Verschärfung des Ordnungsrechts im Bundestag

von RICO NEIDINGER

Heute entscheidet der Bundestag über die seit 1980 grundlegendste Reform seiner Geschäftsordnung. Neben bedeutsamen Neuregelungen wie etwa die Abwahlmöglichkeit der Vizepräsidenten (§ 2a IV GOBT) oder einer eigenen Regelung zum Gruppenstatus (§ 10a GOBT) kommt es auch zu grundlegenden Änderungen bei den Ordnungsmitteln, die der Beitrag vorstellt und einordnet, denn Streit ist vorprogrammiert!

Neues altes Ordnungsrecht?

Gleich blieb der Regelungsort des Ordnungsrechts. Die Regelungen finden sich in den §§ 36 ff. GOBT und überflüssigerweise teilweise parallel in § 44e Abgeordnetengesetz (Neidinger, BayVBl. 2024, 253/261f.). Neu ist die „klarstellende“ (S. 75) ausdrückliche Ermächtigung des sitzungsleitenden Präsidenten.

Sach- und Ordnungsruf

§ 36 GOBT enthält in Absatz 1 Regelungen zum Sach- und in Absatz 2 Regelungen zum Ordnungsruf. Durch die Neufassung sind beide Maßnahmen nunmehr regelungstechnisch klar getrennt. Beim Sachruf wurde ausdrücklich neu aufgenommen, dass künftig auch wer Erklärungen zur Geschäftsordnung, zur Abstimmung oder außerhalb der Tagesordnung zweckwidrig nutzt, zur Sache gerufen werden kann. Zweckwidrig dürften insbesondere bei der Erklärung zur Geschäftsordnung allgemeinpolitische Ausführungen sein. Ein dreimaliger Sachruf während einer Rede führt zum zwingenden Wortentzug für den gesamten Verhandlungsgegenstand. Entfallen ist der früher erforderliche Hinweis auf den Automatismus mit der Begründung der Entbehrlichkeit wegen der zunehmenden Häufigkeit der Ordnungsmittel (S. 75).

Deutlich verschärft wurde die Sanktion bei einem dreimaligen Ordnungsruf. Dieser wurde bisher gleich wie der Sachruf sanktioniert. Nunmehr ist er erstens in zeitlicher Hinsicht ausgedehnt: Nicht mehr eine Rede, sondern eine Sitzung ist für die Summierung entscheidend. Zweitens wurde die Sanktion geändert: Es erfolgt künftig zwingend ein Sitzungsausschluss, § 36 II 3 GOBT. Dabei ist es etwas irreführend, dass die Überschrift von § 36 GOBT noch den alten Dreiklang „Sach- und Ordnungsruf, Wortentziehung“ enthält. Wegen der schwerwiegenden Sanktion ist hier durch verfassungskonforme Auslegung nach dem zweiten Ordnungsruf ein Hinweis auf die Folge eines weiteren Ordnungsrufes zur Warnung angezeigt.

Absatz 3 stellt klar, dass ein Ordnungsruf im Einzelfall auch nachträglich bis zum Ende des auf die Verletzung folgenden dritten Sitzungstages erlassen werden kann. Die zeitliche Grenze für die nachträgliche Sanktion ist zu befürworten, auch wenn die nachträgliche Sanktionierung generell problematisch ist (Neidinger, aaO 258f.). Wie wirksam der Hinweis auf eine eingeschränkte Anwendung in der Entwurfsbegründung (S. 76) ist, wird die Praxis zeigen. Bedauerlich ist, dass der Bundestag sich explizit gegen die Aufnahme des in der Praxis üblichen Vorbehalts einer nachträglichen Sanktionierung in der Sitzung entschieden hat.

Ordnungsgeld

Eine hervorzuhebende Neuerung in § 37 GOBT ist zunächst der in Absatz 1 Satz 1 enthaltene Automatismus: Ist ein Abgeordneter innerhalb von drei Sitzungswochen gemäß § 36 II oder III dreimal zur Ordnung gerufen worden, setzt der sitzungsleitende Präsident mit dem Erlass des dritten Ordnungsrufes zugleich ein Ordnungsgeld gegen das Mitglied fest (Vorschlag bereits bei Neidinger, aaO, 262). Dies gilt nach § 37 I 2 GOBT nicht, sofern gegen das Mitglied bereits ein Sitzungsausschluss aufgrund dreimaligen Ordnungsrufs in einer Sitzung ausgesprochen wurde. Wegen des langen Zeitraums ist auch hier zur Gewährleistung der Warnfunktion ein vorheriger Hinweis nach dem zweiten Ordnungsruf notwendig.

