von Lea Köhne
Am 01. Oktober griff Israel die aus über 40 Schiffen bestehende Gaza-Hilfsflotte in internationalen Gewässern mit dem Ziel an, das Erreichen des Gaza-Streifens zu verhindern. Der humanitären Hilfsflotte haben sich über 500 Teilnehmer*innen angeschlossen, darunter auch drei deutsche Staatsbürger*innen. Spanien und Italien entsendeten schon vor Tagen Marineeinheiten, um ihre Staatsangehörigen und die Flottille zu schützen. Demgegenüber hält sich Deutschland bedeckt und mahnt zur Einhaltung des Völkerrechts. Besteht eine Pflicht für Deutschland, seine Staatsbürger*innen zu schützen?
Weltweit kamen Demonstrant*innen zusammen, um gegen das Abfangen der humanitären Mission und die Festnahme der Beteiligten zu demonstrieren. Wie auch bei der letzten Gaza Freedom Flotilla mehren sich die Aufrufe, der deutsche Staat müsse diplomatische, konsularische oder politische Mittel ergreifen, um seine Staatsbürger*innen zu schützen. Eine solche Pflicht zum Schutz oder gar zur Rettung von Staatsbürger*innen im Ausland begegnet vor allem einem Problem: dem Ermessensspielraum.
Die Rechtslage vor Ort
Um etwaige Schutzpflichten herauszuarbeiten, bedarf es zuerst einer (kurzen) rechtlichen Einordnung der Situation im Mittelmeer. In Reaktion auf den Wahlsieg der Hamas und den darauffolgenden Bürgerkrieg im Gazastreifen im Jahre 2007 errichtete Israel am 3. September 2009 eine Seeblockade. Ziel ist, die Lieferung militärischer und militärisch nutzbarer Güter zu unterbinden. Mehrmals haben Aktivist*innen erfolglos versucht, diese Blockade zu brechen. So auch die derzeitige Global Sumud Flotilla, die rund 250 Tonnen Hilfsgüter mit sich führte. Ob eine Seeblockade völkerrechtlich zulässig ist, ist umstritten. Jedenfalls ist schon die Besetzung des Gazastreifens völkerrechtswidrig (IGH, Rn. 259 ff.), sodass die Blockade schon aus diesem Grund als rechtswidrig bezeichnet werden könnte.
Nach Art. 87, 89 der Seerechtskonvention gilt grundsätzlich die Freiheit der Hohen See, sodass friedliche Schiffe auf dieser grundsätzlich nicht abgefangen und geboardet werden dürfen. Darüber hinaus sehen Art. 23, 55 und 56 der vierten Genfer Konvention die Verpflichtung vor, ungehinderten Zugang zu humanitärer Hilfe zu gewährleisten. Das Abfangen stellt damit eine völkerrechtswidrige Handlung dar, zu welcher Deutschland nach dem Recht der Staatenverantwortlichkeit keine Unterstützung leisten darf (Art. 16 Draft Articles on the Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts).
Der grundgesetzliche Rahmen
Im Lichte dieser Situation stellt sich die Frage, ob und wenn ja, welche Schutzpflichten den deutschen Staat für die deutschen Besatzungsmitglieder treffen. Obgleich das Grundgesetz vor allem auf deutschem Territorium gilt, endet seine Wirkmacht nicht an der deutschen Grenze. Vielmehr obliegt dem Staat durch die staatsbürgerschaftliche Beziehung ein besonderer Schutzauftrag (s. dazu schon ein früherer Beitrag). Diese Beziehung unterscheidet die extraterritoriale Anwendung des Grundgesetzes im vorliegenden Fall von anderen viel diskutierten Fällen, wie etwa der Rammstein-Entscheidung, bei der es sich um eine sog. Ausland-Ausland-Situation handelt, also einen Fall, in dem ausländische Staatsbürger*innen im Ausland von deutschen Maßnahmen betroffen sind. Das grundgesetzlich garantierte „Schutznetz“ ist im Falle von Staatsbürger*innen wesentlich enger gestrickt.
Solcherlei staatliche Schutzpflichten ergeben sich laut dem BVerfG dann, wenn Rechtspositionen deutscher Staatsbürger*innen im Ausland beeinträchtigt werden und die Grundrechtsinhaber*innen insofern schutzbedürftig sind (vgl. hier, Rn. 23). Bei Gefahr für Leib und Leben im Ausland kann eine Schutzpflicht insbesondere aus Art. 2 II 1 i.V.m. Art. 1 I 2 GG hergeleitet werden. Schwierigkeiten bereitet aber, dass sich aus den Grundrechten regelmäßig keine konkreten Anforderungen an die Art und das Maß des gebotenen Schutzes entnehmen lassen, sodass regelmäßig nur ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung besteht (BVerfG, Rn. 24.) Nach dem für Schutzpflichten anerkannten Untermaßverbot kann sich eine fehlerhafte Ermessensausübung insofern nur daraus ergeben, dass die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat, die getroffenen Maßnahmen offensichtlich gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, um das Schutzziel zu erreichen oder das Handeln auf einem offensichtlichen Rechtsirrtum oder einer willkürlichen Einschätzung beruht (BVerfG, Rn. 18).
