Autofahrer gegen Sitzblockaden – Wie viel Notwehr darf es sein?

von LARS NIELSEN

Wüstenberg verlangt ein schneidiges Notwehrrecht und weniger Verwirrung für Autofahrer, die „Klimakleber“ von der Straße räumen und dabei nicht von Juristen gestört werden möchte. Unabhängig von der schon für sich komplexen Fragen, ob überhaupt eine rechtswidrige Nötigung bei Sitzblockaden vorliegt, soll der Frage der Notwehr gegen solche Sitzblockaden nachgegangen werden.

Wofür und wogegen?

Wer einen Demonstranten von der Straße reißt und diesen dabei verletzt, erfüllt den Tatbestand einer Körperverletzung aus § 223 I StGB. Vielfach wird auf die Notwehr hingewiesen: Eine Tat, die durch gebotene Notwehr gerechtfertigt ist, ist nicht rechtswidrig, § 32 I StGB. Aber was ist eine gebotene Notwehr und was verteidigt man? Notwehr selbst ist nach § 32 II die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.

Unproblematisch wird der Autofahrer gegenwärtig in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit beeinträchtigt, er kann schließlich durch die erste Reihe nicht weiterfahren. Wüstenberg stellt zudem auf die Fortbewegungsfreiheit ab, was Würkert im Blog kritisiert. Letztlich bewegt sich Wüstenberg damit zwar in guter Gesellschaft, denn das BVerfG stellt ebenfalls ohne nähere Begründung auf die Fortbewegungsfreiheit ab (etwa BVerfG NJW 2011, 3020 Rn. 39). Dagegen sprechen jedoch die von Würkert aufgezeigten systematischen (vgl. 104 GG) und teleologischen Argumente, die einen körperbezogenen Freiheitsbegriff nahelegen. Letztlich greift jedenfalls die Willens(betätigungs)freiheit.

Ob der mit der Nötigung verwirklichte Angriff aber rechtswidrig ist, hängt von der Verwerflichkeit nach § 240 II StGB ab, die in einem anderen Beitrag untersucht wird. Kurzgesagt: Es kommt auf die Dauer, Intensität und sonstige Umstände des konkreten Einzelfalls an. Die bloße Existenz der Blockade, begründet keine rechtswidrige Nötigung (BVerfG NJW 2011, 3020). Unterstellen wir diese wie Wüstenberg, liegen allgemeine Handlungsfreiheit und ggf. die Fortbewegungsfreiheit als beeinträchtigte Rechtsgüter vor.

Wie viel darf es sein?

Zur Notwehr gehört nur eine Verteidigung, die auch erforderlich ist. Sobald aber ein Mittel unter den Möglichen Mitteln das bestgeeignete ist, ist es auch dann erforderlich, wenn es den Angreifer schwerer trifft als ein anderes. Der Notwehrübende muss sich grundsätzlich nicht auf Kosten seiner eigenen Verteidigungschancen gnädig gegenüber dem Angreifer verhalten. Eine Interessensabwägung wie bei § 34 findet nicht statt. Ist keine Polizei vor Ort, kann man nun annehmen, die eigenmächtige Räumung mit den vorhandenen Mitteln, sei auch erforderlich.

Gebotenheit und Schaudergeschichten

Damit hätten wir ein außerordentlich schneidiges Notwehrrecht. Sitzt ein gelähmter Greis fernab vom Telefon und ein Kind stiehlt dessen Äpfel vom Baum, so müsste das neben ihm stehende Jagdgewehr als Notwehrwerkzeug herhalten. Das kann nicht sein. Betrachtet man den Wortlaut von § 32 I StGB, so findet sich die Voraussetzung der Gebotenheit. Die Tat muss durch Notwehr geboten sein. Die Notwehr enthält bereits die Erforderlichkeit. Auch verlangt § 32 I anders als andere Rechtfertigungsgründe weder ein „Überwiegen“ (§ 34) des Erhaltungsguts noch ist ein quantitativer Maßstab (etwa „wesentlich“, § 34) ersichtlich. Überwiegend wird die Gebotenheit nicht als umfassende Abwägung verstanden, sondern anhand von Fallgruppen diskutiert. So gehört unser Apfelbeispiel in die Gruppe des krassen Missverhältnisses. Fallgruppen gibt wie so oft auch hier, weil man sich wohl nicht gänzlich einig wird, was Gebotenheit eigentlich meint.