Noch ungeklärt ist die Frage, ob der Sitzungsausschluss gem. § 36 II 3 GOBT alle vorherigen Ordnungsrufe „resettet“ oder nur die drei, die unmittelbar Anlass für den Ausschluss waren. Am Beispiel erläutert: Ein Abgeordneter wird in der ersten Sitzungswoche zwei Mal zur Ordnung gerufen. In der zweiten Sitzungswoche kassiert er in einer Sitzung drei Ordnungsrufe und in Folge einen Sitzungsausschluss. In der dritten Woche wird der Abgeordnete erneut zur Ordnung gerufen. Hat der Ordnungsruf nunmehr automatisch ein Ordnungsgeld gem. § 37 I GOBT zur Folge? Sinn und Zweck der Regelung spräche für eine Verhängung des Ordnungsgelds. Wegen des Wortlauts von § 37 I 2 GOBT („Dies gilt nicht“) und der Regelungssystematik (Abstellen auf die „Maßnahme nach § 36 Absatz 2 Satz 3“) ist dies aber nicht möglich. Hätte der Bundestag nur ein „Abzug“ der drei Ordnungsrufe innerhalb einer Sitzung gewollt, so wäre eine ausdrückliche Regelung nötig gewesen, was ohne Weiteres möglich gewesen wäre: „Bei der Zählung nach S. 2 sind Ordnungsrufe, wegen der eine Maßnahme nach § 36 II 3 erfolgte, nicht zu berücksichtigen“. Für diese Ansicht spricht auch der nicht unerhebliche Eingriffscharakter in das Abgeordnetenrecht.

Die bisher in § 37 I GOBT vorgesehene Möglichkeit, wegen einer nicht nur geringfügigen Verletzung der Ordnung oder der Würde mittelbar ein Ordnungsgeld zu verhängen, ist unverändert nunmehr in Absatz 2 vorgesehen.

§ 37 III GOBT enthält künftig die Regelung zur Höhe des Ordnungsgelds. Der Bundestag hält anders als etwa der Bayerische Landtag an absoluten Werten fest, die er verdoppelt hat: zunächst 2.000 € und im Wiederholungsfall 4.000 €. Der Fixbetrag erscheint mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit nicht unproblematisch (Neidinger, BayVBl. 2025, 109/114). Begründet wird die Erhöhung nicht zuletzt mit dem Argument, dass die bisherigen Beträge wegen der zwischenzeitlichen Erhöhungen bei der Abgeordnetenentschädigung zu dieser in keinem angemessenen Verhältnis mehr stehen (S. 2).

Die ausdrückliche Bezugnahme auf die Absätze 1 und 2 sowie das Einfügen des Wortes „jeweils/jeweiligen“ sprechen dafür, dass sich der Widerholungsfall nur auf den konkreten Absatz bezieht, d.h. dass nach einem Ordnungsgeld wegen dreimaligen Ordnungsrufs innerhalb dreier Sitzungswochen das Ordnungsgeld wegen nicht nur geringfügiger Verletzung der Ordnung oder Würde kein Wiederholungsfall darstellt. Nur ein erneutes Ordnungsgeld wegen dreimaligen Ordnungsrufs führt zu einer Erhöhung auf 4.000 €.

Sitzungsausschluss

Überschaubarer sind die Änderungen beim Sitzungsausschluss gem. § 38 GOBT. Neu aufgenommen wurde in § 38 I 4 GOBT die Möglichkeit, im begründeten Einzelfall dem ausgeschlossenen Mitglied die Teilnahme an geheimen Wahlen und namentlichen Abstimmungen zu ermöglichen. Damit nimmt der Bundestag eine Regelung auf, um den teilweise in der Literatur (Gerberding, JURA 2021, 265/270) geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken am Sitzungsausschluss zu begegnen.

