(Wieder-)Wahl des geschäftsführenden Kanzlers durch Misstrauensvotum?

von FREDERIK ORLOWSKI

Orlowski, FrederikBereits am 24. Oktober hat sich der 19. Deutsche Bundestag konstituiert. Doch zwei andere Verfassungsorgane stehlen ihm seither die Show: Zum einen der Bundespräsident, der dieser Tage aktiv zwischen den Parteien vermittelt. Zum anderen die geschäftsführende Regierung, die spätestens seit der „Glyphosat-Causa-Schmidt“ im Zentrum der öffentlichen Erregung steht und hierbei medienwirksam demonstriert hat, dass sie keine „Regierung zweiter Klasse ist“. Vielmehr kann eine geschäftsführende Regierung gleich einer „normalen“ Regierung handeln.

Erstaunlich ist derweilen, dass von der Direktive, wonach sich Kanzler und geschäftsführender Kanzler, geschäftsführende Regierung und Regierung kompetenziell nicht unterscheiden, in der juristischen Fachliteratur scheinbar einhellig der Weg in den Gesetzgebungsnotstand (Art. 81 Abs. 1, 2 GG) sowie die Vertrauensfrage (Art. 68 GG) ausgenommen sind. Ebenso einhellig, nun aber im Verhältnis von Parlament zu Regierung, soll auch das Misstrauensvotum (Art. 67 GG) für die Zeit einer geschäftsführenden Regierung nicht anwendbar sein. In diesem Beitrag soll nun aber kritisch diskutiert werden, ob der Bundestag nicht doch auch auf das Misstrauensvotum zurückgreifen kann, um – ganz ohne die Hilfe des Bundespräsidenten – einen neuen Kanzler zu wählen.

Geschäftsführende Regierung auf ewig?

Das Verfahren der Kanzlerwahl ist im Grundgesetz in Art. 63 GG geregelt. In der ersten von insgesamt drei möglichen Phasen der Kanzlerwahl kommt dabei dem Bundespräsidenten eine wichtige Rolle zu: Er ist es, der dem Bundestag in einem ersten Schritt einen Kanzlerkandidaten zur Wahl vorschlagen muss. Es handelt sich dabei wohl um eine verfassungsrechtliche Pflicht des Präsidenten. Vereinigt der vorgeschlagene Kandidat die Mehrheit der Stimmen des Bundestages auf sich, so ist er gewählt. Wenn nicht, so schließen sich entsprechend die Phasen zwei und drei der Kanzlerwahl an.

Bis aber ein Kanzler nach dem soeben geschilderten System gewählt ist, übernimmt eine geschäftsführende Regierung – derzeit unter der geschäftsführenden Kanzlerin Angela Merkel – die Geschäfte, vgl. Art. 69 Abs. 3 GG. Mit anderen Worten: Gibt es keinen neuen Kanzler, so bleibt die geschäftsführende Regierung in Amt und Würden. Dies ergibt, gerade auch vor dem Hintergrund der Intention der Norm, durchaus Sinn. Schließlich soll es keine regierungslosen Zeiten geben, die Ministerien nicht „kopflos“ dastehen. Auf der anderen Seite lauert hier aber auch ein handfestes verfassungsrechtliches Problem: Art. 63 Abs. 1 GG nennt keine Frist, in der der Bundespräsident einen Kanzlerkandidaten vorschlagen muss; dementsprechend könnte nun also unter Umständen die geschäftsführende Regierung auch die gesamte jüngst beginnende 19. Legislaturperiode des Bundestages im Amt bleiben.

Dieses Problem – der Bundespräsident handelt nicht – ließe sich jedoch auf drei Wegen lösen:

(1): Vor dem Bundesverfassungsgericht, indem der Bundespräsident angeklagt wird (Art. 61 GG) oder aber zum Antragsgegner in einem kontradiktorischen Organstreitverfahren wird (Art. 93 Abs. 1 S. 1 GG);

(2): Der Bundespräsident verwirkt sein Vorschlagsrecht aus Art. 63 Abs. 1 GG, indem er keinen Kandidaten vorschlägt. Stattdessen wird auf Art. 63 Abs. 3 GG vorgegriffen, wonach der Bundestag selbst einen Kandidaten zur Wahl vorschlagen darf;

(3): Der Bundestag stellt einen Misstrauensantrag gemäß Art. 67 GG mit der Folge, dass der Bundespräsident den Gewählten ernennen muss (S. 2).

Die aufgezeigten Möglichkeiten (1) und (2) vermögen schon aus praktischen Erwägungen nicht zu überzeugen: Ein Verfahren in Karlsruhe garantiert keinesfalls den gewünschten Erfolg. Zudem müsste hierzu der Bundespräsident im Falle der Präsidentenanklage gerade auch vorsätzlich handeln. Die Verwirkung des Vorschlagsrechts des Bundespräsidenten scheint demgegenüber praktisch handhabbarer und ist im Ergebnis dem Vorschlag (1) vorzuziehen – sie ist aber mit dem eindeutigen Wortlaut des Art. 63 Abs. 1 GG unvereinbar. Es gilt somit zu erörtern, ob der Bundestag nicht auch dem geschäftsführenden Kanzler das Misstrauen aussprechen kann.