Rätselhafte Gebote und die Gesellschaftsordnung

Orientiert man sich am Wortlaut, muss sich Notwehr innerhalb der Gebote bewegen. Da es aber gerade um das ausnahmsweise nicht gegen das Recht verstoßende Erfüllen eines Tatbestandes geht, finden wir diese nicht normiert im einfachen Recht. Kindhäuser bezieht die Gebotenheit abgrenzend zur Erforderlichkeit auf die „normative Angemessenheit der Reaktion auf den Angriff“ (NK/Kindhäuser § 32 Rn. 98 f.). Der Begriff formuliert das Problem aber nur um. Betrachtet man den normativen Umfang der Notwehr nicht zirkulär als „schneidig“, weil die Notwehr eben „schneidig“ sei, so kann er nur mittels Sinn und Zweck der Notwehr innerhalb der Gesamtordnung und deren Grundwerten bestimmt werden. § 32 stellt sich funktional nicht als gegen Übeltäter erlaubtes Faustrecht dar. Stattdessen ist § 32 wie Kindhäuser zutreffend formuliert „subsidiäre Rechtsausübung” und nicht Abenteuerspielplatz für all diejenigen, die lieber selbst zugreifen. Nur der Staat ist legitimiert und verfügt über ein Gewaltmonopol, das durch Bindung an Recht und Gesetz eingehegt ist. Kann die Staatsgewalt nicht eingreifen, soll § 32 subsidiär den Bürger zur Selbstwehr berechtigten. Nach der Entstehungsgeschichte sollt es nicht bei einer bloßen faktischen Erforderlichkeitsprüfung bleiben. Vielmehr sollten sozial-ethischen Schranken greifen (BT-Drs. V/4095, S. 14). Das Notwehrrecht ist dann ausgeschlossen, wenn der Angriff so geringfügig ist, dass „die Hinnahme zugemutet werden kann”. Da Zumutbarkeit erneut ein wertender Begriff ist, wird man nicht gänzlich um eine Abwägung umhinkommen. Auch wenn dem Verteidigenden keine umfassende Abwägung zugemutet werden soll, die seine Verteidigung oft vereiteln würde (ebd), muss zumindest ein völliges Auseinanderdriften der Interessen vermieden werden. Damit ist aber unklar, was „sozial-ethisch“ berücksichtigt werden soll und wie groß die Differenz sein darf. Es zeigt sich wie bei der Verwerflichkeit die Unschärfe unbestimmter Rechtsbegriffe. Wendet man stets nur bestehende Fallgruppen auf vergleichsweise neue Fälle an, herrscht Stillstand und man nähert sich nicht einer abstrakten Definition der Gebotenheit. Vergleicht man etwa nur die unmittelbaren Güter der körperlichen Unversehrtheit und der Willensfreiheit, so ließe sich annehmen, eine Wunde an der Hand sei nur ein mäßig intensiver Eingriff, den ein „Angreifer“ mangels völliger Disproportionalität hinzunehmen habe. Andererseits lässt sich der Begriff der Gebotenheit mit Blick auf die Subsidiarität der Notwehr und die besondere Rolle der Versammlungsfreiheit in der objektiven Werteordnung des Grundgesetzes ausfüllen: So ist es durchaus denkbar, Versammlungen zumindest bis zur zeitlich naheliegenden(!) polizeilichen Auflösung zu schützen, um nicht faktisch das staatliche Gewaltmonopol auszuhebeln und durch vermeintliche Notwehr wechselseitig beflügelten Straßenkämpfen Vorschub zu leisten (ähnl. etwa Eser S. 44). Dafür spricht zudem dass das kurzzeitige Warten auf die Polizei vor dem Hintergrund der Funktion der Versammlungsfreiheit wohl kaum als „schändliche Flucht“ oder „Aufgabe eigener Interessen“ angesehen werden kann. Das bloße Verstreichen von Minuten ist an und für sich auch keine Schadensvertiefung, da Zeit bei jedem Warten denklogisch vergeht. Zudem kommt es anders als bei einer gegenwärtigen Konfrontation mit einem Steinewerfer nicht zu einer besonderen Vertiefung der Beeinträchtigung.