Das Auswärtige Amt gibt an, mit der israelischen Regierung in Kontakt gestanden und sie aufgefordert zu haben, völkerrechtliche Pflichten in ihrem Vorgehen einzuhalten, Verhältnismäßigkeit zu wahren und den Schutz aller an Bord Befindlichen unbedingt zu gewährleisten. Darüber hinaus hat Außenminister Wadephul seinen israelischen Amtskollegen auch telefonisch auf diese Forderungen hingewiesen. Demnach hat das Auswärtige Amt intern und öffentlich den Schutz der Besatzungsmitglieder gefordert. In Frage steht, ob diese Handlungen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind.
Konsularrechtliche Konkretisierung
Zur weiteren Präzisierung könnten die einfachgesetzlichen Regelungen zur Schutzpflicht für Staatsbürger*innen im Ausland herangezogen werden, welche sich primär im Konsulargesetz erschöpfen. Insoweit bestimmt § 5 I 1 KonsularG, dass Konsularbeamt*innen „[…] Deutschen, die in ihrem Konsularbezirk hilfsbedürftig sind, die erforderliche Hilfe leisten [sollen], wenn die Notlage auf andere Weise nicht behoben werden kann.“ Mangels Wortlautbegrenzung erfasst die Norm allerlei Arten von Notlagen, wobei die Ursache unerheblich ist (BVerwG, Rn. 13) – die konsularische Hilfe muss jedoch erforderlich sein und unterliegt damit einem Subsidiaritätsvorbehalt (BVerwG, Rn. 5).
Für Katastrophenfälle konkretisiert § 6 KonsularG: „Wenn im Konsularbezirk Naturkatastrophen, kriegerische oder revolutionäre Verwicklungen oder vergleichbare Ereignisse, die der Bevölkerung oder Teilen von ihnen Schaden zufügen, eintreten oder einzutreten drohen, sollen die Konsularbeamten die erforderlichen Maßnahmen treffen, um den Geschädigten oder den Bedrohten, soweit sie Deutsche sind, Hilfe und Schutz zu gewähren.“ Obgleich § 6 III KonsularG die Konsularbeamt*innen zum Anlegen und Pflegen von Listen der Betroffenen verpflichtet, wird nicht dargelegt, wie diese Hilfs- und Schutzgewährung ausgestaltet werden muss.
Während ein intendiertes Entschließungsermessen besteht, spiegelt sich in den Vorschriften das grundgesetzlich weit angelegte Auswahlermessen, das gerade auch in außenpolitischen Kontexten immer wieder von Karlsruhe betont wird (zuletzt etwa hier, Rn. 109), wider. Das Konsulargesetz priorisiert insoweit die Flexibilität bei der Hilfsgewährung.
Selbstgefährdung als Grenze konsularischen Schutzes?
Teils wird jedoch argumentiert, die Besetzungsmitglieder genössen schon aufgrund der in Kauf genommenen Selbstgefährdung keinen konsularischen Schutz. Im gleichen Sinne bekräftigte das Auswärtige Amt in seiner Pressekonferenz erneut, dass es allen Teilnehmer*innen der Flottille dringend geraten habe, von einer Einfahrt nach Gaza abzusehen und die Flottille zu verlassen. Dies begründet es auch mit der seit mehreren Jahren bestehenden Reisewarnung sowie den derzeit stark eingeschränkten konsularischen Möglichkeiten.
Bemerkenswert ist aber insoweit, dass die Schutzgewährung im Konsularrecht gerade nicht durch ein etwaiges „Mitverschulden“ eingeschränkt wird. Begrenzt wird der konsularische Schutz lediglich durch das eingangs erwähnte Erforderlichkeitsgebot einerseits und das Missbrauchsverbot andererseits. Gemäß § 5 VII 1 KonsularG können Hilfeleistungen abgelehnt werden, wenn Hilfesuchende frühere Hilfen missbraucht haben. Was konkret unter Missbrauch zu verstehen ist, bleibt offen. Beachtung muss hierbei erstens finden, dass es sich um eine Reisewarnung, nicht um ein Reiseverbot handelt (s. dazu hier). Zweitens ist die Lieferung von Hilfsgütern völkerrechtlich zulässig und ein Angriff auf zivile Ziele wiederum völkerrechtswidrig (s. dazu oben). Die Inanspruchnahme völkerrechtlich garantierter Freiheiten und die Auflehnung gegen völkerrechtswidrige Zustände durch den Ausschluss konsularischen Schutzes zu sanktionieren, würde zu einem Wertungswiderspruch zwischen der nationalen und völkerrechtlichen Regelungsebenen führen. So kann zwar von einer etwaigen Selbstgefährdung ausgegangen werden, die Bejahung eines Missbrauchs erscheint in Anbetracht dessen jedenfalls fernliegend. Auch an der Erforderlichkeit der Hilfe ist hier nicht zu zweifeln – als humanitäre Mission können sich die Besatzungsmitglieder weder gegen das Abfangen noch gegen das Boarden oder die Festnahme aus eigener Kraft wehren.
