Die aktuelle Diskussion über die Lockerung der Grundrechtsbeschränkungen während der Corona-Krise berührt die sensible verfassungsrechtliche Tektonik zwischen Freiheit und Sicherheit. Dabei scheinen sich zwei Extreme gegenüberzustehen: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die die Pandemie wirkungsvoll bekämpfen möchten und dafür auch harte Einschnitte in unsere Freiheiten in Kauf nehmen. Auf der anderen Seite befinden sich diejenigen, denen die Wiedereröffnung des Wirtschafts- und Soziallebens nicht schnell genug gehen kann. Folgender Beitrag möchte einen Spagat versuchen zwischen der Anerkennung und Akzeptanz der bisherigen Maßnahmen bei gleichzeitiger Mahnung, dass es nicht die Bürger*innen sein dürfen, die jede Lockerung erstreiten müssen. Vielmehr muss der Staat zu jeder Zeit begründen, welche Maßnahmen wann und wie geboten sind.
Verfassungsrechtliche Prämissen nicht außer Kraft setzen
Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass in der breiten öffentlichen Diskussion einige Selbstverständlichkeiten der Grundrechtslehre nicht uneingeschränkt Berücksichtigung finden. So weist Bundestagspräsident Wolfgang Schäublerichtigerweise darauf hin, dass unser Grundgesetz keine Hierarchisierung der einzelnen Grundrechte vorsieht, mit der (im Einzelnen strittigen) Ausnahme der allem voranstehenden Menschenwürde. Er hebt hervor, dass auch der Lebensschutz nicht absolut gelte. Grundrechte sind miteinander abwägbar. Schäuble ist freilich weder der erste noch der einzige, der auch den Schutz des Lebens der Abwägung mit anderen Grundrechten zugänglich macht. Das zeigt beispielsweise das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Recht auf ein selbstbestimmtes und damit menschenwürdiges Sterben unter Inanspruchnahme von Sterbehilfe. Somit ist also auch bei den aktuellen Einschränkungen, deren Maß und Intensität die Bundesrepublik Deutschland vorher noch nicht gesehen hat, immer diese von Schäuble geforderte Abwägung mit dem Lebensschutz durchzuführen. Allerdings sehen sich die Befürworter*innen einer solchen Abwägung allzu oft dem Verdacht der Marktradikalität ausgesetzt: Es gehe ihnen lediglich darum, das wirtschaftliche Leben möglichst schnell wieder in Gang zu setzen. Auch wenn das Abwägungselement momentan mit diesem Vorwurf einhergeht, darauf vollkommen verzichten kann der Verordnungsgeber nicht.
Besonders betroffen: Versammlungsfreiheit
Der Staat muss also auch im Falle des Lebensschutzes Begründungsaufwand betreiben, wenn er Grundrechte einschränken will (siehe dazu auch Mattias Kumm). Diese bewährte und vom Grundgesetz festgeschriebene Arbeitsteilung darf auch in Pandemiezeiten nicht erodiert werden. Die Begründung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen kann in einer dynamischen Lage keine statische sein. Das ergibt sich bereits aus der Natur der sich ständig verändernden epidemiologischen Situation. Jedoch hat immer wieder die Rechtsprechung an diesen Umstand erinnern müssen. So hielt das Bundesverfassungsgericht ein pauschales Versammlungsverbot auf Grundlage der hessischen Corona-Verordnung für rechtswidrig. An diesem Beispiel lässt sich die Entwicklung der letzten Wochen deutlich erkennen. Längst haben wir (fast) allgemein anerkannte epidemiologische Erkenntnisse, wie auch Versammlungen mit mehreren Teilnehmer*innen sicher abgehalten werden können. Abstandsgebote und Schutzmasken sind Beispiele dafür. Die juristische Anpassung an diese wissenschaftlichen Erkenntnisse verlangte jedoch erst eines Anstoßes durch die Judikative. Beachtet man, dass die Versammlungsfreiheit für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung vom Bundesverfassungsgericht als schlechthin konstitutiv betrachtet wird, müssen darauf hinwirkende Debattenbeiträgenicht nur ernstgenommen, sie sollten von unseren Regierungen sogar eingefordert werden. Wenn Deutschland als demokratisches System den bislang erfolgreichen Weg der Eindämmung des Virus weiter nachhaltig gehen möchte, kann es auf eine kritische Begleitung seiner Maßnahmen durch deren Adressat*innen nicht verzichten.
