von FELIX WÜRKERT
Jendrik Wüstenberg sorgt sich in seinem Beitrag über die „Relativierung des scharfen Notwehrrechts“. Er meint, es sei vom Notwehrrecht gedeckt, wenn Autofahrer*innen Demonstrierende, die sich an der Fahrbahn befestigen, mit Gewalt zur Seite schaffen. Das scheint nun so eindeutig dann doch nicht zu sein, aber es wäre schade, wenn wir dabei das neue Autofahrgrundrecht übersehen. Vor allem darum soll es hier gehen.
Man muss es einmal aussprechen: bei der Entstehung des Grundgesetzes ist ein offensichtlicher Redaktionsfehler unterlaufen. Art. 2 Abs. 3 hätte lauten sollen „Die Freiheit eines jeden deutschen Autofahrers ist unverletzlich. In dieses Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ Streit muss es darüber gegeben haben, ob die Autofahrfreiheit nicht doch einen eigenen Artikel bekommen sollte und ob in der Formulierung auch der Gedanke der Institutsgarantie und zumindest die Möglichkeit eines Teilhaberechts adäquat zum Ausdruck kommen.
Die Fetischisierung des Autos
All das ist natürlich Quatsch, aber betrachtet man die Fetischisierung, die das Auto hierzulande erfährt, so scheint es doch so abwegig nicht (siehe auch hier und hier). Der von Bild bis Junge Freiheit und darüber hinaus geschürte gewaltsame Volkszorn gegen „Klimakleber“ zeugt ebenfalls davon. Als Jurist*innen werden wir uns dem Eindruck kaum verschließen können, dass diese Fetischisierung des Autos auch unser Rechtssystem erfasst und in diesem widergespiegelt wird. Das wissen alle, die schon einmal zwei leidenschaftlichen Verkehrsrechtsanwält*innen und einer Gutachter*in bei der Diskussion Gesellschaft leisten durften, ob im Rahmen der fiktiven (!) Schadensregulierung nun die kleinen Nubsis der Einparkhilfe in der Stoßstange separat nachlackiert werden müssen, weil ansonsten der optische Eindruck beeinträchtigt wäre. Das weiß, wer sich § 316 a StGB und seine Geschichte ein wenig anschaut und auch wer den Eindruck nicht abschütteln kann, dass § 3 Abs. 3 Nr. 2 lit. c. S. 2 u. 3 StVO doch eine Art deutsches Second Amendment sein muss. Es wäre gewiss eine spannende rechtsvergleichende Untersuchung einmal herauszufinden, ob und wenn ja, in welchen anderen Rechtssystemen, dem Auto vor Gericht und durch Gesetzes- und Verordnungsgebung eine vergleichbar hohe Aufmerksamkeit zukommt.
Das Grundrecht „da jetzt mit dem Auto langzufahren“
Vor diesem Hintergrund überrascht es auch nicht, dass Jendrik Wüstenberg ein Grundrecht für gewalttätige Autofahrer*innen streiten sieht, die er ohne Ironie „Opfer“ nennt. Er sieht hier die Fortbewegungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 2 GG betroffen. Dabei rekurriert er auf eine Aussage des Juristen und Journalisten Ronen Steinke, der dieses Grundrecht jedoch zu lapidar behandle. Steinke allerdings zitiert hinter der Paywall der SZ lediglich den Strafrechtsprofessor Christoph Safferling mit den Worten: „Aber hier steht auf der einen Seite die bloße Fortbewegungsfreiheit in einem Verkehrsmittel, das ohnehin oft im Stau steckt. Auf der anderen Seite steht das hohe Gut der körperlichen Unversehrtheit, auch noch gesteigert durch das politische Grundrecht der Versammlungsfreiheit.“ Auch Thomas Fischer spricht von Fortbewegungsfreiheit als Rechtsgut, wenn auch ohne Grundrechtsartikel zu benennen.
