von STEFAN MARTINI und MICHAEL PLÖSE
Wenn die Demokratie von Kompromissen leben soll, muss zuvor um politische Alternativen gestritten werden. Da in der Krisenbewältigung vieles zur Einheit strebt, ist besonders die Zivilgesellschaft in all ihrer Vielfältigkeit gefordert, sich auch mit kritischen Positionen Gehör zu verschaffen. Die jüngsten Anti-Corona-Regelungen der Bundesländer drohen aber, ein wichtiges Ventil politischer Meinungskundgabe, die Versammlung unter freiem Himmel (Art. 8 Abs. 2 GG), zu verschließen. Sie sind mit dem Grundgesetz teilweise nicht vereinbar oder bedürfen jedenfalls in ihrer Anwendung einer verfassungskonformen Auslegung. Die Behörden sollten beim Umgang mit Versammlungen ihr Ermessen pragmatisch und versammlungsermöglichend ausüben. Demokratischer Meinungskampf muss auch weiterhin auf die Straße getragen (s. Fraport-Urteil des BVerfG) werden können.
In diesem ersten Teil widmen wir uns dem Stellenwert und den Gewährleistungsbedingungen der Versammlungsfreiheit und bewerten die versammlungsbezogenen Corona-Regelungen der Bundesländer. Der zweite Teil ist praxisorientierter und versucht aufzuzeigen, wie Versammlungen pragmatisch ermöglicht werden können.
Performativität und Autonomie der Versammlungsfreiheit
Unter den derzeitigen Ausgangsbeschränkungen verlagert sich ein Teil der früheren Kommunikation unter Anwesenden in die digitale Sphäre. Für Demonstrationen gelingt dies nicht. Nicht nur erstreckt die Rechtsprechung den Schutz von Art. 8 GG nicht auf digitale Versammlungen (z.B. hier und hier); zudem bleibt ihr Leitbild die unmittelbare physische Präsenz. Die Teilnehmenden treten sich einander und der Öffentlichkeit wahrnehmbar gegenüber. Ohne monetär unterstützte Viralität ist letztere Dimension im öffentlichen Raum 2.0 schwer realisierbar. Digitale Hilfsmittel können Versammlungen auf digitale Protestformen somit weder vollständig transferieren noch reduzieren (für eine Übergangszeit anders VG Dresden, 30. März 2020, 6 L 212/20, S. 13).
Wesentliches Merkmal der von Art. 8 Abs. 1 GG gewährleisteten Versammlungsfreiheit ist weiterhin der staatsfreie, unreglementierte Charakter von Protestereignissen. Um in der überfordernden Vielfalt der Medienlandschaft Aufmerksamkeit zu erregen und Inhalte transportieren zu können, müssen Proteste gesehen, beachtet und als unbequem, besser noch störend empfunden werden. Staatsfrei sind Proteste nur, wenn ihre Organisation und Durchführung nicht von Versammlungsbehörden und Polizei (z.B. durch einschnürende Auflagen oder einschüchternde Polizeipräsenz) überformt werden und sie die Chance erhalten, dem Adressaten ihrer Kritik gegenüber zu treten, ohne von diesem vereinnahmt zu werden. Staatsfreiheit ist daher ohne ein Mindestmaß an Staatsferne nicht zu haben (vgl. Plöse, CILIP 118/119 2019). Insoweit verdreht das VG Dresden (30. März 2020, 6 L 212/20, S. 12) die Versammlungsautonomie, wenn es einer Demonstration „mit Abstand“ unterstellt, ihren eigenen Zweck nicht erfüllen zu können.
Kartographie normativer Versammlungsverhinderung
Anders als die herausgehobene Stellung der Versammlungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vermuten lässt, schrumpft die Versammlungsfreiheit in den aktuellen Corona-Regelungen der Bundesländer zur vernachlässigbaren Größe. Lässt man die Bedenken zur formellen Rechtmäßigkeit (flächendeckende Verbote per Allgemeinverfügung – VG München; aA VG Dresden, 30. März 2020, 6 L 212/20, S. 8f.; Rechtsgrundlage – Art. 8 Abs. 2 GG! – im Infektionsschutzgesetz, z.B. bei Kießling und Klafki) großzügig außer Betracht, lassen sich in materieller Hinsicht folgende Versammlungsverhinderungstypen unterscheiden:
Am weitesten gehen totale Versammlungsverbote, die keine Ausnahmen im Einzelfall zulassen. Ja, Sie haben sich nicht verlesen – in diesen Bundesländern dürfen Demonstrationen – zumindest für einige Wochen – nicht stattfinden. Zum Teil werden Versammlungen ausdrücklich verboten, wie in Thüringen (§ 3 Abs. 1); die Unmöglichkeit, eine Erlaubnis für eine Demonstration zu erlangen, ergibt sich daraus, dass die Ausnahmen vom Verbot – von Fällen des Art. 20 Abs. 4 GG abgesehen – nicht auf Versammlungen passen können (z.B. § 3 Abs. 2: „für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung … bestimmt sind“) und dass der vorherige Erlaubnisvorbehalt auf Erlassebene durch die neue Verordnung wohl aufgehoben ist.