Darüber hinaus schafft Satz 2 eine – insbesondere für diesen Fall relevante – Rückausnahme: Eine Ablehnung der Hilfe wegen Missbrauchs bleibt außer Betracht, wenn zu befürchten ist, dass der*die Betroffene im Falle der Ablehnung einen ernsten Nachteil an Leib, Leben oder Gesundheit erleiden würde. Damit liegt auch ein konsularrechtlicher Anspruch auf Schutzgewährung vor, dessen Reichweite aber weitestgehend offen ist.
Mögliche Handlungsalternativen
Mit Blick auf den Ermessensspielraum scheint der Staat in der Wahl der Mittel weitestgehend frei zu sein. Indes kann die Schutzgewährung nicht nur durch konsularische Mittel im engeren Sinne erfolgen. So legt § 1 II Gesetz über den Auswärtigen Dienst (GAD) das Hilfeleisten und den Beistand für Deutsche im Ausland als Aufgabe des Auswärtigen Dienstes fest – und zwar unabhängig von den in § 1 IV GAD explizit und seperat genannten Aufgaben des Konsulargesetzes. Der Schutz von Staatsbürger*innen ist demnach weiter und kann ebenso durch diplomatische oder politische Mittel erfolgen. Der Bundesrepublik steht damit ein bunter Blumenstrauß an Mitteln zur Verfügung, die sich auf verschiedenen Eskalationsstufen befinden. So ist etwa die Einbestellung des*der Botschafter*in ein häufiges diplomatisches Druckmittel (so z.B. in Belgien geschehen). Teils wurde auch auf den Einsatz militärischer Mittel verwiesen und ein Vergleich zur ATALANTA-Operation der Europäischen Union bemüht, dessen Ziel es u.a. auch ist, Hilfslieferungen zu sichern. Der Einsatz militärischer Mittel stößt aber schon mit Blick auf den wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt auf Bedenken – ohne Bundestagsmandat wäre ein Einsatz schon verfassungsrechtlich nicht möglich.
Ob die Mahnung im Einzelfall gänzlich ungeeignet oder unzulänglich ist, lässt sich im Einzelfall schwer beurteilen. Nicht zuletzt, weil auch das schärfste diplomatische oder politische Schwert keine Erfolgsgarantie bietet. Zur Auswahl des „ausreichenden“ Mittels kann aber zum einen auf die konkrete Art der Gefährdung im Einzelfall und die Gesamtumstände abgestellt werden. So handelt es sich hier nicht nur um einen Katastrophenfall i.S.d. § 6 KonsularG, also z.B. eine Naturkatastrophe, sondern um einen potentiell völkerrechtswidrigen Akt, der deutsche Staatsbürger*innen im Ausland gefährdet (etwa durch den Einsatz von Wasserwerfern und Drohnen, Beschädigung der Schiffe, Störung des Funks etc). Insofern erscheint die reine Mahnung als Mittel der geringsten Eskalationsstufe – auch im europäischen Vergleich – als ungeeignet.
Fazit
Deutschland ist zu einem Mindestmaß an Schutzgewährung verpflichtet, wobei es einen weiten Ermessensspielraum genießt. Die Auswahl der Mittel ist vorliegend in zweierlei Hinsichten beschränkt: Mit Blick auf den Parlamentsvorbehalt ist ein militärisches Eingreifen abzulehnen. Gleichzeitig muss sich die öffentliche Gewalt am Untermaßverbot messen lassen. Mit Blick auf die Art und Weise der gefährdenden Handlung erscheint es untunlich, sich lediglich auf Mahnungen und Hinweise zu beschränken. Gleichzeitig sollte daran erinnert werden: Sinn und Zweck des Konsularrechts ist nicht die politische Mobilisierung, sondern die Gewährleistung eines Minimalschutzes im Ausland.
Zitiervorschlag: Lea Köhne, Schutz(pflichten) in internationalen Gewässern? Ein nationalrechtlicher Blick auf den Schutz der Global Sumud Flotilla, JuWissBlog Nr. 91/2025 v. 06.10.2025, https:/www.juwiss.de/91-2025/
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