Und so scheint mir ein neues Grundrecht geboren bzw. gefunden worden zu sein. Nämlich das Grundrecht „da jetzt mit dem Auto langzufahren“. Das BVerfG hat in seiner Entscheidung zu den Corona-Ausgangbeschränkungen die Fortbewegungsfreiheit zu Recht weit ausgelegt, aber eine solche Autofahrfreiheit lässt sich dem gleichwohl nicht entnehmen. Dort steht recht deutlich: „Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG schützt die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor staatlichen Eingriffen […]. Das Grundrecht gewährleistet allerdings von vornherein nicht die Befugnis, sich unbegrenzt und überall hin bewegen zu können […]. Die Fortbewegungsfreiheit setzt damit in objektiver Hinsicht die Möglichkeit voraus, von ihr tatsächlich und rechtlich Gebrauch machen zu können. Subjektiv genügt ein darauf bezogener natürlicher Wille […].“
Mir scheinen dabei mehrere Punkte bedenkenswert. Der zentrale Punkt ist, dass die Fortbewegungsfreiheit davor schützen soll, dass der Staat (!) mich unter Anwendung oder Verweis auf das Gewaltmonopol daran hindert einen Ort zu verlassen oder ggf. dazu veranlasst einen Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt aufzusuchen (durch Vorführung durchsetzbare Vorladung). Im Hinblick auf die Freiheit einen Ort zu betreten ist das BVerfG ebenfalls deutlich. Weder der Umstand, dass ich kein militärisches Sperrgebiet betreten kann, noch der, dass ich physisch nicht oben auf dem Äußeren der Reichstagskuppel stehen kann, stellen einen Eingriff dar.
Wichtig scheint mir aber vor allem: Der historische Ausgangspunkt der in Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG geschützten Freiheit der Person ist die sog. habeas-corpus-Akte, wobei habeas corpus mit „Du habest den Körper“ für den Anfang eines mittelalterlichen Haftbefehls steht. Es geht darum, dass der Staat Kontrolle über den menschlichen Körper ausübt. Und gewiss, er ist auch verpflichtet uns im Rahmen seiner Möglichkeiten davor zu schützen, dass Dritte dies tun. Aber es heißt eben nicht „habeas autoraeda“, also „Du habest das Auto“ in zusammengegoogeltem Latein, das man mir nachsehen möge. Das Grundgesetz versteht Auto und Fahrer*in nicht als untrennbare Einheit, die als solche den Schutz ihrer Freiheit beanspruchen kann.
Genau jene Autofahrer*innen, die mit Gewalt gegen auf der Fahrbahn sitzende und/oder befestigte Demonstrierende vorgehen, beweisen, dass sie in ihrer Fortbewegungsfreiheit nicht beeinträchtigt sind, denn sie habe schließlich etwas schier Unermessliches geschafft: Sie sind ausgestiegen. Es stellt eine Relativierung der Fortbewegungsfreiheit dar, wenn wir so tun, als wäre wegen einer Versammlung im Stau zu stehen, das gleiche, wie durch eine Polizeikontrolle von der Weiterfahrt abgehalten zu werden. Auch eine täglich stundenweiße geltende Fußgängerzone, wird in dieser Zeit nicht plötzlich zu einem Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit, nur weil ich da jetzt nicht mehr langfahren kann.
Fazit
Selbstverständlich greift in diesem Fall schlicht die allgemeine Handlungsfreiheit (zu Folgefragen aufgrund deren Charakters als Auffanggrundrecht hier). Aber es scheint vor allem der allgemeine Wunsch zu sein, der Versammlungsfreiheit auch ein Grundrecht entgegenstellen zu können, der dazu führt, dass hier mit großem grundrechtlichem Besteck operiert wird. Dort wo über die alltägliche Banalität der Gewalt gegen rechtswidrig Parkplatzbesetzer*innen entschieden wurde, reichten allerdings auch einfachgesetzliche Normen. Vielleicht hilft ja der Umstand, dass man sich demnach nicht mal die Parklücke mit dem Auto freischubsen darf, wenn man eindeutig zuerst da war, auch bei der Bewertung des vermeintlichen Notwehrrechts im gegenwärtigen Kontext.
