– Zur Diskussion um das Di Fabio Gutachten –
von FELIX WÜRKERT
Vor einigen Tagen wurde ein Gutachten des Bundesverfassungsrichters a.D. Udo di Fabio zum Umgang der Bundesregierung mit Geflüchteten vorgestellt, welches die bayerische Landesregierung in Auftrag gegeben hatte. Auf dieses Gutachten reagierten Jürgen Bast und Christoph Möllers mit einem sehr kritischen Kommentar auf dem Verfassungsblog, der einen nicht minder scharfen Beitrag von Jürgen Kaube in der FAZ provozierte. Die in diesem letzten Beitrag versprochene „notwendige Klarheit“ tritt auch deshalb nicht ein, weil alle Beteiligten mit unterschiedlichen, mehr oder weniger offen ausgesprochenen Staatsverständnissen oder Staatscharakteristika argumentieren.
Grenzöffnung und materielle Prüfung
Ausgangspunkt des Gutachtens ist die Frage, ob der Bund den Ländern gegenüber verpflichtet ist, den „massenhaften und unkontrollierten Zustroms von Flüchtlingen“ zu begrenzen, „insbesondere im Hinblick auf einen wirksamen Schutz der Grenzen“ (S. 28). Anders formuliert ist es die Frage, ob es verfassungswidrig ist, die Einreise zuzulassen und sukzessive die materielle Prüfung des Schutzgesuchs vorzunehmen.
Der Umfang des Gutachtens verdeutlicht mit seinen 125 Seiten, dass diese Frage wohl nicht so einfach bejaht werden kann. Ganz im Gegenteil sind der Grenzschutz und seine Ausübung alleinige Sache des Bundes (Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG, Art. 87 Abs. 1 GG), und die Dublin-III-Verordnung gesteht den EU-Mitgliedsstaaten in Art. 17 ein Recht auf Selbsteintritt, also auf eine freiwillige, materielle Prüfung der Schutzgesuche zu. Das Gutachten sucht also Gründe, weshalb die Wahrnehmung dieser Kompetenzen durch den Bund ausnahmsweise verfassungswidrig ist.
Die drei Elemente der Failing Federal Republic
„Sie können das mit den Vaterländern doch nur machen, wenn sie Feinde haben und Grenzen. Sonst wüsste man nie, wo das eine anfängt und wo das andre aufhört. Na, und das ginge doch nicht, wie…?“ Kurt Tucholsky, Schloss Gripsholm
Das Gutachten findet diese Gründe unter der apokalyptisch anmutenden Überschrift der „kollektiven Existenzgefährdung“ (S. 44). Staatlichkeit sei die Voraussetzung des Grundgesetzes, wäre dieses ohne Staatlichkeit doch seines Regelungsgegenstandes beraubt. Staatlichkeit, das seien die drei Elemente Jellineks: Staatsvolk, Staatsgebiet, Staatsgewalt.
Dabei sei elementarer Bestandteil des Staatsgebiets – im von Tucholsky karikierten Sinne – dass es durch eine geschützte Grenze umfasst sei. Wenn die Grenze falle, falle der Staat, oder wackle zumindest. Als Beispiel für diese Behauptung muss die Krim-Annexion herhalten. Die Kompetenzausübung des Bundes soll also deshalb ausnahmsweise verfassungswidrig sein, weil dieser die Grenzen und damit das Staatsgebiet als Grundvoraussetzung deutscher Staatlichkeit im Sinne der Drei-Elemente-Lehre aufgegeben habe. Der Bund verwandelt Deutschland also in einen failing state.
Vom Staats- zum Verfassungsrecht – und den Grenzen
Jürgen Bast und Christoph Möllers halten dem Gutachten eine Vielzahl von Argumenten entgegen. Der etwas spitzfindige und theoretische Einstieg ist dabei, dass das Grundgesetz, anders als vom Gutachten zugrunde gelegt, nicht den Staat im Sinne der Drei-Elemente-Lehre als schutzwürdige Voraussetzung habe. Dieser sei weder für die Demokratie noch für den Schutz der Grundrechte zwingend erforderlich. Demnach sei die Kompetenzausübung des Bundes schon deshalb nicht verfassungswidrig, weil die so gestellte Frage nach den drei Elementen der Staatlichkeit weder für unsere kollektive Existenz noch für das Grundgesetz von Belang sei.
Sodann steigen sie aber – quasi hilfsweise – in die Grenzargumentation ein und führen Argumente an, die für die öffentliche Debatte gewiss schwerer wiegen als die Frage nach der Rolle des Staates in der Verfassung. Grenzschutz und Personenkontrollen seien nicht nur für sich genommen sehr junge Phänomene, sondern eben auch keine Voraussetzung von Staatlichkeit, auch nicht im Sinne der Drei-Elemente-Lehre. Dass auch moderne Staaten ohne derartiges existieren können, zeigt etwa grenzüberschreitendes Nomadentum. Darüber hinaus, so die Autoren, stelle die freiwillige Öffnung der Grenze deren Existenz überhaupt nicht in Frage. Sie sehen also keinen Grund anzunehmen, dass der Bund verfassungswidrig handelt.