Ganz schön kompliziert. Man muss jedenfalls zugeben, dass eine solche Wertungsfrage im Strafrecht den Vorwurf der Unbestimmtheit nach Art. 103 II GG nahelegt. Andererseits sind nicht alle Voraussetzungen der Strafbarkeit einfach subsumierbar. Die Krux ist doch gerade, dass die Notwehrlage von der Verwerflichkeit der Nötigung abhängig ist. Diese hängt wiederum von einem negativen Abwägungsergebnis nach verfassungsrechtlichen Maßstäben ab. Gleichwohl wird nicht etwa zugunsten der Demonstranten argumentiert, es bestünde mangels Bestimmtheit der Verwerflichkeitsklausel schon keine rechtswidrige Nötigung und damit auch kein Notwehrrecht.

Deutsche Autofahrer und die Gewalt

Das AG Bensberg (NJW 1966, 733) hatte den wohl deutschesten Notwehrfall zum Gegenstand: Ein Autofahrer rammt einen ihn mit seinem Körper blockierenden Werkunternehmer, der glaubt ein Werkunternehmerpfandrecht am Wagen zu haben. Dabei erleidet der Werkunternehmer Schürfwunden. Erforderlich ist die Handlung, denn rein tatsächlich ist das Anfahren schneller und sicherer als zu warten. Vergleicht man nun das Eigentum mit der Schürfwunde des Werkunternehmers, könnte man die Gebotenheit annehmen. Aber soll immer wenn die Polizei gerade nicht im Kofferraum des deutschen Autorambos kampiert, dieser ermächtigt werden, kleine Verzögerungen mittels Gewalt zu beseitigen? Auch wenn der Bürger nicht um sein „schneidiges“ Notwehrrecht gebracht werden soll, soll er andersherum auch nicht motiviert werden, jede Streitigkeit in der Erwartung eines Rechtfertigungsgrundes selbst gewaltsam zu lösen. Manchmal wird eine Blockade nicht rechtswidrig sein, sodass das propagierte „schneidige Notwehrrecht“ erfolgreich eine rechtswidrige Tat provoziert hat. Übrigens: Das AG lehnte die Gebotenheit ab. Dem Autofahrer sei ein Anruf und etwas Wartezeit zuzumuten. Wir sehen: Es kann nicht immer nur um die stumpfe Nichtdisproportionalität zwischen Körperverletzung und Erhaltungsgut gehen. Es ist vielmehr auch der Zweck der Notwehr als subsidiäre Gewaltausübung und die Werteordnung als Ganze zu berücksichtigen.

Meine Straße, mein Auto, mein Recht?

Wenn es Wüstenberg irritiert, dass Juristen Autofahrer hinsichtlich “ihres” Notwehrrechts verunsicherten, so übersieht er, dass gerade Existenz einer Notwehrlage und einer gebotenen Notwehrhandlung in Frage stehen. Es wird nicht jemand um sein bestehendes Recht gebracht, sondern vielmehr versucht, eine Putativnotwehr oder einen intensiven Notwehrexzess zu vermeiden. Beide erschüttern nicht nur die gesellschaftliche Ordnung und das Prinzip des staatlichen Gewaltmonopols, sondern verletzen in aller Regel unnötigerweise Rechtsgüter der Blockierenden und setzen den möglicherweise gutgläubigen Leser eines Jurablogs oder einer Tageszeitung der Gefahr eines Ermittlungsverfahrens aus.

