Der geplante Beibringungsgrundsatz im Asylrecht – Ein Angriff auf ein Grundprinzip des Verwaltungsrechts

von MAXIMILIAN GSCHWENDNER

CDU/CSU und SPD haben kürzlich ihren Koalitionsvertrag vorgestellt und damit skizziert, welche Reformen die Koalitionäre im Rahmen des Asyl- und Migrationsrechts planen. Neben den schon viel diskutierten Zurückweisungen an den Grenzen ist das vermutlich beachtenswerteste Vorhaben der geplante Übergang vom Amtsermittlungs- zum Beibringungsgrundsatz im Asylrecht. So schreiben die Koalitionäre: „Aus dem ‚Amtsermittlungsgrundsatz‘ muss im Asylrecht der ‚Beibringungsgrundsatz‘ werden“ (Zeile 3090 f.). Auch wenn die Formulierung im Koalitionsvertrag unbestimmt bleibt, ist wohl nicht nur eine Reform des Gerichtsverfahrens, sondern auch des behördlichen Verfahrens in Asylsachen beabsichtigt (siehe bereits hier). Damit würde man das Asylverfahren in die Nähe des Zivilprozesses rücken. Ein solches Vorhaben dürfte aber nicht nur auf massive Umsetzungsschwierigkeiten stoßen, sondern ist auch mit dem Grundgesetz sowie dem europäischen Rechtsrahmen im Asylrecht nicht vereinbar.

Die Bedeutung des Amtsermittlungsgrundsatzes

Der Amtsermittlungsgrundsatz ist eine Konstante des Verwaltungsrechts. Er ist insbesondere ein Ausdruck rechtstaatlicher und verfassungsrechtlicher Verfahrensgarantien.

Im Verwaltungsverfahren ergibt sich die Verpflichtung zur Amtsermittlung aus § 24 VwVfG. Hintergrund dieser Regelung ist das Ziel, dass eine Verwaltungsentscheidung auf Grundlage der tatsächlichen und wahren Sachlage getroffen wird. Dies ist letztlich Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nach Art. 20 Abs. 3 GG. Durch den Amtsermittlungsgrundsatz wird somit einerseits im öffentlichen Interesse verhindert, dass Einzelne günstige Entscheidungen auf Grund unwahrer Tatsachenvorträge erlangen, andererseits werden Beteiligte geschützt, indem ihnen auch bei unvollständigen Vorträgen tatsächlich bestehende Ansprüche positiv beschieden werden.

Für das gerichtliche Verfahren ergibt sich der Amtsermittlungsgrundsatz auch im Asylrecht aus § 86 Abs. 1 VwGO. Seine verfassungsrechtliche Aufhängung findet sich nicht nur in Art. 20 Abs. 3 GG, sondern vor allem in Art. 19 Abs. 4 GG. Die durch das Grundgesetz gebotene gerichtliche Kontrolle behördlichen Handelns verlangt eine vollumfängliche Überprüfung sämtlicher rechtlicher und tatsächlicher Aspekte, die für den jeweiligen Fall relevant sind. Dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG dient die Amtsermittlungspflicht der Verwaltungsgerichte, indem sie sicherstellt, dass rechtsunkundige Bürger auch bei rechtlich und tatsächlich komplexen Sachverhalten auf eine vollwertige gerichtliche Prüfung vertrauen können, während zudem der Grundsatz der Rechtmäßigkeit der Verwaltung weiter abgesichert wird.

Der Amtsermittlungsgrundsatz ist mithin unmittelbarer Ausfluss von Verfassungsprinzipien, die das Verwaltungsrecht lenken. Zugleich verhilft er ebenjenen Prinzipien zur praktischen Anwendung. Soweit ein zukünftiger Gesetzgeber diesen reformieren möchte, würde er an einem Herzstück des Verwaltungsrechts operieren. Um dabei Änderungen vorzunehmen, ohne das Grundgesetz zu verletzen, ist Feingefühl erforderlich, das im Koalitionsvertrag bisher fehlt.

Praktische Auswirkungen

Bereits jetzt bestehen für Antragsstellende im Asylverfahren diverse Darlegungspflichten. Im nationalen Recht ergeben sich diese insbesondere aus § 15 AsylG. Es ist keinesfalls so, dass Asylsuchende einen Antrag stellen und die restliche Sachaufklärung der Behörde überlassen könnten. Bei Zweifeln an der Richtigkeit des Vorbringens obliegt es zunächst den Antragsstellenden, diese glaubhaft zu machen. Wenn Sachverhaltsfragen trotz Amtsermittlung nicht geklärt werden können, gehen Unklarheiten grundsätzlich zu Lasten der Antragstellenden.