Klarer geregelt wurde das Verfahren, das zu befolgen ist, wenn ein Abgeordneter nach einem Sitzungsausschluss der Verlassensaufforderung nicht nachkommt. Bleibt der Hinweis, dass sich der Abgeordnete eine Verlängerung des Ausschlusses zuzieht, ohne Wirkung, unterbricht der sitzungsleitende Präsident die Sitzung und lässt den Ausschluss durchsetzen. Das dürfte nötigenfalls den Einsatz der Bundestagspolizei einschließen. Nach Wiedereröffnung der Sitzung hat der sitzungsleitende Präsident über die Dauer der Verlängerung des Ausschlusses zu befinden. Eine Zulassung zur Teilnahme an geheimen Wahlen und namentlichen Abstimmungen ist nicht möglich.

Einspruch

Hinsichtlich des Einspruchs in § 39 GOBT sind die neu aufgenommenen zeitlichen Konkretisierungen begrüßenswert. Der Einspruch ist bis zum Beginn der nächsten Plenarsitzung beim Präsidenten einzulegen, der ihn spätestens auf die Tagesordnung der übernächsten Sitzung zu setzen hat, sofern der sitzungsleitende Präsident dem Einspruch nicht abhilft. Letzteres ist wiederum eine Neuerung.

Ordnung in den Ausschüssen

Auch weiterhin steht dem Ausschussvorsitzenden – anders als in Bayern – die Ordnungsrechte des sitzungsleitenden Präsidenten nach §§ 36 ff. GOBT nicht zu (S. 79). § 59 Absatz 4 Satz 1 GOBT regelt nunmehr, dass der Ausschussvorsitzende die Abgeordneten unterhalb der Schwelle formeller Ordnungsmaßnahmen (S. 80) – zur Einhaltung der parlamentarischen Ordnung ermahnen kann. Ist der ordnungsgemäße Ablauf einer Sitzung nicht mehr gewährleistet, kann der Vorsitzende gem. § 59 IV 2 die Sitzung unterbrechen oder im Einvernehmen mit den Fraktionen im Ausschuss beenden. Das wird als formelle ordnungsrechtliche Kompetenz eingeordnet (S. 80). Wurde die Sitzung aufgrund einer „gröblichen Verletzung der Ordnung oder der Würde“ des Bundestages durch einen Abgeordneten unterbrochen, kann der Vorsitzende mit Zustimmung von mindestens zwei Dritteln der anwesenden Ausschussmitglieder den Abgeordneten von der Sitzung ausschließen.

Prozessuale Folgen

Interessant zu beobachten wird sein, wie sich die ausdrückliche Ermächtigung des sitzungsleitenden Präsidenten anstelle des Bundestagspräsidenten auf die Passivlegitimation im verfassungsgerichtlichen Verfahren auswirkt. Die bisher h.M. geht nach einer eigenständigen Festlegung des BVerfG davon aus, dass der Bundestagspräsident richtiger Antragsgegner in einem Organstreitverfahren ist. Bereits unter der vorherigen Rechtslage wäre es zutreffender, den Bundestag als Inhaber der Ordnungsgewalt als Antragsgegner zu sehen (Neidinger, BayVBl. 2024, 253/254f.). Das gilt erst recht nach der erfolgten Änderung. Andernfalls müsste der jeweilige sitzungsleitende Präsident Antragsgegner sein. In diesem Fall ist die einheitliche Anwendung des Ordnungsrechts zumindest gefährdet. Auch mit Blick auf die dem Bundestag über den Einspruch zugewiesene Letztentscheidungskompetenz, der zwingende Voraussetzung für den Gang nach Karlsruhe ist, wäre es nur konsequent, den Antrag gegen den Bundestag zu richten.

Fazit

Im Rahmen seiner großen Geschäftsordnungsreform hat nunmehr auch der Bundestag sein Ordnungsrecht erheblich nachgeschärft. Ob damit tatsächlich eine Rückkehr zu einer gedeihlichen und sachorientierten Auseinandersetzung im politischen Streit gelingt, wird abzuwarten sein.

 

Zitiervorschlag: Neidinger, Rico, Verschärfung des Ordnungsrechts im Bundestag, JuWissBlog Nr. 95/2025 v. 16.10.2025, https://www.juwiss.de/95-2025/

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