Gleichbehandlung und Corona
Ein weiterer Punkt, der die Debatte um „Corona-Lockerungen“ maßgeblich prägt, ist der der Gleichbehandlung verschiedener Wirtschaftsbereiche. Immer wieder sind Kommentare zu vernehmen, die die Besserstellung einzelner Branchen monieren. Die schrittweise Öffnung der Verkaufsläden kommentiert selbst Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann als „nicht widerspruchsfrei und auch nicht immer logisch“. Dass diese Art der exekutiven Gesetzgebung „auf gut Glück“ rechtsstaatlichen Maßstäben nicht gerecht wird, hat alsbald der Bayerische Verfassungsgerichtshof deutlich gemacht. Dieser stufte die bayerische Regelung, Verkaufsläden mit einer Größe von mehr als 800 Quadratmetern geschlossen zu halten, als verfassungswidrig ein. Obwohl andere Gerichte die Regelung nicht beanstandet haben, wirkt es so, als sei der Begründungserfolg bei den Einschränkungen der Gleichbehandlung der einzelnen Branchen am wenigsten gut gelungen. Hierbei geht es nicht um die Forderung nach „absoluter Gleichberechtigung“, wie Kanzleramtsminister Helge Braun die Debatte interpretiert. Eine solche kann es weder geben, noch ist sie grundgesetzlich geboten. In einer Phase, in der zunächst nur schrittweise Alltag wieder ermöglicht werden soll, wird weiterhin in jedem Einzelfall zu prüfen sein, ob ein sachlicher Grund für eine Ungleichbehandlung gegeben ist. Um die Akzeptanz der Maßnahmen nicht zu gefährden, darf sich die gerichtliche Kontrolle in diesem Prüfungspunkt nicht zurücknehmen.
Die Rolle der Gerichte
Insgesamt scheint, wie so oft in Gefährdungslagen grundrechtlicher Freiheiten, auf die Judikative Verlass zu sein. So führt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über die Einschränkung von Gottesdiensten aus, dass das Befristungselement bei der Bewertung der Erforderlichkeit einer Anti-Corona-Maßnahme eine entscheidende Rolle spielt. Je weiter wir voranschreiten, desto weniger greift „in dubio pro securitate“, jedenfalls dort wo epidemiologisch gesicherte Erkenntnisse an die Stelle der Zweifel treten. Dies bedeutet andererseits jedoch nicht, dass dort, wo sich die Epidemiologie noch streitet, die Exekutive von der Prüfung der Erforderlichkeit freigestellt wird. Vielmehr ist der Maßstab an die Erforderlichkeit auch dann anzupassen, wenn die Kapazitäten im Gesundheitswesen derart hochgefahren werden konnten, dass die Überlastung der Krankenhäuser nicht mehr konkret zu befürchten ist. Eine solche Kapazitätssteigerung ist in jüngster Vergangenheit gelungen. Damit muss eine erneute Bewertung, samt einem Vergleich der jeweiligen Maßnahme mit milderen Mitteln, zumindest ins Auge gefasst werden. Dies ergibt sich daraus, dass (wie in diesem Beitrag richtigerweise festgestellt) der legitime Zweck der aktuellen Maßnahmen in der Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems als Ganzem und nicht in der Verhinderung jeglicher Neuinfektionen liegt.
Schlussbemerkung
Durch sehr weitreichende Einschränkungen unserer Grundrechte haben wir die Epidemie derzeit beherrschbarer gemacht. Nun sollten wir in eine zweite Phase der Maßnahmen eintreten, die die Koexistenz von Sicherheit und Freiheit stärker in den Blick nimmt. Ansätze dafür liegen bereits auf dem Tisch. Verhängte Maßnahmen sind möglichst knapp zu befristen, um dem Verordnungsgeber eine erneute Bewertung der Erforderlichkeit zeitnah aufzuerlegen. Die flexible Reaktion auf epidemiologische Erkenntnisse ermöglicht man der Verwaltung durch eine Abweichungskompetenz im Einzelfall. Dabei ist es in der gesamten Diskussion verfassungsrechtlich geboten, die Tür für Bürger*innen weit zu öffnen, wenn sie über die Verhältnismäßigkeit der verhängten Maßnahmen sprechen möchten.
Zitiervorschlag: Ademir Karamehmedovic, „In dubio pro securitate?“ – zwischen Freiheit, Sicherheit und Gleichheit in der Corona-Krise, JuWissBlog Nr. 70/2020 v. 05.05.2020, https://www.juwiss.de/70-2020/
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