Zitiervorschlag: Würkert, Felix, Vom Grundrecht „da jetzt mit dem Auto langzufahren“: eine Replik, JuWissBlog Nr. 14/2023 v. 12.04.2023, https://www.juwiss.de/14-2023/.
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3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Selbst wenn man Art. 2 II 2 GG ablehnt (und ich will dem Autor nicht absprechen, dass er mit seiner Kritik einen Punkt hat): Behinderungen Dritter und Zwangswirkungen sind nur dann durch Art. 8 GG gerechtfertigt, soweit sie als sozial-adäquate Nebenfolgen mit rechtmäßigen Demonstrationen verbunden sind (BVerfG NJW 1987, 43 (47); NJW 2002, 1031 (1034)). Die Aktionen der Letzten Generation sind aber in keiner Weise sozial-adäquat. Wie schön hat es das BVerfG doch zusammengefasst: „An dieser Voraussetzung fehlt es, wenn die Behinderung Dritter nicht nur als Nebenfolge in Kauf genommen, sondern beabsichtigt wird, um die Aufmerksamkeit für das Demonstrationsanliegen zu erhöhen.“ (NJW 1987, 43 (47))
Kleine Ergänzung hierzu noch: Das BVerfG hat in neueren Entscheidungen hinsichtlich der Störung darauf abgestellt, dass das Versammlungsrecht dann als Rechtfertigungsgrund nicht taugt, wenn die Störung sich durch besondere Intensität bzw. Dauer auszeichnet, Ausweichmöglichkeiten fehlen, die Störung nicht vorher angekündigt wird etc. Das ist sicherliche eine Modifikation der Anforderungen, stellt aber auch im Ergebnis nichts anderes als die Forderung nach Sozial-Adäquanz der Störung dar.
Zudem muss man berücksichtigen, dass die Handlungsalternative „Steig halt einfach aus“ nicht sonderlich lebensnah ist. Denn wenn der Fahrer sein Auto verlässt und weggeht, dann setzt er sich seinerseits Sanktionen aus, etwa durch Ordnungswidrigkeitenverfahren und Kostenforderungen für die Beseitigung des Fahrzeugs. Er geht damit ein erhebliches Risiko ein. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass Art. 2 II 2 GG psychische Zwangswirkungen ausreichen lässt (die müsste man dann diskutieren). Die einzige Handlungsalternative „Bleib halt im Fahrzeug sitzen, bis die Demonstranten abgelöst sind“, während die anderen Alternativen Strafverfolgung oder erhebliche finanzielle Folgen nach sich ziehen, erscheint mir nicht lebensnah und auch nicht zumutbar. Die behauptete Freiheit auszusteigen und wegzugehen ist eigentlich keine.
„Zudem muss man berücksichtigen, dass die Handlungsalternative „Steig halt einfach aus“ nicht sonderlich lebensnah ist. Denn wenn der Fahrer sein Auto verlässt und weggeht, dann setzt er sich seinerseits Sanktionen aus.“
Das ist dann doch auch ein interessanter Gedanke. Denn er enthält implizit eine Ausweitung des Freiheitsrechts des Autofahrers, deren Notwendigkeit sich aber gerade erst aus der Haftung des Autofahrers für Gefahren ergibt, die wiederum erst aus den Eigenheiten des Autos selbst entstehen. Etwas flapsig gesagt: Weil Autos 2 Tonnen schwere Stahlkonstrukte sind, die man aus diesem Grund (und weil es so viele davon gibt) nicht einfach überall stehen lassen kann, ist es dem Autofahrer unzumutbar, sein Auto im Stau einfach stehen zu lassen. Man könnte jedoch auch darüber nachdenken, ob es nicht einfach das Problem des Autofahrers ist, wenn er sich auf eine Art und Weise fortbewegt, die es ihm nicht erlaubt, seine Fortbewegungsart spontan zu ändern und bei der er sich somit in faktischer Abhängigkeitan an sein Fahrzeug kettet. Er könnte das Auto ja auch von Anfang an stehen lassen.