Telefonüberwachung bei der „Letzten Generation“ – Zweifelsfragen des § 100a StPO

von NEIL GOERGE

Die strafrechtlichen Debatten um die „Letzte Generation“ (LG) reißen nicht ab. Angefangen bei der Diskussion um die Strafbarkeit blockierender Personen gem. § 240 I StGB, über die Einordnung dieser als kriminelle Vereinigung gem. § 129 StGB, vermeldete die Süddeutsche Zeitung kürzlich den nächsten Paukenschlag: Bayrische Ermittlungsbehörden haben die Telekommunikation der Klimaaktivist:innen im Zeitraum Oktober 2022 bis April 2023 abgehört. Neben den Privathandys einzelner Mitglieder soll auch das „Pressetelefon“ der „Letzten Generation“ Ziel der Zwangsmaßnahme gewesen sein. 

 

Katalogtatverdacht als Ergebnis sich bedingender Prämissen

Die Anordnung der Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) erfordert zunächst den Tatverdacht hinsichtlich einer „schweren Straftat“. Da § 240 I StGB nicht im Anlasstatenkatalog der Norm zu finden ist, müssen sich die Ermittlungsbehörden auf einen Tatverdacht hinsichtlich der Bildung einer kriminellen Vereinigung stützen, § 100a II Nr. 1 lit. d) StPO. Damit haben sich die Strafverfolgungsbehörden ein wackeliges Konstrukt gebastelt: Zuerst ist in der Rechtswissenschaft nicht unbestritten geblieben, dass das zeitweise Blockieren von Straßen überhaupt eine strafbare Nötigung gem. § 240 I StGB darstellt. Aufbauend auf dieser Annahme, eine strafbare Nötigung liege vor, gingen Ermittler:innen dann von dem viel kritisierten Anfangsverdacht bezüglich des Vorliegens einer kriminellen Vereinigung gem. § 129 StGB aus. Dieser wurde gerade damit begründet, dass der Zweck der Vereinigung darin bestehe, mutmaßliche strafbare Nötigungen in Form von Straßenverkehrsblockaden zu begehen. Dieser Tatverdacht ist seinerseits Voraussetzung, um die Hürde des qualifizierten Verdachts bezüglich § 100a I 1 Nr. 1 StPO zu begründen. Sollten obergerichtliche oder höchstrichterliche Entscheidungen an einem Punkt zu einem anderen Ergebnis gelangen, fällt das Kartenhaus in sich zusammen.

Eine schwere Straftat im Einzelfall?

Die Straftat, auf die sich der Verdacht bezieht, muss zudem nicht nur abstrakt, sondern auch im konkreten Einzelfall eine „schwere Straftat“ darstellen, § 100a I 1 Nr. 2 StPO Der Gesetzgeber wollte die TKÜ in Konstellationen ausschließen, in denen die Schwere der Tat einen Eingriff in Art. 10 I GG nicht zu rechtfertigen vermag. Operationalisieren lässt sich dies durch Kriterien des Bundesverfassungsgerichtes, z.B. die Schutzwürdigkeit der verletzten Rechtsgüter, der Grad der Bedrohung der Allgemeinheit, die Art der Begehung der Straftat, die Anzahl der Geschädigten oder das Ausmaß des Schadens. Konzeptionell wird deutlich, dass die genannten Kriterien auf Erfolgsdelikte zugeschnitten. Gut handhabbar scheinen Taten, die sich gegen Leib, Leben, Selbstbestimmung sowie Eigentum oder Vermögen richten. § 129 StGB ist hingegen ein abstraktes Gefährdungsdelikt sowie Organisationsdelikt. Geschützt wird die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Der Strafgrund liegt also darin, dass dem organisatorischen Zusammenschluss zur Begehung von Straftaten eine erhebliche Eigendynamik in Bezug auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung innewohnt, die von einzelnen Mitgliedern nicht mehr steuerbar ist (Dazu: https://www.juwiss.de/34-2023/). Die oben genannten Parameter könnten aber hilfsweise auf den verfolgten – strafrechtlichen – Zweck der kriminellen Vereinigung bezogen werden: Die Begehung von Blockaden im Straßenverkehr, nach h.M. rechtswidrige Nötigungen i.S.d. § 240 I StGB. Zwar meint der Gesetzgeber mit „Tat“ eigentlich die Bildung der kriminellen Vereinigung. Überträgt man aber den Gedanken des Einzelfallerfordernisses auf dessen Deliktsnatur, müssen die verfolgten Zwecke zur Auslegung miteinbezogen werden dürfen, was der Wortlaut auch zulässt. Man könnte argumentieren, dass die Geschädigtenanzahl besonders hoch ist oder das Ausmaß des Schadens aufgrund der Vielzahl aufgehaltener Autofahrer:innen eine gewisse Intensität aufweist. Andererseits könnten Wertungen des Gesetzgebers unterlaufen werden, wenn entscheidend mit aus der Begehung von Nötigungen ergebenden Umständen argumentiert wird, um eine „schwere Straftat“ auch im Einzelfall zu begründen. Denn gerade für diese Umstände hatte dieser die souveräne Entscheidung getroffen, Betroffenen keinen Eingriff in Art. 10 I GG abzuverlangen. Man könnte dies mithin als Indiz dafür werten, dass die Tat hier im Einzelfall nicht schwerwiegt. Es bleibt abzuwarten, wie Strafverfolgungsbehörden das Vorliegen der Schwere der Tat im Einzelfall bei einem solchen Delikt positiv begründen werden.

