von JOOS SCHWEICKHARDT und PHILIPP SCHÜPFERLING
Am 10.10.2024 hat der Bundestag ein länger diskutiertes Vorhaben umgesetzt und ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes beschlossen, das mehr Schutz für das Bundesverfassungsgericht bieten soll. Im Kern geht es darum, die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Staat und dessen Ordnung nicht nur einfachgesetzlich zu regeln, sondern grundgesetzlich abzusichern. Denn bekanntlich ist für eine Grundgesetzänderung gem. Art. 79 Abs. 2 GG eine qualifizierte Mehrheit erforderlich. Doch welche Neuerungen genau beinhaltet dieses Gesetz? Sorgt das wirklich für einen effektiven Schutz des Bundesverfassungsgerichts?
Neuerungen in der Verfassung
Das Änderungsgesetz tauscht zunächst die Inhalte der derzeit noch geltenden Art. 93 GG a.F. und Art. 94 GG a.F. Dadurch werden in Art. 93 GG n.F. systematisch sinnvoll die Grundsätze des Art. 94 GG a.F. zur Stellung und Organisation des Bundesverfassungsgerichts an erster Stelle stehen und somit nunmehr auch symbolisch als Ausgangspunkt der Auslegung gelten. Zuvor waren in Art. 93 GG a.F. viele Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts geregelt, während Art. 94 GG a.F. teilweise den Aufbau des Gerichts regelt und den Bundestag ermächtigt, das Bundesverfassungsgerichtsgesetz zu erlassen, in welchem die Verfassung und das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht näher festgelegt werden können.
In diesem Art. 93 GG n.F. ist nun v.a. grundgesetzlich verankert, dass das Bundesverfassungsgericht allen anderen Verfassungsorganen gegenüber selbstständig und unabhängig ist (Art. 93 Abs. 1 n.F.). Zuvor stand dies lediglich im einfachgesetzlichen § 1 Abs. 1 BVerfGG. Dass nicht schon früher die selbstverständliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts als Verfassungsorgan und dessen Selbstständigkeit und Unabhängigkeit durch eine Zweidrittelmehrheit geschützt wurde, ist im Grunde genommen kurios und nicht nachvollziehbar.
Eine weitere Änderung ist, dass Art. 93 Abs. 2 GG n.F. nunmehr grundgesetzlich schützt, dass durch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz vorgesehen werden kann, dass entweder der Bundestag oder der Bundesrat die Wahl der Richter*innen am Bundesverfassungsgericht allein durchführen kann, wenn die Wahl einer Nachfolge nicht (rechtzeitig) zustande kommt. Das hat den Hintergrund, dass eine politische Partei mit mehr als einem Drittel der Stimmen eine einfachgesetzliche Sperrminorität hat (§ 6 Abs. 1 BVerfGG) und die Wahl von Bundesverfassungsrichter*innen blockieren kann. Dieses Problem wird eben dadurch behoben, dass in einem solchen Blockadefall das jeweils andere Wahlorgan allein die Wahl treffen kann – in der Hoffnung, dass dort nicht auch dieselbe Partei mehr als ein Drittel der Stimmen hält.
Außerdem wird durch das Änderungsgesetz auch die Amtszeit der Bundesverfassungsrichter*innen grundgesetzlich festgelegt. So ist gem. Art. 93 Abs. 3 n.F. die Amtszeit zwölf Jahre ohne Möglichkeit zur Wiederwahl, jedoch längstens bis zum Ende des 68. Lebensjahres. Dazu gibt es eine Übergangsfrist, in welcher die Richter*innen trotz Ende ihrer Amtszeit die Amtsgeschäfte weiterführen, bis eine Nachfolge besetzt ist. Hier lässt sich eine Parallele zu den USA ziehen, deren Hintergrund die Neubesetzung des amerikanischen Supreme Courts nach dem Ableben der Richterin Ruth Bader Ginsburg ist. In Amerika werden Richter*innen am Supreme Court auf Lebenszeit ernannt, weshalb die Gefahr besteht, dass diese die Rechtsprechung außerordentlich lang in eine bestimmte Richtung lenken könnten. In den USA wird derzeit jedenfalls aus diesem Grund eine Begrenzung der Amtszeit der Supreme Court Justices diskutiert, wie es Deutschland nun auch in der Verfassung umsetzt.
Schließlich wird der Art. 93 GG a.F. im neuen Art. 94 GG n.F. um einen vierten Absatz ergänzt, der grundgesetzlich verankert, dass sämtliche Behörden über Gerichte bis hin zu den Verfassungsorganen der Länder und des Bundes an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gebunden sind. Das Bundesverfassungsgericht kann als Hüterin der Verfassung das Grundgesetz nur effektiv hüten, wenn alle anderen Organe des Staats auch daran gebunden sind. Dieses Prinzip hat daher große Bedeutung für die Autorität des Bundesverfassungsgerichts und bedarf daher dem Schutz, den die Grundgesetzänderung nun herbeiführt.
Effektivität des Schutzes
Auch wenn die vorgenommenen Änderungen die Stellung des Bundesverfassungsgerichts und die Wahl der Richter absichern, stellt sich dennoch die Frage, ob dieser Schutz ausreichend ist, oder ob es weitreichenderen Schutzes bedarf. Wie etwa die konstituierende Sitzung des Landtags in Thüringen gezeigt hat, ist die Ausnutzung von demokratischen Mitteln keine fernliegende Gefahr. So erhält in einigen deutschen Parlamenten das älteste gewählte Mitglied des Parlaments das Amt des Alterspräsidenten nur aufgrund des Alters und hat dennoch bestimmenden Einfluss auf den Ablauf der konstituierenden Sitzung. Es ist also angebracht, solche in die Zeit gekommenen Regelungslücken zu erkennen, konsequent zu schließen und nicht nur auf den „good faith“ der Akteure zu vertrauen.
