von SAMUEL MICHEL
Die Maskenaffäre um Jens Spahn hat das mediale Sommerloch überlebt und die parlamentarische Opposition beharrt weiter auf einen Untersuchungsausschuss nach Art. 44 GG. Grüne und Linke benötigen dafür aber neun Stimmen aus den Regierungsfraktionen, da eine Zusammenarbeit mit der rechtsextremen AfD ausgeschlossen ist: die Brandmauer. Was nach einem gewöhnlichen Wahlergebnis klingt, entpuppt sich als Nebenwirkung der Fünfprozenthürde und Gefahr für die Gewaltenteilung. Der Bundestag sollte daher nach dem Vorbild von 2013 der Opposition erneut Untersuchungsausschüsse ermöglichen.
Untersuchungsausschüsse sind das wirkungsvollste Mittel der Regierungskontrolle. Nicht umsonst werden sie als „schärfstes Schwert“ der Opposition bezeichnet, da sie Beweise mit den Mitteln des Strafprozesses erheben können, gem. Art. 44 Abs. 2 S. 1 GG. Im Maskenfall ließen sich so etwa die Vorwürfe aus dem Sudhof-Bericht durch Aktenvorlage und Zeug:innenvernehmung endgültig aufarbeiten. Die eingesetzte Enquete-Kommission dient hingegen der Vorbereitung von Entscheidungen gem. § 56 GO-BT und kann dies nicht leisten.
Daraus ergibt sich ein verfassungspolitisches Problem, da Art. 44 GG bewusst als Minderheitenrecht ausgestaltet wurde. Der Bundestag ist gezwungen, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, wenn ein Viertel der Abgeordneten es beantragt. Dies entspringt dem Gedanken, dass die entscheidende Trennlinie der Gewaltenteilung nicht mehr zwischen Volksvertretung und königlicher Regierung verläuft, sondern zwischen regierungstragender Parlamentsmehrheit und oppositioneller Minderheit. Auch wenn interne Kritik der Regierungsmehrheit keinesfalls unterschätzt werden darf, hat nur die Opposition ein natürliches Interesse an öffentlicher Aufklärung und politischen Konsequenzen, da sie selbst Mehrheiten erlangen will. Fraktionsübergreifende Kontrolle wird zudem durch die Fraktionsdisziplin weitgehend verhindert. Wenn das zentrale Kontrollrecht nun aber politisch-faktisch nicht mehr genutzt werden kann, entsteht ein fehlerhaftes Verhältnis zwischen Mehrheitsprinzip und effektiver Opposition.
Der Präzedenzfall 2013–2017
In der jüngeren Geschichte ist diese Situation allein mit dem 18. Bundestag (2013-2017) vergleichbar, als die Große Koalition eine Mehrheit von 80 % der Abgeordneten hinter sich hatte. Es war damit bereits zahlenmäßig der Opposition verwehrt, Art. 44 GG alleine zu erreichen. Im Ergebnis bestand aber damals wie heute faktisch keine Möglichkeit für oppositionsgetragene Untersuchungsausschüsse.
Mit diesen Aussichten entstand 2013 eine Diskussion, ob den Oppositionsfraktionen nicht spezifische Rechte zustehen müssten für die Regierungskontrolle. Das Bundesverfassungsgericht entschied daraufhin, dass die zu kleine Opposition keinen Anspruch auf Anpassung der Minderheitenrechte habe. Das Grundgesetz kenne von vornherein keine „Opposition“ als organisierte Einheit und spezifische Oppositions(fraktions)rechte würden gegen das freie Mandat aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verstoßen. Opposition sei vielmehr das individuelle Recht aller Abgeordneten, die Regierung zu kontrollieren und zu kritisieren. Ob und wie die einzelnen Mandatsträger:innen die Funktion wahrnehmen, stehe in ihrer eigenen Verantwortung.