Soweit die Koalitionäre die Darlegungslast im Asylverfahren reformieren wollen, kann das Vorhaben als eine Annährung an die Regelungen des Zivilprozessrechts verstanden werden. Im Zivilprozess nach der ZPO besteht nämlich seit jeher der Beibringungsgrundsatz. Demnach kann nur berücksichtigt werden, was von den Parteien vorgetragen wurde oder allgemein bekannt ist. Falls Behauptungen strittig sind, hat die jeweils beweispflichtige Partei diesbezüglich einen Nachweis zu erbringen. Darüber, mit welcher Intensität nach Plänen der Koalitionäre der Beweis zukünftig geführt werden soll, kann nur spekuliert werden. Aus der Umstellung auf den Beibringungsgrundsatz folgt freilich noch nicht automatisch auch ein strengerer Beweismaßstab. Da jedoch bereits jetzt bei Streitigkeiten eine Glaubhaftmachung verlangt wird, ist darüber nachzudenken, ob die Koalitionäre nicht auch in Hinblick hierauf eine Verschärfung beabsichtigen. Das mutmaßlichen Ziel dieser Reform, nämlich die Antragsstellenden noch umfassender in die Darlegungspflicht zu nehmen, kann eigentlich nur so erreicht werden.

Für ein behördliches Verfahren wäre die Einführung des Beibringungsgrundsatzes ein Novum. Zudem ist es unklar, wie dieser ausgestaltet wird. So erscheint es unter anderem problematisch, wie zukünftig mit allgemeinen Informationen über Herkunftsländer zu verfahren wäre. In der Praxis sehr relevant sind die Informationen des Auswärtigen Amtes, die aber nur für Behörden, Gerichte und Rechtsanwälte verfügbar sind. Da wohl nur eine geringe Anzahl der Antragsstellenden schon im behördlichen Verfahren anwaltlich vertreten ist, wäre ihnen ein Verweis oder eine Auseinandersetzung mit diesen Erkenntnisquellen selten möglich. Ob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge („BAMF“) die Information dennoch als allgemein bekannt zu Gunsten von Asylsuchenden berücksichtigen könnte, bleibt unklar. Jedenfalls im Hinblick auf die individuellen Verfolgungsgeschichten dürften Antragsstellende auf unüberwindbare Barrieren stoßen. Wie sich die Entscheidungspraxis des Bundesamtes durch eine solche Umstellung ändern würde, kann nicht prophezeit werden. Möglicherweise würde es trotz einer Reform Anträge genauso prüfen wie bisher. Im aus rechtsstaatlicher Sicht schlimmsten Fall würde es künftig jedoch Anträge ablehnen, die es zuvor hätte positiv bescheiden müssen, weil das tatsächliche Vorbringen der Antragsstellenden unzureichend war oder nicht ausreichend nachgewiesen wurde.

Im gerichtlichen Verfahren setzen sich diese Probleme in gleicher Weise fort. Davon abgesehen unterscheidet sich das gerichtliche Verfahren in Asylsachen von anderen verwaltungsgerichtlichen Verfahren aber auch dadurch, dass das BAMF als Beklagte nahezu nie in mündlichen Verhandlungen erscheint. Hieraus könnte sich eine ganz neues Problem ergeben. Im Zivilprozess besteht bei Ausbleiben einer Partei die Möglichkeit eines Versäumnisurteils. Dies ist dem Verwaltungsprozessrecht jedoch fremd. Wie die Verwaltungsgerichte nun mit dieser Situation umgehen würden, ist völlig unklar. Im Zivilprozessrecht sind Behauptungen einer Partei, die nicht bestritten werden, grundsätzlich als wahr zu unterstellen. Falls das BAMF seine Praxis nicht ändert und den mündlichen Verhandlungen weiter fern bleibt, verbliebe diesem nur ein Bestreiten im Schriftsatz. Derzeit beruhen solche jedoch für gewöhnlich auf vorgefertigten Formularen ohne näheren Einzelfallbezug. Parallel zum Zivilprozessrecht dürfte darüber hinaus ein vorsorgliches pauschales Bestreiten generell unzulässig sein. Höchstens die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid könnte man noch als substanzielles Bestreiten ansehen. Allerdings kann dieser nur Vorbringen aus dem behördlichen Verfahren umfassen und sich nicht auf Behauptungen beziehen, die in der mündlichen Verhandlung zum ersten Mal geäußert werden. Soweit man nun die Regelungen des Zivilprozesses auch hier überträgt, könnten Klagende beliebige neue Behauptungen aufstellen, die bei Abwesenheit des BAMF vom Gericht als Entscheidungsgrundlage herangezogen werden müssten. Wollen die Koalitionäre durch die Abschaffung des Amtsermittlungsgrundsatzes das Asylverfahren für Antragstellende erschweren, könnte an dieser Stelle genau das Gegenteil erreicht werden.

