Anlässlich der Protestaktionen der „Letzten Generation“ diskutiert die Rechtswissenschaft über eine Strafbarkeit der Aktivist:innen nach § 240 StGB (siehe etwa hier und hier). Uneinigkeit in der strafrechtlichen Beurteilung herrscht aber nicht nur in der Rechtswissenschaft, sondern auch in der Gerichtsbarkeit. Während das AG Berlin-Tiergarten schon im August und das AG Stuttgart im November eine Strafbarkeit der „Klimakleber“ nach § 240 StGB bejahten, lehnte wiederum das AG Berlin-Tiergarten im Oktober eine Strafbarkeit bei vergleichbarer Sachlage mangels Verwerflichkeit ab. Das AG Freiburg lehnte im November eine Verurteilung eines Aktivisten ab, am nächsten Tag wurde ein Aktivist wegen derselben Demonstration zu einer Geldstrafe verurteilt. Diese Kontroversen sind zwar womöglich unter anderem der Neuigkeit sowie der Komplexität der zu beurteilenden Sachverhalte geschuldet, aber auch und gerade der Tatsache, dass das Merkmal der „Verwerflichkeit“ in § 240 StGB dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG nicht genügt, wie durch die Debatte um die Klimaproteste nachdrücklich unter Beweis gestellt wird.
Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG: Die Unbestimmtheit des § 240 StGB
„Gewalt“ und „verwerflich“ – dass der Wortlaut des § 240 StGB Bestimmtheitsdefizite aufweist, ist keine neue Erkenntnis. Doch führt diese Einsicht nicht zwingend zu einem Verfassungswidrigkeitsverdikt, kann Art. 103 Abs. 2 GG doch nach der – vor der Folie des Demokratie- und des Gewaltenteilungsprinzips nicht unproblematischen – verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung seit dem „Groben Unfug“-Beschluss auch damit Genüge getan werden, dass eine zunächst unbestimmte Norm durch jahrzehntelange gefestigte Rechtsprechung hinreichend präzisiert wird (stRspr seit BVerfGE 26, 41 (43)). Die aktuelle Debatte zeigt jedoch, dass die fachgerichtliche Rechtsprechung zu § 240 StGB mitnichten die erforderliche „hinreichende Präzisierung“ des Nötigungstatbestands bewerkstelligt hat. Während die strafgerichtliche Rechtsprechung nach den großen Kontroversen der 1990er Jahre mittlerweile durchaus eine konsequente Linie zum Gewaltbegriff von § 240 Abs. 1 StGB verfolgt, stellt sich das Verwerflichkeitserfordernis des zweiten Absatzes trotz jahrzehntelanger Konkretisierungsbemühungen der Judikative als hochgradig unbestimmt dar. So ist die Verwerflichkeit nach der Rechtsprechung des BGH im Wege einer Gesamtwürdigung zu ermitteln, wobei ein erhöhter Grad an sittlicher Missbilligung erreicht werden muss. Die Tat muss also als strafwürdiges Unrecht zu bewerten sein (vgl. BGHSt 17, 328, 331 f.). Der unbestimmte Begriff der „Verwerflichkeit“ wird somit durch die unbestimmten Begriffe der „Gesamtwürdigung“ und der „sittlichen Missbilligung“ ersetzt. Anders als beim Gewaltbegriff oder auch beim Tatbestandsmerkmal des „groben Unfugs“ in § 360 Abs. 1 Nr. 11 StGB a.F. hat die BGH-Judikatur keine handhabbare Definition für die Tatbestandsvoraussetzung der Verwerflichkeit entwickelt und wohl auch nicht entwickeln können.
Anstelle dessen wird versucht sich mit Fallgruppenbildung zu behelfen, was lediglich zur Kaschierung, nicht aber zur Lösung des Unbestimmtheitsproblems geführt hat. Dies kann anhand der Fallgruppe der politisch motivierten Blockadeaktionen demonstriert werden, die im Kontext der Klimaproteste wieder Aufmerksamkeit erlangt und für die das Bundesverfassungsgericht in der dritten Sitzblockadenentscheidung (BVerfGE 104, 92) und in einem späteren Kammerbeschluss (BVerfGK 18, 365) höchstselbst Abwägungsparameter für die Verwerflichkeitsprüfung formuliert hat. Dazu gehören unter anderem der verfolgte Zweck, die Belastung für andere Bürger:innen, die sich anhand von Ausweichmöglichkeiten, der Dringlichkeit des Transports und einer vorherigen Bekanntgabe bestimmen lassen soll, sowie die Konnexität zwischen Zweck und Mittel. Mangels präzisierender Bestimmung der Bedeutung dieser Kriterien und ihres relativen Gewichts wird die Unbestimmtheit des Verwerflichkeitsmerkmals durch sie kaum abgemildert. Vielmehr verlangt die vom Bundesverfassungsgericht geforderte „Gesamtwürdigung“ unweigerlich von jeder Strafrichter:in eine umfassende Einzelfallabwägung.