Art. 67 GG als vermittelnde Lösung

Es erscheint durchaus paradox, dass ein neu konstituierter Bundestag einem nur geschäftsführenden Bundeskanzler das Misstrauen ausspricht – obwohl doch dieser noch nicht vom Parlament bestätigt wurde. Bezüglich dieses durchaus gewichtigen Arguments gilt es allerdings zu beachten, dass „Vertrauen“ im Kontext von Art. 67 GG nicht ethisch konnotiert ist; vielmehr ist „Vertrauen“ als Gewinn oder Verlust der parlamentarischen Mehrheit zu verstehen. Art. 67 GG kann also auch so verstanden werden, das der „Ausspruch des Vertrauens gegenüber dem neuen Kanzler“ im Vordergrund steht. Die intendierte Reihung, wonach der Bundestag dem Kanzler erst das Vertrauen aussprechen muss, ehe es zum Misstrauensantrag kommen kann, erscheint somit nicht zwangsläufig.

Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings das sich daran anknüpfende systematische Argument, wonach Art. 63 GG, der ausdrücklich – so schon die offizielle Überschrift – auf die Wahl eines Kanzlers abzielt, in Bezug auf Art. 67 GG spezieller ist. Eröffnet man nunmehr einen Weg über Art. 67 GG zur Wahl des Kanzlers, so bestünde als Folgeproblem zudem die Gefahr, dass das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten nach Art. 63 Abs. 1 GG leerliefe.

Im Ergebnis reihen sich also einige gewichtiger Argumente aneinander, die nahelegen, dem Bundestag in Bezug auf einen geschäftsführenden Kanzler sein Recht aus Art. 67 GG zu versagen. Um aber den Fall – der Bundespräsident kann oder will keinen Kandidaten vorschlagen; die geschäftsführende Regierung wird nicht abgelöst – angemessen zu lösen, erscheint der Weg über Art. 67 GG, dogmatischer Bauchschmerzen zum Trotz, am Ende des Tages vorzugswürdig. Schließlich handelt es sich bei der Wahl des Kanzlers um das natürliche Recht des Bundestages, welches in der Regel über Art. 63 GG ausgeübt wird. Versperrt aber der Bundespräsident, aus welchen Gründen auch immer, diesen Weg, so ist es nur konsequent, wenn die Parlamentarier zur Wahrung ihres Rechts auf die Wahl eines Kanzlers auch gegenüber einem nur geschäftsführenden Kanzler auf Art. 67 GG zurückgreifen können.

Abschließend stellt sich, gleich der Lösung über einen Misstrauensantrag (3) wie auch der Verwirkung des Vorschlagsrechts (2), die Frage, ab wann der Bundestag selbst das Zepter in die Hand nehmen darf. Der Funktionszuteilung des Bundespräsidenten als Vermittler würde es sicher nicht gerecht werden, an dieser Stelle quantitative Werte in Form konkreter Zahlen zu nennen (einige Wochen, Monate oder gar Jahre?), wann der Bundestag selbst einen Misstrauensantrag stellen darf oder einfach einen Kandidaten selbst vorschlägt. Jede Verhandlungssituation ist einzigartig und bedarf eines individuellen Umfangs an Zeit. Dementsprechend lässt sich die Frage besser dahingehend beantworten, wonach die dem Bundespräsidenten zustehende Zeit jedenfalls dann überschritten ist, wenn er seiner Rolle als „Geburtshelfer“ nicht mehr gerecht werden kann oder dies gar verweigert. Das Ermessen zur Beurteilung dieser Frage obliegt dabei naheliegender Weise dem Bundestag – schließlich ist es des Bundestages nobelste Pflicht, einen Kanzler zu wählen.

Fazit

Auch ein Misstrauensvotum des Bundestages gegen einen geschäftsführenden Kanzler ist, entgegen der weitverbreiteten Annahme, zulässig. Und zwar immer dann, wenn der Bundespräsident seiner Vermittlerrolle nicht gerecht wird und sich zwischen Parlament und Kanzler stellt. Dies ist im Ergebnis auch richtig. Schließlich sollte allein von einer demokratietheoretischen Warte aus betrachtet eine geschäftsführende Regierung, die nicht durch den aktuellen Bundestag in ihr Amt gewählt wurde, keinen Dauerzustand darstellen.

Veröffentlicht unter CC BY NC ND 4.0.

Bundeskanzler, Bundespräsident, Bundestag, Frederik Orlowski, geschäftsführende Regierung, Kanzlerwahl, Misstrauensantrag, Parlamentsrecht, Staatsorganisation
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