Wie eine sinnvolle Umsetzung einer derartigen Reform aussehen soll, ist schwer vorstellbar. Der Beibringungsgrundsatz in seiner Reinform ist ein Fremdkörper im Verwaltungsrecht, der sich daher auch nicht ohne weiteres einfügen lässt.

Unionsrecht

Zuletzt müsste eine Abschaffung des Amtsermittlungsgrundsatz auch mit Unionsrecht vereinbar sein. Von diesem ist das deutsche Asylrecht weitestgehend überformt. So ist derzeit unter anderem die sog. Qualifikationsrichtline 2011/95/EU („QRL“) zu beachten. Art. 4 Abs. 3 lit. b QRL nennt u.a. die Angaben der Antragsstellenden als zu berücksichtigende Erkenntnismittel. Allerdings sind nach Art. 4 Abs. 3 lit. a QRL zudem „alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind“ zu berücksichtigen. Ausweislich des klaren Wortlautes und der systematischen Trennung der Erkenntnismittel kann es nicht darauf ankommen, ob diese von den Asylsuchenden vorgebracht wurden. Eine noch deutlichere Verpflichtung zur Amtsermittlung ergibt sich aus der sog. Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU („VRL“). Gemäß Art. 10 Abs. 3 S. 2 lit. b VRL haben die Mitgliedsstaaten sicherzustellen, dass „genaue und aktuelle Informationen aus verschiedenen Quellen […] eingeholt werden“. Die Einführung eines Beibringungsgrundsatzes, bei dem die Antragsstellenden selbst alle zu prüfenden Tatsachen einbringen und hierfür grundsätzlich auch Nachweise anbieten müssen, ist offenkundig mit diesen Regelungen unvereinbar.

An diesem Ergebnis änderte auch das Inkrafttreten der GEAS-Reform vom 14.05.2024, welche im Wesentlichen ab dem 12.06.2026 gilt, nichts. Im Rahmen dessen wird die Qualifikationsrichtlinie durch die Verordnung (EU) 2024/1347 (Anerkennungsverordnung „AVO“) und die Verfahrensrichtlinie von der Verordnung (EU) 2024/1348 (Verfahrensverordnung – VVO“) abgelöst werden. Die Anerkennungsverordnung enthält keine Norm, die als unmittelbares Pendant zu Art. 4 Abs. 3 lit. a QRL zu betrachten ist. Über einen Verweis in Art. 4 Abs. 3 AVO auf Art. 34 VVO als Nachfolgenorm zu Art. 10 VRL hat die Behörde weiterhin die Angaben der Antragsstellenden (Art. 34 Abs. 2 lit. a VVO) und Informationen über die Lage im Herkunftsland der Antragsstellenden (Art. 34 Abs. 2 lit. b VVO) zu berücksichtigen. Auch wenn die Formulierung und Reihenfolge der Aspekte innerhalb der Norm geringfügig geändert wurden, ergibt sich mithin auch für die neue Rechtslage eine Verpflichtung zur Amtsermittlung

Fazit

Was CDU/CSU und SPD planen, wenn sie davon sprechen, dass sie den Amtsermittlungsgrundsatz im Asylrecht abschaffen wollen, lässt sich allein anhand des Koalitionsvertrages nicht mit Sicherheit vorhersagen. Soweit man hierüber dennoch Vermutungen anstellen kann, sind massive Einschnitte an Qualität und Rechtsstaatlichkeit in der Entscheidungspraxis von Behörden und Gerichten zu erwarten. Möglicherweise könnte dieses Vorhaben sogar zu Ergebnissen führen, die von den Koalitionären nicht beabsichtigt waren. Zu denken sind insbesondere an chaotische und somit längere Verfahren oder sogar an gerichtliche Entscheidungen auf Grund von als wahr zu unterstellenden Behauptungen der Antragsstellenden. Vor allem jedoch würde eine Abkehr vom Amtsermittlungsgrundsatz verfassungsrechtliche Grundprinzipien sowie europarechtliche Vorgaben missachten. Aus rechtsstaatlicher Perspektive bleibt daher zu hoffen, dass die Koalitionäre von diesem Vorhaben doch noch Abstand nehmen

Zitiervorschlag: Gschwendner, Maximilian, Der geplante Beibringungsgrundsatz im Asylrecht – Ein Angriff auf ein Grundprinzip des Verwaltungsrechts, JuWissBlog Nr. 42/2025 v. 15.05.2025, https://www.juwiss.de/42-2025/

Dieses Werk ist unter der Lizenz CC BY-SA 4.0 lizenziert.

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