Einfallstore, um das Bundesverfassungsgericht zu schwächen, sind auch nach der angestrebten Änderung die verbleibenden Vorschriften des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes, soweit sie nicht zugleich im Verfassungsrecht verankert sind. Als einfaches Bundesrecht kann das Bundesverfassungsgerichtsgesetz selbstverständlich auch im einfachen Gesetzgebungsverfahren durch einfache Mehrheit geändert werden. Auch die Gefahr der schlichten Nichtbefolgung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, welche nur schwer durchgesetzt werden können, ist nicht unrealistisch. Zumindest in dieser Hinsicht entstanden im Fall vom Thüringer Landtag keine Konsequenzen – dem Beschluss des Thüringer Verfassungsgerichtshof wurde Folge geleistet.
Auch wenn die wissenschaftliche Debatte oft in die andere Richtung geführt wird, sich also mit Übergriffen des Bundesverfassungsgerichts in die Kompetenzen des Gesetzgebers beschäftigt, und das Bundesverfassungsgericht mit der alleinigen letzverbindlichen Kompetenz die Verfassung auszulegen dieser Kritik auch offensteht, entfaltet sich diese Kompetenz nur, wenn das Bundesverfassungsgericht auch Entscheidungsgewalt hat. Dadurch, dass aber das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht in dem vergleichsweise einfach abänderbaren Bundesverfassungsgerichtsgesetz steht, liegt es in den Händen des Gesetzgebers zu regeln, ob und insbesondere, wie ein Fall das Bundesverfassungsgericht erreicht. Zwar sind die meisten Verfahrensarten durch das Grundgesetz vorgegeben; Fragen, wie etwa der Ausschluss und die Ablehnung von Richtern und Richterinnen sind dagegen nicht in der Verfassung verbürgt. Freilich ist davon auszugehen, dass das Bundesverfassungsgericht sich gegen allzu abstruse und einseitige Regelungen bei der Ablehnung und dem Ausschluss von Richter*innen zu wehren weiß. Insbesondere bei potenzieller Änderung der Besetzung der Senate stellt sich dann jedoch schon die Frage, in welcher Besetzung das Bundesverfassungsgericht diese Änderung beurteilen kann. Die Antwort auf diese Frage dürfte häufig auch schon die Antwort auf die dann eigentliche Sachfrage sein und würde die Akzeptanz unter Befürwortern der jeweils „unterlegenen“ Seite drastisch reduzieren.
Mögliche weitere Maßnahmen zur Absicherung des Bundesverfassungsgerichts
Eine Möglichkeit das Bundesverfassungsgericht weiter abzusichern wäre es weitere Vorschriften des Bundesverfassungsgerichts in das Grundgesetz zu übertragen und somit unter den Vorbehalt einer verfassungsändernden qualifizierenden Mehrheit zu stellen. In der Diskussion stand etwa „eine qualifizierte anstelle einer einfachen Mehrheit oder die Zustimmung des Bundesrates und/oder des Plenums des Bundesverfassungsgerichts“ für die Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes.
Bei Regelungen im Grundgesetz stellt sich jedoch die Frage, ob dadurch das Grundgesetz nicht mit Regelungen überfrachtet wird, die eigentlich kein Bestandteil einer Verfassung sein sollten. Eine andere Möglichkeit wäre auch die Verankerung der wesentlichen Grundsätze der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs 3 GG.
Auch wenn die Hochzonung wesentlicher Grundsätze auf die Ebene des Grundgesetzes zum Schutz demokratischer Institutionen sinnvoll ist, sollte dies jedoch weiterhin eine Ausnahme bleiben. Man muss sich nämlich auch die Frage stellen, wie demokratisch es ist, einer potenziellen demokratisch gewählten einfachen Mehrheit – und eine solche bräuchte die Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes – Entscheidungen vorzuenthalten, weil man mit dieser potenziellen Mehrheit – aus guten Gründen – nicht übereinstimmt. Schlussendlich ist es auch Teil einer demokratischen Gesellschaft, sich an höheren Standards festhalten zu lassen als die Feinde der Demokratie das tun. Der Versuch, die Demokratie zu schützen, darf also nicht in der Preisgabe demokratischer Werte enden.
Das Problem der begrenzten Durchsetzbarkeit von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts lässt sich – nicht zuletzt aufgrund des Föderalismus und dem erforderlichen grundlegendem Umdenken – nur schwer beheben.
Fazit
Die beabsichtigten und vom Bundestag verabschiedeten Änderungen sind zu begrüßen. Der Prozess darf hier jedoch noch nicht stehen bleiben und es sollte zumindest darüber nachgedacht werden, die noch bestehenden Regelungslücken zu schließen. Das oben beschriebene Problem, in welcher Besetzung das Bundesverfassungsgericht über eine Änderung der Vorschriften der Besetzung zu entscheiden hat, ließe sich, auch ohne Überfrachtung des Grundgesetzes oder Beteiligung der Richter am Gesetzgebungsprozess durch einen Absatz ergänzen, wonach das Bundesverfassungsgericht Änderungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes nach der dann alten Rechtslage beurteilt.
Zitiervorschlag: Schweickhardt, Joos/Schüpferling, Philipp, Die Grundgesetzänderung zur Absicherung des Bundesverfassungsgerichts – Eine effektiv schützende Neuerung?, JuWissBlog Nr. 72/2024 v. 24.10.2024, https://www.juwiss.de/72-2024/
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