Zwar spricht per se nichts gegen eine Einzelfallabwägung, die im Einzelfall vielmehr sogar verfassungsrechtlich geboten sein kann. Fehlt es jedoch an hinreichend präzisierten und gewichteten Kriterien wie im hiesigen Kontext, hat das Erfordernis einer Einzelfallabwägung keine rationalisierende Wirkung. Vielmehr werden dogmatisch die Waffen gestreckt und die Anreicherung des gesetzgeberisch gewählten Begriffs unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG dem Belieben des jeweils entscheidenden gerichtlichen Spruchkörpers zugewiesen. Dass dem so ist, zeigt sich letztlich auch daran, dass die Instanzrechtsprechung im Kontext der Klimaproteste keinesfalls die für die Gewährleistung von Rechtssicherheit notwendige homogene Spruchpraxis produziert, die das Bundesverfassungsgericht als Zielgröße im „Grobem Unfug“-Beschluss wohl vor Augen hatte.
Folgeproblem der Unbestimmtheit von § 240 StGB: Gefahr des Machtmissbrauchs
Während der Nötigungstatbestand schon wegen des Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 2 GG reformbedürftig ist, ergibt sich die besondere Dringlichkeit legislativer Anpassungen des § 240 StGB aus dem der Norm inhärenten besonders hohen Missbrauchsrisiko. Der Grund dafür liegt im Zusammentreffen mehrerer Faktoren: Zunächst schützt § 240 StGB „nur“ die allgemeine Handlungsfreiheit Dritter, die regelmäßig durch Formen zivilen Ungehorsams Dritter beeinträchtigt wird. Hinzu kommt, dass § 240 StGB aufgrund der beschriebenen begrifflichen Unschärfe durch eine besondere tatbestandliche Weite gekennzeichnet ist. In der Folge hat der Nötigungstatbestand eine große Demonstrationsrelevanz entwickelt. Ferner gilt es sich vor Augen zu halten, dass die Möglichkeit politisch missliebige Demonstrierende strafrechtlich zu belangen, ein effektives Instrument im politischen Meinungskampf darstellt, öffnet die Verurteilung einzelner Demonstrierender doch nicht nur Maßnahmen des Polizei- und Ordnungsrechts, bis hin zum Präventivgewahrsam Tür und Tor, sondern kann wegen der damit einhergehenden Prangerwirkung neben einer Stigmatisierung der verurteilten Person auch zu einer solchen der politischen Partei oder Bewegung führen, der die verurteilte Person angehört. So deutet vieles darauf hin, dass die Verurteilungen von Aktivist:innen der „Letzten Generation“ nicht nur den Aktivist:innen selbst und der spezifischen Gruppierung der „Letzten Generation“, sondern mittelbar auch der Klimabewegung insgesamt schadet. Vor diesem Hintergrund stellt sich die strafrichterliche Möglichkeit auf die politische Meinungsbildung durch weitgehend freihändige Konkretisierung unbestimmter gesetzlicher Termini Einfluss zu nehmen als hochproblematisch dar. Nicht zuletzt deshalb, weil es bei rechtsrealistischer und richtersoziologischer Betrachtung zumindest nicht auszuschließen ist, dass politische Präferenzen der entscheidenden Richter:innen für die Entscheidungsfindung eine signifikante Rolle spielen.
Fazit: Der Gesetzgeber ist zum Handeln aufgerufen!
Bald 70 Jahre nach der Einführung der Verwerflichkeit in § 240 Abs. 2 StGB muss man feststellen, dass es die Rechtsprechung nicht geschafft hat und wohl angesichts der begrifflichen Unschärfen wohl auch nicht schaffen konnte, den Wortlaut des Nötigungstatbestandes wie vom Bundesverfassungsgericht wegen Art. 103 Abs. 2 GG gefordert hinreichend zu präzieren. In der Folge stellt sich § 240 StGB als verfassungswidrig dar und bedarf allein deshalb der gesetzgeberischen Anpassung. Hinzukommt, dass § 240 StGB mit Blick auf seine Relevanz für den politischen Meinungskampf auch und gerade in Anbetracht politischer Demonstrationen ein vor der Folie des demokratischen Prozesses höchstproblematisches Missbrauchspotenzial darstellt. Hierdurch wird politischer Einflussnahme aus der Richterschaft Tür und Tor geöffnet. Diesen Problemen kann nur mittels einer Gesetzesreform nachhaltig begegnet werden.
Zitiervorschlag: Kerschnitzki, Arvid, „Klimakleber“ als Nachweis der Verfassungswidrigkeit des § 240 StGB, JuWissBlog Nr. 1/2023 v. 09.01.2023, https://www.juwiss.de/1-2023/.
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.