferenzen geht aus unserer Sicht zu weit. Wir fordern aber die Offenlegung von bezahlter/institutioneller Vorbefassung. Ein Blog-Beitrag zeichnet sich für uns auch dadurch aus, dass er eine persönliche Meinung wiedergibt, thesenstark und streitbar ist, s. hier: https://www.juwiss.de/auf-dem-juwiss-blog-veroffentlichen/. Politisch neutral muss ein Beitrag bei uns nicht sein. Das wäre auch Augenwischerei, denn Jura ist nicht unpolitisch und ein juristischer Blog-Beitrag, den wir als ein gegenüber der wissenschaftlichen Publikation eigenständiges Format ansehen, auch nicht.

      Antworten
    • Jendrk Wüstenberg
      13. April 2023 16:33

      Ich gebe gerne zu, dass ich natürlich aus politischen Gründen das Verhalten der Aktivisten nicht gutheiße, sage aber auch, dass für meinen Beitrag rechtliche Überzeugungen maßgeblich waren, und ich erinnere gerne daran, dass ich diesen auch einer nicht-parteiangehörigen Kollegin aus dem Strafrecht mit der Bitte um Prüfung vorgelegt habe, die diesen inhaltlich gebilligt hat. Man sollte zudem bedenken, dass Parteizugehörigkeit an sich keine Aussagekraft hat – genauso wie ein Artikel einer Person mit Parteibuch allein nach juristischen Maßstäben gestaltet sein kann, kann ein Beitrag einer Person ohne Parteibuch klar politisch gefärbt sein, zumal zahllose Initiativen, Vereine und Stiftungen ebenfalls politische Ziele verfolgen, ohne als Partei anerkannt zu sein. Denn warum ein Beitrag eines Parteimitgliedes gekennzeichnet werden sollte, ein Beitrag eines Mitglieds von z.B. „Green Legal Impact Germany e.V.“ nicht, weil es sich um keine Partei handelt, wäre schwerlich nachvollziehbar.

      Antworten
      • Christopher
        14. April 2023 09:46

        Bemerkenswert, wie meine Einwendung durch Redaktion und Autor ins Absurde verkehrt wurde. Denn die Offenlegung einer einfachen Parteimitgliedschaft oder gar der politischen Präferenz hatte ich nie fordern wollen. Die Betonung lag auf dem Nebensatz mit Ehrenämtern in herausgehobenen Vorfeldorganisationen. Dann fällt es den Lesenden ggf. leichter, den Beitrag nicht als letzte Form des Wahrheitsbeweises anzusehen. Belehrungen darüber, dass Jura nicht „unpolitisch“ sei, bedurfte es daher gar nicht. Die Erkenntnis ist augenfällig; ich stellte sie nicht in Abrede. Hier kam doch nur Einiges zusammen. Kern der Kritik war dann auch der fehlende wissenschaftlichen Anspruch, zu dem ich bisher keine schlagkräftige Entgegnung gehört habe. Das Aufspüren und Kennzeichnen von abweichenden Auffassungen gehört doch zu unserer Arbeitsweise, der „Fischer“ ist nicht gleichbedeutend mit der gesamten Strafrechtswissenschaft, die Prüfung der Gebotenheit läuft nicht nur in „Fallgruppen“ ab und Schlagwörter („schneidig“) ersetzen kein Argument. Und der Bestandteil Wiss in JuWiss steht doch für Wissenschaft, oder nicht?

        Antworten
  • […] Wüstenberg verlangt ein schneidiges Notwehrrecht und weniger Verwirrung für Autofahrer, die „Klimakleber“ von der Straße räumen und dabei nicht von Juristen gestört werden möchte. Unabhängig von der schon für sich komplexen Fragen, ob überhaupt eine rechtswidrige Nötigung bei Sitzblockaden vorliegt, soll der Frage der Notwehr gegen solche Sitzblockaden nachgegangen werden. […]

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