von JAN NIERMANN
Trotz ihres historisch schlechten Wahlergebnisses konnte die SPD sieben Ministerien für sich beanspruchen und wesentliche sozialdemokratische Forderungen im Koalitionsvertrag durchsetzen, während die AfD als zweitstärkste Fraktion nicht einmal einen stellvertretenden Bundestagspräsidenten stellen darf. Es verbleibt der Eindruck, dass Regierungsbildung und Regierungsprogramm nur noch wenig mit dem Wahlergebnis zu tun haben. Warum der für eine Demokratie legitimationsstiftende Zusammenhang zwischen dem Wahlverhalten der Mehrheit und der politischen Realität gerade in Deutschland besonders gefährdet ist und wie er möglicherweise wiederhergestellt werden kann, soll der Beitrag im Folgenden herausarbeiten.
Die neue Regierung steht, der Kanzler ist gewählt. Die Diskussionen um den Koalitionsvertrag und die Zusammensetzung der kommenden Regierung haben nun ein vorläufiges Ende gefunden. Zuvor überschatteten sie das, was sich am 23. Februar, dem Tag der Bundestagswahl, beinahe ereignet hätte. Die Bundesrepublik trennte von der faktischen Unregierbarkeit nur ca. 14.000 Stimmen. Diese wären für den Einzug des BSW in den Bundestag erforderlich gewesen, was fast dazu geführt hätte, dass mit Schwarz-Rot-Grün die in der Bevölkerung unbeliebteste Koalition die einzige Regierungsoption gewesen wäre. In der öffentlichen und Teilen der veröffentlichten Meinung war die Frustration darüber zu beobachten, dass unabhängig vom Wahlergebnis, die Regierungsbildung stets durch die gleichen Parteien – nur in unterschiedlichen Zusammenstellungen – erfolgt und das Wahlverhalten hierauf scheinbar wenig Einfluss zu haben scheint. Zunächst ist es nicht verwunderlich, sondern gerade im Staatssystem des Grundgesetztes angelegt, dass die wichtigsten Parteien Kompromisse schließen müssen. Dies folgt aus dem parlamentarischen Regierungssystem mit Verhältniswahlrecht, dem daraus folgenden faktischen Koalitionszwang und obendrein den zwei Kammern, deren zweite ebenfalls aus Vertretern von Koalitionären, nur eben aus der Ebene der Länder, besteht. Dieses System setzt für seine Funktionsfähigkeit allerdings voraus, was die Bundesrepublik lange Zeit hatte: eine überschaubare Anzahl an im Bundestag vertretenen Parteien sowie deren grundsätzliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit.
Fast wären in den 21. Deutschen Bundestag acht Parteien eingezogen, von denen jede bestimmte Koalitionen von Anfang an ausschloss: die CSU mit den Grünen, die CDU und CSU mit der Linkspartei, die FDP ebenfalls mit den Grünen, alle mit der AfD. Die meisten Parlamentarier atmeten deshalb erleichtert auf, als am frühen Morgen des 24. Februar bekannt gegeben wurde, dass neben der FDP auch das BSW nicht im 21. Bundestag vertreten sein wird. Der für die Handlungsfähigkeit des Staates befürchtete worst case ist ausgeblieben. Ein bitterer Beigeschmack bleibt dennoch. Wenn die Stimme am Ende keinen wahrnehmbaren Einfluss mehr auf die Regierungsbildung und die Durchsetzungsfähigkeit der gewählten Partei hat, wird der Wahlakt wertlos und die repräsentative Demokratie verliert ihre vorverfassungsrechtliche Legitimationsquelle.
I. Der fehlende integrative Faktor
Die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft macht vor dem deutschen Parlamentarismus keinen Halt. Diese Beobachtung ist isoliert selbstverständlich keine neue – nicht ohne Grund wird seit Jahren vom „Ende der Volksparteien“ gesprochen. Der beinahe eingetretene Grad der Zersplitterung gemeinsam mit den daraus folgenden politischen Konsequenzen offenbart jedoch nun ausdrücklich ein Problem des parlamentarischen Regierungssystems mit Verhältniswahlrecht: es fehlt der integrative Faktor.