Am häufigsten begegnen Versammlungswilligen in Deutschland derzeit implizite Totalverbote (in Baden-Württemberg: § 3 Abs. 1 und 6, Brandenburg: § 1 und 11, Hamburg: Nr. 3, Hessen: § 1 Abs. 2, Mecklenburg-Vorpommern: § 1a Abs. 2 und 3, Niedersachsen: § 2 Abs. 2, Rheinland-Pfalz: § 3 und 4, Sachsen: Nr. 1 und im Saarland: Nr. 1 und 3): Diese Regelungen verbieten Demonstrationen nicht direkt, sondern Zusammenkünfte in der Öffentlichkeit, die über ein Treffen von zwei Personen hinausgehen. Dies läuft aber faktisch auf ein Versammlungsverbot hinaus (s. VG Hannover, S. 3). Ausgeglichen wird dieses Verbot nicht durch die Möglichkeit, eine Erlaubnis im Einzelfall, ggf. unter Auflagen zu erlangen. Es fehlen schlicht Befreiungsmöglichkeiten für Versammlungen – jeglicher Art und Größe.
Allen Totalvorbehalten ist gemeinsam, dass sie für eine gewisse Dauer Demonstrationen gänzlich verhindern. Dies kann zu einer Zeit, in der – unter Einhaltung von Abstand – Mobilität und auch Pressearbeit (s. § 4 Nds.VO) im öffentlichen Raum funktionieren, nicht verfassungsgemäß sein und tastet womöglich gar den Wesensgehalt der Versammlungsfreiheit an. Denn ein Ausweichen auf andere Kundgaben des Protests (z.B. im Netz oder vom Balkon) wird der Performativität der Versammlungsfreiheit nicht gerecht. Neuere Protestformen kombinieren beides.
Etwas freigiebiger sind Bundesländer, in denen die zuständigen Behörden Versammlungen im Einzelfall gestatten können. Die expliziten Erlaubnisvorbehalte zu den präventiven Verboten (jedenfalls für Zusammenkünfte von mehr als zwei Personen) schützen die Versammlungsfreiheit, indem sie die Behörden auf die besondere (verfassungsrechtliche) Bedeutung von Demonstrationen zumindest hinweisen. Sachsen-Anhalt (§ 1 Abs. 5) und Schleswig-Holstein (Nr. 8) gebieten eine individuelle Verhältnismäßigkeitsprüfung für Demonstrationen; Nordrhein-Westfalen (§ 11 Abs. 2 Satz 1) erhebt die Einhaltung von Infektionsschutzauflagen zur Bedingung; ähnlich spricht die bayerische Regelung (§ 1 Abs. 1 Satz 3) von infektionsschutzrechtlicher Vertretbarkeit von Ausnahmegenehmigungen. Die Berliner Verordnung (§ 1 Abs. 7) kombiniert die anderen Varianten (infektionsschutzrechtliche Vertretbarkeit, besonders gelagerter Einzelfall) und setzt zusätzlich die Höchstgrenze von 20 Teilnehmenden fest.
Noch ein Sandkorn der Liberalität leuchtet im Norden der Republik: In Bremen sind Versammlungen weiterhin erlaubt. Sie können jedoch „zum Zwecke der Verhütung und Bekämpfung des Corona-Virus“ verboten bzw. mit Auflagen versehen werden (Nr. 2 des Bremer Corona-Erlasses v. 23. März 2020 nimmt Versammlungen vom Verbot von Zusammenkünften aus). Der Bremer Erlass gibt damit im Wesentlichen die bestehende (verfassungsgemäße) Rechtslage wieder.
Alle Bundesländer geben – bis auf Bremen – die unmissverständliche Direktive vor: Im Zweifel keine Versammlungen. Dies spiegelt sich auch in der bisherigen, sehr jungen Praxis wider (vgl. VG Hannover, Beschluss vom 27. März 2020; VG Dresden, Beschluss vom 30. März 2020, 6 L 212/20). Art. 8 GG verlangt jedoch von staatlichen Stellen (Art. 1 Abs. 3 GG), bei der Beurteilung des Einzelfalls, den physisch-präsenten Ausdruck politischer Meinungen weitestgehend zu ermöglichen, soweit dies für die hier konkurrierenden Belange des Gesundheitsschutzes vertretbar erscheint – was im Übrigen für das Leitbild präsumtiver Erlaubnis spricht.
[wird hier fortgesetzt]
Zitiervorschlag: Stefan Martini/Michael Plöse, Politische „Bewegung an der frischen Luft“ – Teil I: Versammlungs-ermöglichung im gesperrten öffentlichen Raum, JuWissBlog Nr. 42/2020 v. 31.03.2020, https://www.juwiss.de/42-2020/
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