Zwischen Rechtsstaat und Ermächtigungsgesetz
Jürgen Kaube kritisiert diese Argumentation mit der Freiwilligkeit und kehrt zum Ausgangspunkt des Di Fabio-Gutachtens zurück: Ob sich die beiden Autoren denn keine freiwillige staatliche Handlung vorstellen könnten, die den Staat gefährden könne? „Sie“ (gemeint ist wohl die Redaktion) hätten da ein paar historische Beispiele. Das historisch wenig sensible Argument lautet also zugespitzt: Vielleicht sind Grenzöffnung und Selbsteintritt ja das Ermächtigungsgesetz unserer Tage.
Ungeachtet dieser unnötigen Anspielung dreht sich die Argumentation hier im Kreis. Schließlich war genau die Frage nach einem solchen Szenario staatlicher Selbstgefährdung Ausgangspunkt des Gutachtens. Möllers und Bast richten sich primär gegen die verfassungsrechtliche Relevanz dieser Frage und en passant auch gegen deren Bejahung. Es geht eben nicht um die Vorstellbarkeit eines Verfassungsbruchs, sondern darum, ob dieser tatsächlich vorliegt. Worin dieser aber liegen soll, nachdem es die Aufgabe deutscher Staatlichkeit nicht ist, bleibt vorerst offen.
Dann verweist der Beitrag auf den Rechtsstaat, den es zu erhalten und verteidigen gelte, wenn nicht Rechtsbefolgungsreflexe generell in Frage gestellt werden sollten. Nur ist das letztlich eine Abwandlung der ursprünglichen Argumentation. Sowohl Verfassungswidrigkeit im Allgemeinen, als auch Rechtsstaatswidrigkeit im Besonderen setzen zuerst einen Rechtsverstoß voraus. Dessen Nachweis steht aber noch aus.
Was bleibt?
Nun könnte man entweder die Argumente von Jürgen Bast und Christoph Möllers zu entkräften versuchen (1), einen anderen Rechtsverstoß für die Verfassungswidrigkeit anführen (2) oder aber zugestehen, dass der Schutz Geflüchteter, wie er derzeit praktiziert wird, eben doch verfassungsgemäß ist (3).
(1) Selbst wenn man das Argument der fehlenden verfassungsrechtlichen Relevanz von Staatlichkeit nicht teilt, sollte man sich dennoch fragen, ob das da draußen allen Ernstes ein failed state sein soll. Darüber hinaus sollte man sich fragen, ob es stimmig sein kann, dass deutsche Staatlichkeit an ca. 1 Millionen Geflüchteten zerfallen soll, wenn „[…] das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist.“ BVerfGE 36, 1 (15 f.) Man kann sich auch fragen, ob der Vergleich von Flüchtenden mit den die Krim annektierenden russischen Truppen (S. 51) wirklich ein juristisches Argument sein soll oder nicht vielmehr zwei altbekannte östliche Bedrohungsszenarien miteinander verknüpfen soll.
(2) Was als denkbares Argument übrig bliebe und im Gutachten auch anklingt, wäre eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit des Sozialstaats. Der Staat drohe, seine „personelle und territoriale Schutzverantwortung zu überspannen und die Funktionsfähigkeit als sozialer Rechtsstaat zu verlieren.“ (S. 51) Der Sozialstaat findet sich allerdings nur noch an zwei weiteren Stellen des Gutachtens wieder (S. 104, 105). Dafür dürfte es zwei Gründe geben. Zum einen ist spätestens seit der Entscheidung des BVerfG zu den Bürgschaften in der Finanzkrise (BVerfGE 129, 124 (183 f.)) klar, welch hohe Summe vorliegen können, ohne dass es staatsorganisationsrechtlich relevant wäre. Darüber hinaus führt Jürgen Kaube, den man wohl der Seite Di Fabios zurechnen kann, zurecht an, dass eine solche finanzielle Überforderung derzeit schlicht nicht vorliegt. Wobei er diesen Umstand allerdings für irrelevant hält.