Im Parlamentarismus existiert keine politisch einflussreiche exekutive Position, die eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen direkt auf sich vereinen muss. Dies ist in präsidentiellen Regierungssystemen, wie etwa in den USA, Brasilien oder Südkorea, oder auch in semi-präsidentiellen Systemen, wie z.B. in Frankreich oder auch der Ukraine, grundlegend anders. Während in Zweiparteien-Systemen wie den USA der erfolgreiche Präsidentschaftskandidat auch typischerweise die Mehrheit der abgegebenen Stimmen (popular vote) auf sich vereint, wird dies in Frankreich durch eine Stichwahl sichergestellt. Im Ergebnis integrieren die Regierungschefinnen und -chefs Stimmen aus verschiedenen individuell-politischen Strömungen und verfügen damit über eine Legitimation, die über viele Untergruppierungen hinausgeht und vor einer bedeutsamen Zersplitterung der politischen Kräfte in mehr als zwei Lager schützt.
Dieser integrative Faktor lässt sich jedoch auch in parlamentarischen Regierungssystem wiederfinden, jedenfalls bei solchen mit Mehrheitswahlsystem. So führt das sog. first past the post System in Großbritannien dazu, dass trotz einer ähnlich pluralisierten Gesellschaft wie in Deutschland fast immer eine handlungsfähige Regierungsmehrheit gefunden wird. Kleinere Parteien werden mangels Erfolgsaussicht, die (relative) Mehrheit zu erringen, weniger gewählt, was umgekehrt dazu führt, dass die Parteien die Interessen breiterer Bevölkerungsschichten integrieren müssen. Ähnlich ist dies in den ehemaligen britischen Kronkolonien Kanada und Indien.
In der Bundesrepublik besteht keiner dieser integrierenden Faktoren. Einzig die 5%-Hürde ist als Versuch zu werten, auf die Fragmentierung der Parteienlandschaft – wie sie insbesondere während der Weimarer Republik zu beobachten war – zu reagieren. Ob dieser angesichts der beschriebenen Entwicklung nachhaltig als Erfolg zu bewerten ist, kann berechtigterweise angezweifelt werden. Immerhin beruhte die Zersplitterung des Reichstages in der Zeit von 1919-1933 im Schnitt auf 8-9 Fraktionen im Parlament, sodass im Fall des Einzugs von BSW und FDP man ausnahmsweise zu Recht von „Weimarer Verhältnissen“ hätte sprechen können. Der fehlende Integrationsmechanismus von Wahlstimmen führt in einer immer individueller werdenden Gesellschaft zu einer zunehmenden Anzahl politischer Parteien mit ernstzunehmender Relevanz, auch in der Regierung.
Doch wie steht es um die anderen Länder mit parlamentarischen Regierungssystem und Verhältniswahlrecht? Ein Blick nach Italien verrät, dass sich auch dort der fehlende Integrationsmechanismus niederschlägt. Seit 1946 gab es in Italien, dessen Regierungssystem dem deutschen sehr nahe ist, über 60 Regierungen. Die Durchschnittsamtszeit von italienischen Ministerpräsidenten beträgt ca. ein Jahr. Sicherlich tragen italienische Besonderheiten dazu bei, etwa die geringe Parteibindung von Wählern und insbesondere von Abgeordneten, sowie das Fehlen eines konstruktiven Misstrauensvotums. Auch deshalb wird das Problem in Italien aktiv thematisiert. So fordert die Regierungspartei Frateli d’Italia seit langem eine umfassende Staatsreform mit dem Ansatz, der relativ größten Parlamentsfraktion künstlich zu einer absoluten Mehrheit zu verhelfen, um eine effektive Regierungsmehrheit zu garantieren. Zwar erscheint diese Reformforderung aus deutscher Sicht eher autoritär und wenig kohärent, allerdings bleibt die Erkenntnis, dass das Problem des parlamentarischen Verhältniswahlrechtsystems mit der modernen individualisierten Gesellschaft aktiv adressiert wird.