Obwohl dies auch der Auffassung der damaligen Regierung entsprach, beschloss der Bundestag nach einer Debatte über seine politische Kultur § 126a Abs. 1 Nr. 1 GO-BT a.F. Dieser gestand der Opposition das Einsetzungsrecht von Untersuchungsausschüssen zu, indem das Quorum für die Legislaturperiode auf etwa 19 % abgesenkt wurde. Exemplarisch begründete es Dr. Heck (heute im CDU-Bundesvorstand): „Wir tun das nicht aus Großzügigkeit, sondern […] aus Überzeugung, weil […] zu einer funktionierenden Demokratie eine starke, hörbare und sichtbare Opposition [gehört].“
Die Fehlwirkung der Sperrklausel
Eine weitere Ähnlichkeit zur damaligen Situation liegt in der außerordentlich hohen Zahl an Stimmen, die an der Fünfprozenthürde gescheitert sind. 2013 ein Rekord von 15,7 % und zuletzt 13,7 %, was zu einer Verzerrung der Kräfteverhältnisse führt. Im aktuellen Bundestag haben alle erfolgreichen Parteien dadurch 1,16-fach so viele Sitze erreicht, wie ihnen nach Stimmen zugestanden hätten (§ 4 Abs. 2 BWahlG). Bereits große Parteien profitieren davon aber in absoluten Zahlen am stärksten. Die Große Koalition konnte so 52 % der Sitze erlangen, obwohl sie nur 45 % der Stimmen gewann; die grünlinke Opposition hingegen wuchs von 20,4 % nur auf 23,7 %. Je mehr Stimmen an der Sperrklausel scheitern, desto stärker vergrößern sich große Parteien künstlich und fallen potentielle Oppositionsparteien weg, um das fixe Quorum zu erreichen. Die vereinfachte Mehrheitsbildung ist intendiert, sollte jedoch nicht mit einer geringeren parlamentarischen Kontrolle einhergehen.
Diese Fehlwirkung wurde eindrücklich in Beckermann/Weidemann, Der Staat (53) 2014, 313 herausgearbeitet. Dort wird vorgeschlagen, ein flexibles Quorum zu berechnen, das diesen Effekt tilgt. Die Idee dahinter ist, dass alle gescheiterten Parteien theoretisch das systemimmanente Kontrollinteresse von Nichtregierungsparteien haben. Deswegen wird der Sitzanteil der erfolgreichen Opposition ins Verhältnis zum Stimmanteil aller Nichtregierungsparteien gesetzt, womit das Quorum aktuell bei 21,8 % liegen müsste. Damit wäre es für beide Oppositionslager erreichbar und die Fünfprozenthürde stellt sich als Zünglein an der Waage heraus.
Bedeutung erlangen diese Überlegungen zudem mit Blick auf den historischen Willen des Grundgesetzes. Der Parlamentarische Rat erhöhte das Quorum von einem Fünftel auf ein Viertel, nachdem man sich explizit gegen eine Sperrklausel bei den Bundestagswahlen entschieden hatte; man hielt den Erlass einer solchen Regelung sogar für verfassungswidrig. Die Fünfprozenthürde wurde erst später durch die Ministerpräsidenten eingeführt (vgl. Meyer, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. III 2005, § 46 Rn. 36 ff.). Zusammen erschweren Sperrklausel und erhöhtes Quorum die Regierungskontrolle jedoch unangemessen.
Heutiger Regelungsbedarf
Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist höchstrichterlich entschieden, dass zu kleine Oppositionen dogmatisch hinzunehmen sind. Nichtsdestoweniger bleibt das Defizit der Gewaltenteilung, weil regierungskritische Untersuchungsausschüsse damals wie heute faktisch unmöglich sind. Die aktuelle Opposition ist zwar sichtbar, jedoch braucht sie das formale Kontrollinstrument aus Art. 44 GG für Aufklärung und Abschreckung. In der laufenden Legislatur sollte deshalb das Quorum erneut demokratiefunktional angepasst werden, womit auch die Verzerrung der Fünfprozenthürde ausgeglichen wäre. Neben § 126a Abs. 1 Nr. 1 GO-BT a.F. sollte dabei auch § 2 Abs. 3 UAG-BW als Vorbild erwogen werden, der in ähnlicher Situation entstand. So könnten zwei Fraktionen, unabhängig ihrer Größe, das Quorum ebenfalls erreichen, als qualitativer Ausgleich zur quantitativ geringeren Höhe.