Fazit
Schlussendlich ist die rechtliche Tragfähigkeit solcher Argumente aber ohnehin zweitrangig. Es geht in diesem Gutachten nicht darum, eine erfolgreiche Verfassungsklage vorzubereiten. Daran wäre es gescheitert. Es geht darum, die Geschichte eines vermeintlichen Rechtsbruchs, apokalyptische Untergangsszenarien und Verteilungsängste mit juristischer Sprache, ein paar Normen und Prinzipien und der Autorität eines Bundesverfassungsrichters a.D. auszustatten. Es geht darum, politische Argumente zu generieren und zu stärken. Es bedarf des Austauschs solcher Argumente, weil, wie di Fabio richtig sagt, „der besondere Charakter einer gravierenden Bevölkerungsveränderung auf allen gliedstaatlichen Ebenen unmittelbare Folgen hervorruft.“ (S. 51) Bei dieser Diskussion sollte man zumindest regelmäßig drei Fragen voneinander trennen, die nach dem Dürfen, die nach dem Können und die nach dem Wollen. Dass die gegenwärtige Politik rechtmäßig ist, konnte dieses Gutachten nicht widerlegen (3). Dass sie uns trotz aller Schwierigkeiten auch möglich ist, wird man, nicht wirklich bestreiten können, solange man jetzt nicht noch weiter am öffentlichen Dienst spart. Die Frage nach dem Wollen wird bis dato mit dem Verweis auf fehlendes Dürfen oder Können beantwortet. Machbarkeitsstudien und Rechtsgutachten ersetzen aber keinen politischen Diskurs. Nichtdürfen und Nichtkönnen sind absolute Antworten, die jeglichen Diskurs zu verhindern versuchen. Vielleicht auch deshalb, weil die eigentlichen Argumente des subjektiven Empfindens darüber, wer Teil der Bevölkerung, wer Teil der Nachbarschaft und wie Deutschland sein soll, im Verhältnis zu den Sorgen der Flüchtenden so klein wirken.
3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Gelungener Beitrag!
Sowohl das Di Fabio Gutachten als auch der Bast/Möllers Beitrag haben eines ganz deutlich gemacht.
Es scheint gerade zu einer deutscher Reflex zu sein, politische Herausforderungen und Probleme mit juristischen Argumenten zu begegenen. An Beispielen fehlt es hierzu in der jüngsten Vergangenheit nicht. Vgl. nur Migrations- und Flüchtlingspolitik, Griechenland-Krise, Geldpolitik der EZB etc.
Aber waum ist das so?
Entweder man ist tatsächlich der Meinung sämtliche Herausforderungen der Gegenwart mittels eines juristischen Gutachtens bewältigen zu können(was m.E. anmaßend und naiv wäre) oder aber man möchte eigene politische Argumente im vermeintlich „unpolitischen“ Gewand rechtlicher Fragestellungen verschleiern.
Fazit:
Man sollte des öfteren akzeptieren, dass nicht jedes politische Problem justiziabel oder verrechtlicht werden kann. Ab einem bestimmten Punkt kommt es eben auf die politischen und weniger auf die rechtlichen Argumente an.
Ganz interessant fand ich eine Bemerkung hierzu, die ich irgendwo gelesen habe: Der Rechtsstaat sei älter als die Demokratie, daher verlasse man sich lieber auf ersteren, als die politische Auseinandersetzung zu suchen bzw. führe eine originär politische Auseinandersetzung mit quasirechtlichen Argumenten.
Das sollte man gerade als Rechtswissenschaftler bedauern. Vielen Dank für den Beitrag!
Ja, Felix Würkert:“. . .weil alle Beteiligten mit unterschiedlichen, mehr oder weniger offen ausgesprochenen Staatsverständnissen oder Staatscharakteristika argumentieren.“ Warum wohl? Weil so gewollt, oder weil nicht anders möglich? Sind das nicht wissenschaftlich zu beantwortende Fragen (Themen)?
„Das Reichskonkordat, das nach seiner Präambel „das Verhältnis zwischen der Katholischen Kirche und dem Staat für den Gesamtbereich des Deutschen Reiches dauernd regeln“ will, hat durch den Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft seine Geltung nicht verloren. Vertragspartner war das Deutsche Reich. Die Vertragschließenden wollten eine Dauerregelung; daher kann das Argument, das Konkordat gelte nur für die Dauer des nationalsozialistischen Systems, nicht überzeugen.Die rechtliche Struktur des staatlichen Partners hat sich freilich grundlegend gewandelt. Die Gewaltherrschaft brach zusammen. Das änderte aber nach herrschender und auch vom Gericht geteilter Auffassung nichts am Fortbestand des Deutschen Reichs „(BVerfGE 6, 309 – Reichskonkordat)
Mit „Staat für den Gesamtbereich des Deutschen Reiches“ und „Fortbestand des Deutschen Reichs“ unterscheidet das BVerfG zwischen Reich und Staat. Es nimmt zwei verschiedene Worte, auch um damit auszudrücken, dass mit diesen Unterschiedliches zu verstehen ist. Daran ändert sich auch nichts mit der Beurteilung: „nationalsozialistische(n) Gewaltherrschaft“. Worin besteht das Unterschiedliche, worin unterscheidet sich das eine vom anderen und woraus ist dieser Unterschied wissenschaftlich abzuleiten?
Die genannten Fragen sind keine der „Rechtswissenschaften“. Gleichwohl ist ihre wissenschaftliche Beantwortung eine Grundlage dafür.