II. Die „Brandmauer“
Im Vergleich zu sonstigen Staaten mit parlamentarischem System und Verhältniswahlrecht tritt in Deutschland jedoch noch ein weiterer Faktor hinzu, der die Regierungsbildung verkompliziert und sie daher aus Wählersicht teilweise willkürlich erscheinen lässt: Die sog. Brandmauer. Aus guten Gründen ist es bislang politischer Konsens, dass mit Parteien am rechten Rand des politischen Spektrums nicht zusammengearbeitet wird. Dennoch führt sie dazu, dass auf absehbarer Zeit die CDU/CSU-Fraktion zur Regierungsbildung nur Mehrheiten links der Mitte suchen muss und eine mehrheitlich rechts der Mitte wählende Bevölkerung eine tendenziell linke Regierung erhält. Diese Tendenz wäre bei Einzug des BSW noch weitaus extremer gewesen. Auch im tatsächlichen Fall der sich anbahnenden Koalition zwischen SPD und CDU/CSU stärkte die Brandmauer erheblich die Verhandlungsposition des eigentlichen sozialdemokratischen Wahlverlierers. Es wird folglich nicht nur der Zusammenhang zwischen Wahlergebnis und Regierungsbildung verzerrt, sondern auch zwischen Regierungsbildung und Regierungsprogramm.
III. Schlussfolgerungen
Die Abwesenheit klarer Mehrheiten ist eine typische Schwäche des Verhältniswahlrechts im Parlamentarismus. In Zeiten einer zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft, die sich auch im Wahlergebnis niederschlägt, wird sie jedoch zur wachsenden Gefahr. Indem in Deutschland zusätzlich noch wesentliche Koalitionsmöglichkeiten einseitig oder mehrseitig ausgeschlossen werden, wird der funktionale und für die Legitimation des Regierungssystems insgesamt relevante Zusammenhang zwischen Wahlverhalten der Mehrheit, Regierungsbildung und Regierungsprogramm empfindlich geschwächt. Doch wie lässt sich dies beheben?
Die Einführung eines Präsidialsystems erscheint in Deutschland abwegig. Ganz bewusst wurde sich im parlamentarischen Rat gegen das System der gescheiterten Weimarer Reichsverfassung, die einen starken Reichspräsidenten vorsah, entschieden. Dass auch Präsidialsysteme nicht vor der Delegitimierung demokratischer Verfahren schützen, beweist darüber hinaus die aktuelle Situation in den USA. Die Einführung eines Mehrheitswahlrechts wurde hingegen sogar in den Jahren der ersten großen Koalition (1966-1969) bereits diskutiert, jedoch letztlich politisch verworfen. Indem es extreme Meinungen in beiden politischen Lagern integriert, würde es das oben geschilderte Problem zwar entschärfen. Anders als in den 1960er Jahren ist nun allerdings unklar, in welcher Partei die jeweiligen Lager aufgehen könnten, sodass es ein politisch hochriskantes Experiment wäre. Letztlich ist auch die Aufweichung der Brandmauer weder absehbar noch wünschenswert. Zu erwähnen ist an dieser Stelle insbesondere, dass auch eine Koalition von AfD und CDU/CSU fast ebenso unbeliebt wäre wie ein Schwarz-Rot-Grünes Bündnis. Die Lösung dieses Problems ist also alles andere als einfach. Zuzusehen, wie auch durch dieses Phänomen enttäuschte Wählerinnen sich zunehmend extremen Parteien zuwenden, kann jedoch auch von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes nicht gewollt sein. Eine verfassungsrechtliche Debatte, wie sie in Italien geführt wird, wäre daher auch in Deutschland angebracht.
Zitiervorschlag: Niermann, Jan, Gewählte aber nicht gewollte Regierung?, JuWissBlog Nr. 43/2025 v. 16.05.2025, https://www.juwiss.de/43-2025/
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