Grundrechtssensible Ausgestaltung oder Erkenntnisgewinn um jeden Preis?

Wie jede strafprozessuale Maßnahme muss auch diese verhältnismäßig sein. Spätestens hier muss in Bezug auf die Betroffenen differenziert werden. Die Maßnahme trifft zunächst Mitglieder der LG hinsichtlich derer auch der Vorwurf auf Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung besteht. Die Maßnahme trifft aber aufgrund der Infiltrierung des Pressetelefons auch Journalist:innen, die mit den Mitgliedern telefoniert haben, was § 100a III StPO unter gewissen Voraussetzungen erlaubt. Dafür muss im Gegenzug der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gegenüber Nichtbeschuldigten in besonderer Weise geachtet werden. Zudem ordnet §§ 160a II 1, 53 I 1 Nr. 5 StPO eine besondere Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes an, soweit Journalist:innen von der Maßnahme betroffen sind.

Streiten lässt sich schon über die Geeignetheit der Maßnahme, also der Frage, inwieweit die TKÜ zur Sachverhaltsaufklärung beiträgt. In Bezug auf die Mitglieder der Gruppe wird man noch davon ausgehen können. Was genau sich Ermittler:innen vom Abhören des Pressetelefons erhofften, ist unklar. Laut SZ vermerkten diese selbst am 9.1., dass auf diesem Kommunikationskanal keine Erkenntnisse über bevorstehende Straftaten gewonnen werden konnten. Dennoch liefen die Maßnahmen mindestens bis zum 26.4 – nach beantragter Verlängerung – weiter. Zwar wird der Exekutive eine gewisse Einschätzungsprärogative zugestanden, die aber spätestens infolge des Vermerks überschritten gewesen sein dürfte.

Ob die Anordnung der Maßnahme auch angemessen war, ist eine Frage der Gewichtung kollidierender Verfassungsgüter. Einerseits misst das BVerfG der effektiven Strafverfolgung und einer funktionierenden Strafrechtspflege Verfassungsrang zu. Andererseits greifen die Maßnahmen hinsichtlich der Aktivist:innen in Art. 10 I GG, hinsichtlich der Journalist:innen in Art. 5 I 2, 10 I GG ein. Ob der Eingriff verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist, und die Anwendung der Maßnahme eine verfassungsgemäße Konkretisierung der Schranken aus Art. 10 II GG darstellt, muss bezweifelt werden. In Bezug auf das Pressetelefon ist den Behörden zuzugestehen, dass Bezüge zum Kernbereich privater Lebensgestaltung (und dem APR) eher fernliegen. Für die Abhörung der privat genutzten Mobiltelefone lässt sich dies gegenwärtig nicht seriös bewerten, liegt aber nahe. Für eine Unangemessenheit streitet hingegen der voll ausgeschöpfte Zeitraum der Maßnahme sowie dessen Verlängerung. Auch war die Streubreite der Maßnahme – wenn man sämtliche, die LG kontaktierenden, Journalist:innen miteinbezieht – unabsehbar hoch. Dazu kommt, dass neben dem Abhören der Telefongespräche sämtliche E-Mail-Gespräche mitgelesen wurden, mithin mehrere Wege der Kommunikation mitgezeichnet wurden, die kumulativ die Erstellung eines umfassenden Kommunikationsprofil ermöglichen. Selbst wenn die Anforderungen an § 129 StGB aufgrund seiner gesetztechnisch missglückten Ausgestaltung erfüllt sind, sind es spätestens die Grundrechte der betroffenen Individuen, die im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung dieser Zwangsmaßnahme Grenzen aufzeigen. Mutmaßlich betroffene Journalist:innen wollen die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen nun rechtlich prüfen lassen. Aus einer solchen gerichtlichen Entscheidung könnten dann auch erste Rückschlüsse hinsichtlich der Verwertbarkeit der Erkenntnisse in einem möglichen Hauptverfahren gezogen werden.

Zitiervorschlag: Goerge, Neil, Telefonüberwachung bei der „Letzten Generation“ – Zweifelsfragen des § 100a StPO, JuWissBlog Nr. 42/2023 v. 13.07.2023, https://www.juwiss.de/42-2023/

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