Geht es einem tatsächlich um eine friedliche gesellschaftliche Ordnung, so sollte man eingekeilten Autofahrern zur Gelassenheit und einem Anruf bei der örtlichen Polizeidienststelle raten. Im Auto wartet es sich für gewöhnlich auch angenehmer als bei der Identitätsfeststellung durch die mittlerweile eingetroffene Polizei.

Zitiervorschlag: Nielsen, Lars, Autofahrer gegen Sitzblockaden – Wie viel Notwehr darf es sein?, JuWissBlog Nr. 24/2023 v. 27.04.2023, https://www.juwiss.de/24-2023/.

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Gewaltmonopol, Klimakleber, Lars Nielsen, Nötigung, Notwehr, Sitzblockade, Versammlungsfreiheit
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1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Lionel Hutz
    27. April 2023 20:33

    Wenn man es nicht sehr eilig hat, ist es sicher besser, auf die Polizei zu warten.

    Aber wenn (!) die Blockade einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff darstellt, also eine Notwehrlage i.S.d. § 32 II StGB vorliegt, muss man m.E. nicht auf die Polizei warten, insb. wenn man z.B. einen dringenden Arzttermin o.Ä. hat. Die Räumung durch die Polizei kann durchaus länger als ein paar Minuten dauern.

    Das gewaltsame Wegzerren von der Fahrbahn ist wohl unstreitig eine geeignete Notwehr- bzw. Nothilfehandlung.

    Von mehreren gleich geeigneten Mitteln muss i.d.R. das mildeste Mittel zur Abwendung des Angriffs gewählt werden (Erforderlichkeit i.S.d. § 32 II StGB).
    „Dabei darf sich der Angegriffene grundsätzlich des Abwehrmittels bedienen, was er zur Hand hat und das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten lässt“ (BayObLG NStZ 2023, 42, 43).
    „Der Angegriffene kann nicht auf die Inanspruchnahme fremder Unterstützung (weder privater noch hoheitlicher Art) verwiesen werden, wenn diese erst herbeigeholt werden müsste […]. Eine solche (wenn auch nur zeitweise) Duldungspflicht gegenüber dem Unrecht wäre mit dem Grundprinzip der Notwehr nicht vereinbar“ (MüKoStGB/Erb StGB § 32 Rn. 141).
    „Die Notwehrbefugnisse des Angegriffenen im Zeitpunkt des Angriffs erfahren daher auch dann keine Einschränkung, wenn Hoheitsträger allein deshalb nicht zur Stelle sind, weil der Angegriffene derartige Vorfeldbemühungen unterlassen hat“ (LKStGB/Rönnau/Hohn StGB § 32 Rn. 184).

    „Da der Grundsatz ‚nullum crimen sine lege‘ im Hinblick auf seine Funktion […] auch einer Einschränkung von Rechtfertigungsgründen entgegensteht, die nicht durch den Gesetzeswortlaut gedeckt ist, verstößt die Annahme ‚sozialethischer Einschränkungen des Notwehrrechts‘ im Grunde genommen gegen Art. 103 Abs. 2 GG“ (MüKoStGB/Erb StGB § 32 Rn. 204).
    Die Formulierung „durch Notwehr geboten“ in § 32 I StGB bietet keinen hinreichenden gesetzlichen Anknüpfungspunkt zur Beschränkung des Notwehrrechts (MüKoStGB/Erb StGB § 32 Rn. 205).
    „Die verfassungsrechtlichen Bedenken können nicht mit der Erwägung überspielt werden, bei den ‚sozialethischen Einschränkungen‘ handele es sich nur um die Konkretisierung immanenter Schranken der Notwehr, die schon in deren Grundprinzip angelegt seien – der Grundsatz ‚nullum crimen sine lege‘ verlangt nun einmal, dass der Gesetzeswortlaut selbst das Bestrafungsrisiko erkennen lässt“ (MüKoStGB/Erb StGB § 32 Rn. 206).

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