Bis dahin sollte aber die aktuelle Notwendigkeit eines Untersuchungsausschusses „Masken“ nicht vergessen werden. Wenn Machtmissbrauch und außergewöhnlich teure Fehlentscheidungen im Raum stehen, darf die oppositionelle Aufklärung nicht vom Wohlwollen der Mehrheit abhängig sein. Es liegt in der staatspolitischen Verantwortung der Regierungsfraktionen, den Ausschuss zu ermöglichen, ohne dabei eine rechtsextreme Partei zu normalisieren. In diesem Sinne sollte die Brandmauer nicht nur eine Abgrenzung sein, sondern konstruktiv eine effektive Opposition garantieren, wie sie jede liberale Demokratie benötigt.
Zitiervorschlag: Michel, Samuel, (Kein) Untersuchungsausschuss Masken: Wenn Minderheitenrechte ins Leere laufen, JuWissBlog Nr. 96/2025 v. 21.10.2025, https://www.juwiss.de/96-2025/
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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Der Beitrag ist interessant, ignoriert aber, dass – im Gegensatz zum 18. Bundestag – diesmal eine ausreichend große Opposition vorhanden ist. Im 18. Bundestag hätten die Oppositionsparteien zu keinem Zeitpunkt das notwendige Quorum ohne Hilfe der Regierungsfraktionen erreichen können. Im jetzigen Bundestag kann die Opposition aus derzeit LINKE, Grüne und AfD ohne die Regierungsfraktionen den Untersuchungsausschuss einsetzen. Dass die Fraktionen LINKE und Grüne diese Möglichkeit nicht wahrnehmen wollen, weil sie nicht mit der AfD zusammen arbeiten wollen, ist zwar deren gutes Recht. Es führt aber – im Gegensatz zum 18. Bundestag – dazu, dass die Nichteinsetzung eines Untersuchungsausschusses aus eigener politischer Haltung erfolgt, nicht aufgrund dessen, dass schon rein rechnerisch nicht genügend Stimmen aus den Oppositionsfraktionen vorhanden wären. Dies ist ein selbst geschaffenes Problem von LINKEn und Grünen, rechtfertigt aber nicht die Änderung der Quoren.
Natürlich ist das stärkste Gegenargument, dass es 2013 „bereits zahlenmäßig der Opposition verwehrt [war], Art. 44 GG alleine zu erreichen“, wie ich schreibe. Aber im Kontext der BVerfG-Entscheidung verliert die Größe der Opposition jedoch an Bedeutung und es ist vielmehr die faktische Unmöglichkeit regierungskritischer U-Ausschüsse, die damals wie heute problematisch ist.
Zudem halte ich die Brandmauer nicht für eine gewöhnliche politische Haltung von Grünen und Linken.
Zum einen stellt sie derzeit einen Konsens aller demokratischen Fraktionen dar, wäre somit also ein gemeinsam geschaffenes „Problem“.
Zum anderen bezweckt sie, eine jedenfalls in Teilen verfassungsfeindliche Partei nicht zu legitimieren und zu normalisieren. Das deckt sich mit dem Parlamentarischen Rat, der mit der Erhöhung des Quorums in Art. 44 GG gerade die Obstruktion durch verfassungsfeindliche Minderheiten erschweren wollte. Die AfD ist bekannt für ihre Instrumentalisierung parlamentarischer Mittel, siehe z.B. Heinze, Parlament als Bühne, Verfassungsblog v. 7.2.24. Ich halte es für überaus wichtig für unsere Demokratie, dass die Brandmauer hält und trotzdem ein reguläres Parlamentsleben funktionieren kann – mit U-Ausschüssen.